Europarecht

Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung wegen voraussichtlichen Verstoßes gegen § 50 Abs. 3 S. 2 AufenthG

Aktenzeichen  B 6 S 17.970

Datum:
10.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24067
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 50, § 59
SDÜ Art. 18, Art. 20, Art. 21
SGK Art. 6
EG-VisaVO Art. 1 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Für ukrainische Staatsangehörige bestimmt Art. 1 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Anhang II EG-VisaVO, dass sie für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, von der Pflicht, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums zu sein, befreit sind. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Gemäß § 17 Abs. 1 AufenthV sind die Personen nach Art. 1 Abs. 2 EG-VisaVO und die Inhaber eines von einem Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitels oder nationalen Visums für den längerfristigen Aufenthalt vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die Einreise und den Kurzaufenthalt nicht befreit, sofern sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung, die ausschließlich das Herkunftsland des Antragstellers als Abschiebungszielstaat bezeichnet, nicht zu entnehmen, dass der Antragsteller seine Ausreisepflicht nicht nur durch eine Ausreise in die Ukraine, sondern auf Grund eines gültigen nationalen Visums auch durch eine Ausreise nach Litauen erfüllen kann, entspricht die Abschiebungsandrohung in keiner Weise dem Erfordernis des § 50 Abs. 3 S. 2 AufenthG. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 09.12.2017 gegen den Bescheid des Beklagten vom 04.12.2017 wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten um eine Abschiebungsandrohung.
Der Antragsteller, ukrainischer Staatsangehöriger, reiste erstmals am 18.03.2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 02.04.2014 einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 08.03.2016 vollumfänglich ablehnte, verbunden mit einer Abschiebungsandrohung in die Ukraine unter Bestimmung einer Frist von 30 Tagen für die freiwillige Ausreise. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 30.01.2017 ab, den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 18.04.2017 ab. Daraufhin verließ der Antragsteller am 29.06.2017 das Gebiet der Schengen-Staaten (Grenzübertrittsbescheinigung liegt vor).
Am 14.07.2017 beantragte der Antragsteller die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Erwerbstätigkeit als Bauwerker unter Vorlage eines unbefristeten Arbeitsvertrages mit der Firma S…, vom 30.12.2016. Über diesen Antrag wurde offensichtlich nicht entschieden.
Mit Bescheid vom 04.12.2017 forderte die Ausländerbehörde den Antragsteller auf, innerhalb von einer Woche nach Zustellung des Bescheides aus der Bundesrepublik Deutschland auszureisen (Ziffer 1), und drohte ihm für den Fall, dass er nicht oder nicht fristgerecht ausreise, die Abschiebung in die Ukraine an (Ziffer 2). Den Gründen des Bescheides zufolge reiste der Antragsteller bereits wenige Wochen nach seiner Ausreise, „spätestens jedoch nach dem 31.07.2017“, wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein und hält sich nach Auskunft der Hausverwaltung der Asylunterkunft in W… dort auf. Der Antragsteller habe zwar mit einem gültigen ukrainischen Reisepass visumfrei einreisen können, aber nur für einen Zeitraum von 90 Tagen. Da der Antragsteller Ende Juli oder Anfang August wieder eingereist sei, halte er sich spätestens seit Mitte November 2017 unerlaubt in Deutschland auf. Er sei gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, und diese Ausreisepflicht sei gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar, da der Antragsteller noch nicht die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt habe. Zur Erfüllung der Ausreisepflicht werde der Antragsteller zur Ausreise aufgefordert, und ihm werde gemäß § 50 Abs. 1 und 2, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Ausreisefrist gesetzt. Da er über einen gültigen Reisepass verfüge, könne er der Ausreiseaufforderung unverzüglich nachkommen. Die Abschiebungsandrohung beruhe auf § 59 Abs. 1 AufenthG.
Nach Erhalt des Bescheides legte der Antragsteller der Ausländerbehörde seinen Reisepass vor, aus dem sich ergibt, dass er am 15.07.2017 nach Polen eingereist, am 15.09.2017 aus Polen in die Ukraine ausgereist und am 04.10.2017 mit einem nationalen litauischen Visum vom 02.10.2017, gültig vom 04.10.2017 bis 03.02.2018, wieder nach Polen eingereist ist.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 09.12.2017, beim Verwaltungsgericht Bayreuth eingegangen am 11.12.2017, hat der Antragsteller Klage erhoben und die Aufhebung des Bescheides vom 04.12.2017 beantragt. Ferner hat er beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wird geltend gemacht, der Bescheid sei rechtswidrig, weil der Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland auf Grund des gültigen Visums der Republik Litauen vom 02.10.2017 bis zum 03.02.2018 rechtmäßig sei.
Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 18.12.2017 beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller sei im Besitz eines litauischen nationalen Visums, das für die ersten drei Monate als Schengen-Visum gelte, wenn es alle Anforderungen des Art. 18 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) erfülle. Dies werde aber bezweifelt. Die Bemerkung „Profesiju sarasas“, auf Deutsch „Gruppe Berufe“, im Visum lasse darauf schließen, dass sich der Antragsteller dieses nationale Visum unter Vorspiegelung einer beabsichtigten Erwerbstätigkeit in Litauen von der litauischen Botschaft in Kiew erschlichen habe. Tatsächlich halte sich der Antragsteller nach Mitteilung der Unterkunftsverwalterin in den letzten drei Monaten ununterbrochen in W… in der dortigen Asylbewerberunterkunft auf, gehe also offensichtlich keiner Erwerbstätigkeit in Litauen nach. Auf die Beschaffung der Visumsunterlagen von der litauischen Botschaft in Kiew werde verzichtet, da der Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen stehe. Der Antragsteller verlängere scheinlegal seinen 90 Tage dauernden visumfreien Aufenthalt durch die Beschaffung eines litauischen nationalen Visums. Dieses Zusammenstückeln eines dauerhaften Aufenthalts aus visumfreien Aufenthaltszeiträumen und nationalen Visa oder Schengen-Visa, die aneinandergereiht zu einem faktischen legalen Daueraufenthalt führten, widerspreche dem Sinn und Zweck des Visakodex. Da dem nationalen Visum nicht die Wirkung eines Schengen-Visums zukomme, könne sich der Antragsteller allein zur Durchreise in den Staat, der das nationale Visum erteilt habe, in einem anderen Schengen-Staat aufhalten. Um von der Ukraine nach Litauen zu reisen, sei eine Durchreise durch die Bundesrepublik Deutschland nicht erforderlich. Im Ergebnis halte sich der Antragsteller unerlaubt in Deutschland auf. Im Übrigen werde sich die Angelegenheit durch Zeitablauf am 03.01.2018 erledigt haben, weil dann die Wirkung des nationalen Visums als Schengen-Visum – falls das Gericht sie doch zuerkennen sollte – ende. Für die restliche Gültigkeit des nationalen Visums werde sich der Antragsteller nur in Litauen aufhalten dürfen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Ausländerakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag ist zulässig und begründet.
1.1 Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsandrohung ist zulässig, insbesondere statthaft, weil gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit Art. 21a Satz 1 VwZVG Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die – wie die Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG – in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden. In diesem Fall kann gemäß Art. 21a Satz 2 VwZVG in Verbindung mit § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
1.2 Der Antrag ist begründet. Das Interesse des Antragstellers, vorläufig nicht in die Ukraine abgeschoben zu werden, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung, weil die Klage Aussicht auf Erfolg hat. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes lediglich gebotenen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage ist mit der Aufhebung des Bescheides vom 04.12.2017 gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu rechnen, weil die Abschiebungsandrohung aller Voraussicht nach rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
Gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die in § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorgesehene Abschiebung eines Ausländers unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen, wobei gemäß § 59 Abs. 2 AufenthG in der Androhung der Staat bezeichnet werden soll, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden soll, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung setzt voraus, dass der Ausländer gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet ist. Sind dem Ausländer die Einreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einen anderen Schengen-Staat und der Aufenthalt dort erlaubt, ist der ausreisepflichtige Ausländer gemäß § 50 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AufenthG aufzufordern, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben.
Gemessen daran begegnet die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung vom 04.12.2017 Bedenken, weil der Antragsteller zwar ausreisepflichtig ist (1.2.1), aber nicht aufgefordert wurde, sich unverzüglich nach Litauen zu begeben (1.2.2).
1.2.1 Gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist. Gemäß § 15 AufenthV richtet sich die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern für Kurzaufenthalte nach dem Recht der Europäischen Union, insbesondere dem Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) und der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (EG-VisaVO).
Für ukrainische Staatsangehörige bestimmt Art. 1 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Anhang II EG-VisaVO, dass sie für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, von der Pflicht, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums zu sein, befreit sind.
Gemäß Art. 20 Abs. 1 SDÜ können sichtvermerksfreie Drittausländer sich in dem Hoheitsgebiet der Vertragsparteien frei bewegen, höchstens jedoch 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen und soweit sie die in Art. 6 Abs. 1 Buchstaben a, c, d und e Schengener Grenzkodex (VO (EU) 2016/399, SKG) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen.
Für einen Aufenthalt von mehr als 90 Tagen Dauer benötigen Drittausländer ein nationales Visum für den längerfristigen Aufenthalt gemäß Art. 18 SDÜ, § 6 Abs. 3 AufenthG. Für Inhaber eines von einem der Mitgliedstaaten gemäß Art. 18 SDÜ erteilten gültigen Visums für den längerfristigen Aufenthalt gilt gemäß Art. 21 Abs. 2a SDÜ das in Art. 21 Abs. 1 SDÜ festgelegte Recht auf freien Personenverkehr, d.h. sie können sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 6 SGK aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen. Über den zeitlichen Rahmen von 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen hinaus berechtigt das nationale Visum nur zum Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, der es erteilt hat.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 SGK wird der Zeitraum von 180 Tagen berücksichtigt, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht. Der Aufenthalt ist rechtmäßig, wenn die Gesamtaufenthaltsdauer in den letzten 180 Tagen nicht mehr als 90 Tage beträgt. Die Höchstdauer eines visumfreien Aufenthalts gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Anhang II EG-VisaVO, Art. 20 Abs. 1 SDÜ kann nicht durch ein Quasi-Schengen-Visum gemäß Art. 21 Abs. 2a SDÜ verlängert werden. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 SGK wird der Tag der Einreise als der erste Tag des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der Tag der Ausreise als der letzte Tag des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten angesehen. Rechtmäßige Aufenthalte aufgrund eines Aufenthaltstitels oder eines nationalen Visums für den längerfristigen Aufenthalt werden gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 SGK bei der Berechnung der Länge des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht berücksichtigt.
Gemessen daran war der Antragsteller bei Erlass der Abschiebungsandrohung zur Ausreise verpflichtet und ist es immer noch.
In den letzten 180 Tagen vor Erlass der Abschiebungsandrohung, d.h. im Zeitraum vom 07.06.2017 bis 03.12.2017, hielt sich der Antragsteller am 30.10.2017 bereits 90 Tage im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auf, 63 Tage vom 15.07.2017 bis 15.09.2017 und 27 Tage vom 04.10.2017 bis 30.10.2017. Ein rechtmäßiger Aufenthalt in Litauen aufgrund des nationalen Visums, der gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 SGK nicht zu berücksichtigen wäre, ist nicht dokumentiert. Ab dem 31.10.2017 ist der Aufenthalt daher rechtswidrig und der Antragsteller gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, weil er sich aufgrund des nationalen Visums nur noch in Litauen aufhalten darf.
Übt der Antragsteller, wie vom Antragsgegner vermutet, eine Erwerbstätigkeit als Bauwerker aus und hat er diese vor dem 31.10.2017 aufgenommen, war er ab dem Zeitpunkt der Beschäftigungsaufnahme zur Ausreise verpflichtet, weil gemäß § 17 Abs. 1 AufenthV die Personen nach Art. 1 Abs. 2 EG-VisaVO und die Inhaber eines von einem Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitels oder nationalen Visums für den längerfristigen Aufenthalt vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die Einreise und den Kurzaufenthalt nicht befreit sind, sofern sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben. Die Ausnahmen des § 17 Abs. 2 AufenthV liegen bei einer Tätigkeit als Bauwerker nicht vor.
1.2.2 Obwohl der Antragsteller zur Ausreise verpflichtet war und ist, bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, weil sie voraussichtlich gegen § 50 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 AufenthG verstößt, wonach der ausreisepflichtige Ausländer, sofern ihm die Einreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einen anderen Schengen-Staat und der Aufenthalt dort erlaubt sind, aufzufordern ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Mit dieser Bestimmung wurde Artikel 6 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) umgesetzt, dessen Absätze 1 und 2 wie folgt lauten:
(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
(2) Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.
Vorliegend kann offen bleiben, ob § 50 Abs. 3 und § 59 AufenthG richtlinienkonform so auszulegen sind, dass gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Rückführungsrichtlinie, sofern die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten ist, eine Abschiebungsandrohung – die Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie – erst nach einer erfolglosen Aufforderung gemäß § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG – der Verpflichtung gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Rückführungsrichtlinie – oder zusammen mit dieser erlassen werden darf oder ob es sogar ausreicht, wenn in der Abschiebungsandrohung der Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige aufenthaltsberechtigt ist, als Hauptzielland der Abschiebung gemäß § 59 Abs. 2 AufenthG bezeichnet wird (zum Meinungsstand vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.08.2015 – 18 B 635/14, Rn. 14, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 26.04.2016 – 22 L 1069/16, Rn. 11 ff, juris; VG Hamburg, Urteil vom 14.01.2015 – 17 K 1758/14, Rn. 28 ff, juris; VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 01.02.2016 – 7 K 2404/15, Rn. 17, juris). Denn der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung vom 04.12.2017, die ausschließlich das Herkunftsland des Antragstellers als Abschiebungszielstaat bezeichnet, ist nicht zu entnehmen, dass der Antragsteller seine Ausreisepflicht nicht nur durch eine Ausreise in die Ukraine, sondern auf Grund des vom 04.10.2017 bis 03.02.2018 gültigen nationalen Visums auch durch eine Ausreise nach Litauen erfüllen kann. Damit entspricht die Abschiebungsandrohung in keiner Weise dem Erfordernis des § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG.
Die Vermutung, der Antragsteller habe sich das litauische nationale Visum durch unrichtige Angaben erschlichen, rechtfertigt nicht die Annahme, der Tatbestand des § 50 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 AufenthG sei nicht erfüllt. Gemäß Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 810/2009 (Visakodex) wird ein Visum annulliert, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für seine Erteilung zum Ausstellungszeitpunkt nicht erfüllt waren, insbesondere wenn es ernsthafte Gründe zu der Annahme gibt, dass das Visum durch arglistige Täuschung erlangt wurde, und gemäß § 34 Abs. 2 Satz 1 Visakodex wird ein Visum aufgehoben, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung des Visums nicht mehr erfüllt sind. Wer das Visum annullieren bzw. aufheben kann, ergibt sich aus § 34 Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 Satz 2 Visakodex. Solange das dem Antragsteller erteilte litauische nationale Visum weder annulliert noch aufgehoben wurde noch abgelaufen ist, muss davon ausgegangen werden, dass ihm die Einreise nach Litauen und der Aufenthalt dort im Sinne des § 50 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 AufenthG erlaubt sind.
2. Dem Antrag wird daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO, wonach der Antragsgegner als der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens trägt, stattgegeben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG (ein Viertel des Auffangstreitwerts).


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