Europarecht

Rückerstattung bzw. Erstattung von Jugendhilfekosten

Aktenzeichen  AN 6 K 15.02592

Datum:
19.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X SGB X § 105 Abs. 1 u. 3, § 111 S. 1, § 112, § 113
SGB VIII SGB VIII § 86 Abs. 2 S. 2, § 86d,
BGB BGB § 288 Abs. 1 S. 2, § 291,

 

Leitsatz

1. Nach der st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts ist der tatsächliche Beginn der Hilfeleistungen als „Beginn der Leistung“ im Sinne des § 86 SGB VIII anzunehmen.
2. Die Ausschlussfrist des § 111 SGB X erstreckt sich nicht auf Rückerstattungsansprüche nach § 112 SGB X.
3. § 105 Abs. 3 SGB X stellt auf den Zeitpunkt ab, in dem dem erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger die tatsächlichen Voraussetzungen für seine Leistungspflicht bekannt waren. Ein Irrtum über die Rechtsfolgen dieser bekannten Tatsachen ist unbeachtlich.

Tenor

1. Der Beklage wird verpflichtet, der Klägerin die für den Zeitraum von 20. September 2010 bis 31. Januar 2011 von der Klägerin zunächst erstatteten Jugendhilfekosten für …, geb. …1996 in Höhe von … EUR zuzüglich Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zurückzuerstatten.
2. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die für den Zeitraum von 1. Februar 2011 bis 2. August 2012 von der Klägerin aufgewendeten Jugendhilfekosten für …, geb. … 1996 in Höhe von …EUR zuzüglich Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu erstatten.
3. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben.
Die Beteiligten streiten um die Rückerstattung bzw. Erstattung von Jugendhilfekosten, die im Zeitraum vom 20. September 2010 bis 31. Januar 2011 (Rückerstattung) bzw. vom 1. Februar 2011 bis 2. August 2012 (Erstattung) für den Besuch von …, geboren am … 1996, in der Heilpädagogischen Tagesstätte in … angefallen sind. Die zulässigen Leistungsklagen sind hinsichtlich der Rückerstattung und der Kostenerstattung begründet.
I.
Der Klägerin steht für den Zeitraum vom 20. September 2010 bis 31. Januar 2011 in Höhe von … EUR ein Rückerstattungsanspruch nach § 112 SGB X zu. Nach dieser Vorschrift sind die im Rahmen einer Erstattung gezahlten Beträge zurückzuerstatten, soweit die Erstattung zu Unrecht erfolgt ist.
Die Erstattung der Klägerin an den Beklagten im Mai 2011 erfolgte zu Unrecht, da unter Berücksichtigung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindsvaters beim tatsächlichen Beginn der Hilfeleistung der Beklagte örtlich zuständig war und die Kosten zu tragen hatte.
Da die Eltern von … gemeinsam sorgeberechtigt waren und … bei der Antragstellung beim Kindsvater in … und bei Leistungsbeginn am 20. September 2010 beim Kindesvater in … im Landkreis … lebte, ergibt sich die örtliche Zuständigkeit aus § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Die Eltern von … beantragten am 1. März 2010 beim Jugendamt der Klägerin und am 2. September 2010 bei dem Beklagten Hilfe zur Erziehung. Der Beklagte ging daraufhin in Vorleistung gemäß § 86d SGB VIII und übernahm die Kosten für den Besuch der Heilpädagogischen Tagesgruppe in … ab 20. September 2010. Mit Schreiben vom 29. September 2010 verlangte er jedoch von der Klägerin Kostenerstattung und Fallübernahme. Er nahm Bezug auf eine Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, wonach die örtliche Zuständigkeit nicht erst bei der tatsächlichen Durchführung der Hilfemaßnahme, sondern bereits zu Beginn des Verwaltungsverfahrens zu bestimmen sei (B.v. 19.1.2006 – 12 ZB 04.696 -). Unter dem Eindruck dieser Entscheidung erstattete die Klägerin dem Beklagten die Jugendhilfeaufwendungen ab 20. September 2010 bis 31. Januar 2011 in Höhe von … EUR im Mai 2011 und erbrachte ab 1. Februar 2011 bis 2. August 2012 die Jugendhilfeleistungen selbst. Die der Erstattung zugrunde liegende Rechtsauffassung entspricht jedoch nicht der Rechtslage.
Unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen (Urteile vom 29.1.2004 – 5 C 9.03 -; vom 7.7.2005 – 5 C 9.04 – und vom 25.3.2010 – 5 C 12.09 -) stellte das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 19. Oktober 2011 (5 C 25.10) fest, dass es sich der entgegenstehenden obergerichtlichen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht anschließe und an der bereits früher zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung festhalte, wonach als „Beginn der Leistung“ im Sinne von § 86 SGB VIII das Einsetzen der Hilfegewährung und damit grundsätzlich der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem Hilfeempfänger erbracht wird, zu verstehen ist. Das Bundesverwaltungsgericht sah keinen Anlass, den Begriff des „Beginns der Leistung“ auf das Vorfeld der tatsächlichen Leistungsgewährung auszudehnen und auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem ein Antrag auf Jugendhilfeleistung gestellt bzw. die örtliche Zuständigkeit vom Leistungsträger erstmals geprüft wird.
Unter dem Eindruck dieser Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, fordert die Klägerin die Rückerstattung der Jugendhilfeaufwendung für den Zeitraum vom 20. September 2010 bis 31. Januar 2011 zu Recht. Diese Forderung wurde mit Schreiben vom 3. Juni 2012 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerwG angekündigt und erstmals mit Schreiben vom 12. März 2013 geltend gemacht. Da beim tatsächlichen Leitungsbeginn am 20. September 2010 der Kindsvater in … seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ergibt sich gem. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII eine örtliche Zuständigkeit des Beklagten für den genannten Zeitraum mit der Folge, dass die von der Klägerin erstatteten Kosten der Jugendhilfe im genannten Zeitraum von dem Beklagten zu tragen sind und die Kostenerstattung vom Mai 2011 zu Unrecht erfolgt ist.
Verjährung im Sinne des § 113 SGB X ist nicht eingetreten, da die Erstattung erst am 10. Mai 2011 erfolgt ist und unter Berücksichtigung der vierjährigen Verjährungsfrist die Klage im Dezember 2015 den Eintritt der Verjährung verhindert hat.
Auch § 111 SGB X, der von Amts wegen zu berücksichtigten wäre, steht dem Rückerstattungsanspruch nicht im Wege.
Die Ausschlussfrist des § 111 SGB X, die spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, endet, war im Zeitpunkt der Rückerstattungsforderung zwar verstrichen, jedoch findet § 111 SGB X auf den Rückerstattungsanspruch des § 112 SGB X keine Anwendung. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. Sie betrifft nur Erstattungsansprüche, während hingegen die Verjährungsvorschrift des § 113 SGB X Erstattungs- und Rückerstattungsansprüche erfasst. Diese Auslegung der Vorschrift entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Er ist einem Vorschlag des Bundesrates nicht gefolgt, auch Rückerstattungsansprüche in § 111 SGB X (im Entwurf eines Sozialgesetzbuches im Jahre 1981 nach § 117) aufzunehmen (BT-Drucksache 9/95 Seite 40 Anlage 2 mit der Stellungnahme des Bundesrates Nr. 28 und Seite 47 die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bunderates). Auch das Bundessozialgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass der Rückerstattungsanspruch nicht dem Anspruchsausschluss wegen Verfristung nach § 111 Satz 1 SGB X unterliegt (vgl. dazu die Urteile des Bundessozialgerichts vom 29.11.1990 – 2 RU 10/90 -; vom 15.12.2015 – B 1 KR 14/15 R -). Die Kommentierung von Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 111 weist außerdem darauf hin, dass der Anspruch auf Rückerstattung, wie er in § 112 SGB X geregelt ist, kein Erstattungsanspruch ist, sondern eher einen bereicherungsrechtlichen Charakter in Anlehnung an § 812 BGB hat.
Der Beklagte ist daher verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum vom 20. September 2010 bis 31. Januar 2011 die von der Klägerin erstatteten Jugendhilfekosten in Höhe von … EUR zurückzuerstatten.
Gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB steht der Klägerin auch ein Zinsanspruch in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu.
II.
Die zulässige Leistungsklage ist auch insoweit begründet, als die Klägerin für den Zeitraum vom 1. Februar 2011 bis 2. August 2012 einen Erstattungsanspruch gemäß § 105 Abs. 1 SGB X in Höhe von …EUR geltend macht.
Da, wie bereits ausgeführt, auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Beginns der Jugendhilfeleistung abzustellen ist und in diesem Zeitpunkt der maßgebliche Kindsvater seinen gewöhnlichen Aufenthalt in … im Landkreis … hatte, hat die Klägerin nach der Fallübernahme ab 1. Februar 2011 als unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Der Beklagte kann dem Erstattungsanspruch der Klägerin § 105 Abs. 3 SGB X nicht entgegenhalten. Nach dieser Vorschrift gilt die in § 105 Abs. 1 SGB X geregelte Erstattungspflicht gegenüber den Trägern (unter anderem) der Jugendhilfe nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Der Beklagte kann nicht einwenden, dass dieser Tatbestand erst mit dem Schreiben vom 3. August 2012 erfüllt wurde, mit dem die Klägerin erstmals auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2011 (5 C 25.10) hingewiesen hat. Zum einen ist der Hinweis des Beklagten, die Rechtslage sei vor dem Erlass dieses Urteils eine andere gewesen, unzutreffend, nachdem das Bundesverwaltungsgericht bereits in den Jahren 2004, 2005 und 2010 zu erkennen gegeben hat, dass als „Beginn der Leistung“ grundsätzlich der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich erbracht wird, zu verstehen ist.
Zum anderen schließt sich die Kammer der obergerichtlichen Rechtsprechung an, wonach einem Träger der Jugendhilfe im Sinne des § 105 Abs. 3 SGB X bekannt ist, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht vorliegen, wenn er weiß, dass deren tatsächliche Voraussetzungen, insbesondere die Hilfsbedürftigkeit, gegeben sind. Unerheblich ist dabei seine rechtsirrige Meinung, ein anderer Leistungsträger sei leistungspflichtig (vgl. dazu: Urteil des BayVGH vom 27.9.1984 – 12 B 81 A.402 -).
Die tatsächlichen Voraussetzungen für die Leistungspflicht waren dem Beklagten jedoch von Anbeginn an bekannt. So wusste der Beklagte, dass wegen der gemeinsamen Sorgeberechtigung der Eltern von … gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, abzustellen ist. Der Beklagte wusste auch, dass der maßgebliche Kindsvater bei Leistungsbeginn in … im Landkreis … seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Dass sich der Beklagte unter dem Eindruck eines Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Januar 2006 (12 ZB 04.696) trotz positiver Kenntnis von den Voraussetzungen seiner Leistungspflicht, die Rechtsauffassung zu Eigen gemacht hat, dass als „Beginn der Leistung“ im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII der Zeitpunkt der Antragstellung anzunehmen ist, stellt lediglich einen Rechtsirrtum dar, der einen Erstattungsanspruch nach § 105 Abs. 1 SGB X nicht ausschließt.
Hinsichtlich dieses Erstattungsanspruches ist Verjährung nach § 113 SGB X nicht eingetreten, da die Klageerhebung am 23. Dezember 2015 den Eintritt der Verjährung verhindert hat.
Auch die Jahresfrist des hier anwendbaren § 111 SGB X wurde gewahrt, da der Erstattungsanspruch am 12. März 2013 geltend gemacht wurde und einen Zeitraum vom 1. Februar 2011 bis 2. August 2012 betrifft.
Auch insoweit steht der Klägerin ein Zinsanspruch in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß §§ 291, 288 BGB ab Rechtshängigkeit zu.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO; die Verfahren sind nicht gerichtskostenfrei (§ 188 Satz 2 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 709 ZPO.


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