Europarecht

„Spätfall“ eines Fahrzeugkaufs nach Bekanntwerden des „Diesel-Abgas-Skandals“

Aktenzeichen  3 U 180/19

Datum:
8.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7127
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 823 Abs 2, § 826
StGB § 263
ZPO § 138 Abs. 4, § 291, § 543 Abs. 2
EG-FGV § 27 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen einer deliktischen Einstandspflicht des VW-Konzerns in den sog. Diesel-Abgasverfahren kommt eine Haftung auch unter dem Gesichtspunkt einer sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB) von vornherein nicht (mehr) in Betracht, wenn der Kauf des Fahrzeugs erst nach Mitte Oktober 2015 – also erst nach den bis dahin erfolgten Verlautbarungen sowie sonstigen Aufklärungsmaßnahmen des VW-Konzerns und der jeweils dadurch ausgelösten Medienberichterstattung usw. – stattgefunden hatte (entgegen OLG Hamm NJW-RR 2019, 1428, dort Rn. 59 ff.). (Rn. 22 und 31)
2. In einem solchen „Spätfall“ des Fahrzeugerwerbs fehlt es sowohl am erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem angelasteten Sittenverstoß und dem Kaufentschluss als auch an einem Täuschungs- und Schädigungsvorsatz der Herstellerseite (Anschluss an OLG Stuttgart NJW-RR 20, 210, Rn. 42 ff.; OLG Oldenburg MDR 20, 286, Rn. 13 ff.; Urteil des OLG Frankfurt v. 13.11.19 – 13 U 274/18 – dort Rn. 51 ff.; OLG Schleswig NJW-RR 2020, 213, Rn. 39; OLG München WM 2020, 478, dort Rn. 8 ff.). (Rn. 14 und 37)
3. In einem derartigen „Spätfall“ ist die Klage auch bereits dann abweisungsreif, wenn die Klägerseite keinen plausiblen Sachvortrag dazu unterbreitet, weshalb sie trotz der umfangreichen und seit Ende September 2015 wochenlang anhaltenden Berichterstattung in den Medien auch bei Vertragsschluss keine Kenntnis davon gehabt und noch nicht einmal einen dahin gehenden Verdacht geschöpft haben will, dass die VW AG – konzernweit – bei mehreren ihrer Marken und jeweils bei zahlreichen Modellen jeweils Dieselfahrzeuge mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung vertreibt. (Rn. 42)
4. Bei der Spätfall-Konstellation eines Gebrauchtwagenkaufs erfordert ein schlüssiger Sachvortrag in der Kausalitätsfrage zugleich nachvollziehbare Darlegungen dazu, dass und weshalb die Käuferseite in ihrer konkreten Situation bei Kenntnis der verheimlichten Umstände auch nicht bereit gewesen wäre, das Fahrzeug zu einem um den „Minderwert“ reduzierten Kaufpreis zu erwerben. (Rn. 45)
5. Der Klägerseite hilft auch nicht das Vorbringen weiter, wonach die Herstellerseite mit dem nachträglichen Aufspielen eines „Software-Updates“ erneut eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Form eines Thermofensters installiert habe:. (Rn. 46)
6. Zum einen liegt die Behauptung einer weiteren Manipulation schon außerhalb des haftungsbegründenden Sachverhalts und damit des auf eine Täuschung bei Abschluss des Kaufvertrags gestützten Klagegrundes. (Rn. 47)
7. Darüber hinaus gehört zum schlüssigen Sachvortrag (wozu sich die „Klageschablone“ der Klägerseite regelmäßig ausschweigt), dass die Historie des konkreten Fahrzeugs dargelegt und hierbei auch das Ergebnis des aktuellen Hauptuntersuchungen einbezogen wird. (Rn. 48)

Verfahrensgang

41 O 839/18 2019-05-13 Urt LGBAYREUTH LG Bayreuth

Tenor

– in der Fassung der Berichtigung vom 21.04.2020 – 1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 13.05.2019 abgeändert.
2. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
6. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 7.235,08 € festgesetzt. Hiervon entfallen 6.917,57 € auf die Berufung der Beklagten

Gründe

I.
Die Klägerin nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin im Zusammenhang mit dem sogenannten „Diesel-Skandal“ nach Deliktsgrundsätzen auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Klägerin hatte am 04.12.2015 von einem Fahrzeughändler einen gebrauchten Pkw Seat Exeo gekauft. Das Fahrzeug ist serienmäßig mit einem Dieselmotor des Typs EA 189 ausgestattet und mit einer Software ausgerüstet, die den Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert.
Die Klägerin behauptet, sie habe im Zeitpunkt des Kaufs weder Kenntnis vom sog. „Diesel-Skandal“ noch davon gehabt, dass ihr Fahrzeug betroffen sei. Sie interessiere sich nicht für Berichterstattung der Medien über wirtschaftliche oder politische Themen. Beim Kauf sei sie über den Mangel auch nicht aufgeklärt worden. Informatorisch hat die Klägerin angegeben, sie habe das Fahrzeug vor allem wegen des Preises erworben und sich für ein Dieselfahrzeug entschieden, weil sie einen weiten Weg zur Arbeit habe. Ergänzend bringt die Klägerin vor, nach Presseberichten sei auch das von der Beklagten nachträglich aufgespielte Softwareupdate mit einer Abschalteinrichtung versehen.
Die Klägerin hat beantragt,
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.235,08 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 4 Prozent seit dem 4.12.2015 bis zum 12.12.2018 und seit dem 13.12.2018 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Seat Exeo, FIN Nr. …
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Fahrzeugs Seat Exeo, FIN Nr. … im Verzug befindet.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von vorgerichtlichen Gebühren ihrer Prozessbevollmächtigten, der Rechtsanwälte P., in Höhe von 729, 23 € freizustellen.
3. Die Beklagte tritt der Klage entgegen: Wegen der umfangreichen medialen Berichterstattung zum sogenannten „Diesel-Skandal“ im Anschluss an ihre eigenen Verlautbarungen seit Mitte September 2015 sei schon keine vorsätzliche sittenwidrigen Schädigung gegeben. Die Klägerin sei auch nicht über die Ausstattung des Fahrzeugs mit einem vom „Dieselskandal“ betroffenen Motor getäuscht worden.
4. Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 6.917,57 € Zug um Zug gegen die Rückübereignung des Fahrzeugs verurteilt. Es hat ferner den Annahmeverzug der Beklagten festgestellt und der Beklagten die Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltsgebühren in Höhe von 650,32 € auferlegt. Weiter hat es der Klägerin antragsgemäß Deliktszinsen ab dem Datum des Kaufvertrages zugesprochen. Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
5. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie die vollständige Abweisung der Klage anstrebt.
Sie rügt vorab die Verletzung rechtlichen Gehörs, weil das Landgericht hinsichtlich der Deliktszinsen entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen habe. Darüber hinaus greift die Beklagte die Feststellungen des Landgerichts an. Hierzu vertieft sie ihren Einwand, wonach in Spätfällen wie hier deliktische Ansprüche bereits wegen ihrer eigenen Verlautbarungen und der nachfolgenden Berichterstattung zum sogenannten „Diesel-Skandal“ ausgeschlossen seien. Ergänzend trägt die Beklagte vor, sie sei aufgrund eigener Anweisungen an die VW-Partner davon ausgegangen, dass diese die Kunden bei konkreten Verkäufen hinreichend informieren.
6. Die Klägerin, die ihre eigene Berufung zurückgenommen hat, beantragt die Zurückweisung der Berufung der Beklagten.
Sie verteidigt das Ersturteil: Die Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten sei durch die sog. Ad-Hoc-Mitteilung der Beklagten nicht beseitigt worden. Das inzwischen aufgespielte Softwareupdate beinhalte eine neue unzulässige Abschalteinrichtung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze samt den beigefügten Urkunden und sonstigen Anlagen, die Protokolle der mündlichen Verhandlungen sowie auf den Tatbestand und die Gründe der angefochtenen Entscheidung (Bl. 274 ff. d. A.) Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Beklagten führt zur Abänderung des Ersturteils und vollständigen Abweisung der Klage. Denn die Klage war von Anfang an und gleich aus mehreren Gründen abweisungsreif.
1. Im Streitfall scheitert eine deliktische Einstandspflicht der Beklagten wegen sittenwidriger Täuschung der Klägerseite von vornherein daran, dass der Kauf des Fahrzeugs erst nach dem Bekanntwerden des sog. Abgasskandals erfolgt ist und es daher schon am notwendigen Zurechnungszusammenhang zwischen einem etwaigen Sittenverstoß und dem Schadenseintritt fehlt.
1.1 Ein Rechtswidrigkeitszusammenhang und damit eine Zurechenbarkeit des Schadens besteht nur dann, wenn der Schaden sich innerhalb des Schutzbereichs der verletzten Norm verwirklicht; es muss ein innerer Zusammenhang mit der durch den Schädiger hervorgerufenen Gefahrenlage bestehen (BGH NJW-RR 1972, 36, 37).
Der der Beklagten angelastete Sachverhalt erschöpft sich nämlich nicht darin, dass sie Fahrzeuge mit einer gesetzwidrigen Motorsteuerung hergestellt und in den Verkehr gebracht hatte; vielmehr liegt der haftungsbegründende Schwerpunkt darin, dass sie damit gegenüber den Kaufinteressenten zugleich den Eindruck erweckt hatte, das Fahrzeug entspreche den Zulassungsbestimmungen (in diesem Sinne schon OLG Oldenburg MDR 20, 286, Rn.13); die Käuferseite wurde so zum Abschluss eines Vertrags veranlasst, den sie bei Kenntnis der manipulierten Software nicht eingegangen wäre. Der Tatvorwurf geht also in der Sache dahin, dass der Käufer in Bezug auf einen aufklärungspflichtigen (und aufklärungsbedürftigen) Sachmangel des Fahrzeugs in sittenwidriger Weise zu einer schädlichen Vermögensdisposition bestimmt worden war.
1.2 In einem solchen Fall genügt es jedoch nicht, dass der Täter die Möglichkeit einer schadensträchtigen Entwicklung erkannt und gebilligt hatte. Vielmehr trifft ihn der haftungsbegründende Vorwurf einer sittenwidrigen Schädigung nur dann, wenn der Geschädigte die schadenauslösende Handlung gerade deswegen vorgenommen hat, weil er dazu in sittenwidriger Weise veranlasst worden war. Anderenfalls hat sich das Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit bei der Schädigung nicht verwirklicht (BGH, Urteil vom 20. Februar 1979 – VI ZR 189/78, dort Rn. 18 bestätigt durch Urteil vom 7. Mai 2019 – VI ZR 512/17, dort Rn. 8 OLG Stuttgart NJW-RR 20, 210, dort Rn. 42 m.w.N.).
Denn für die abschließende sittliche Beurteilung eines Täterverhaltens hat es auf den maßgebenden „Tatzeitpunkt“ anzukommen, zumal bis dahin auch der Täuschungs- und Schädigungsvorsatz der Täterseite fortbestehen muss (so jetzt auch OLG Stuttgart, Urteil vom 23.01.20 – 13 U 244/18 -, dort Rn. 75, 76 und 82). Das aber ist derjenige Moment, in dem das Tatgeschehen aus der Vorbereitungs- bzw. Versuchsphase unmittelbar in die volle Verwirklichung des im konkreten Schadensfall haftungsbegründenden Deliktstatbestandes einmündet; bei einer Konstellation wie hier geht es somit um denjenigen Zeitpunkt, in dem sich der jeweilige Endabnehmer des Fahrzeugs infolge der bis zuletzt ausgebliebenen Aufklärung über den gegenständlichen Softwaremangel zum Abschluss des Kaufvertrages hatte bestimmen lassen.
Infolgedessen muss in den Fällen des Erwerbs eines Dieselfahrzeugs mit einer manipulierten Software eine sittenwidrige „Veranlassung“ der Beklagten auch noch bei Abschluss des konkreten Kaufvertrags vorgelegen haben d.h. gerade der schadensträchtige Erwerb durch die betroffene Klägerseite muss auf ein Gesamtverhalten der Beklagten zurückzuführen sein, welches das Unwerturteil der Verwerflichkeit rechtfertigt (OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Oldenburg a.a.O., Rn. 13ff. und Urteil des OLG Frankfurt vom 13.11.19 – 13 U 274/18 -, dort Rn. 51, jeweils m.w.N.).
1.3 Da der Schwerpunkt des Tatvorwurfs auf einer sittenwidrigen Täuschung und der dadurch bedingten Schädigung der Käuferseite liegt, folgt daraus notwendig, dass sich der entscheidende Wertungsgesichtspunkt auf die Frage zuspitzt, ob und in welchem Umfang die Beklagte im Zeitpunkt des jeweiligen Kaufvertrags bereits geeignete Schritte zur Aufklärung potentieller Kaufinteressenten im Bereich ihres Absatzmarktes unternommen hatte.
Hierbei macht es von vornherein keinen Unterschied, ob es um den Kauf eines Gebrauchtwagens wie hier (und in den jeweils von OLG Stuttgart, OLG Oldenburg und OLG Frankfurt a.a.O. beurteilten Fallgestaltungen) oder um den Erwerb eines Neuwagens geht. Im Gegenteil: Im Fall eines Ersterwerbs gibt es bereits keinen von der Phase des „Inverkehrbringens“ verschiedenen „Tatzeitpunkt“.
2. Nach diesen Einordnungskriterien kann jedenfalls ab Mitte Oktober 2015 nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Kaufverträge über Dieselfahrzeuge mit dem Motor EA 189 wie zuvor von der Beklagten in sittenwidriger Weise „veranlasst“ worden waren.
Demnach war auch zum Zeitpunkt des gegenständlichen Kaufvertrags der notwendige Rechtswidrigkeitszusammenhang nicht mehr gegeben, weil er bereits mit dem Bekanntwerden des Abgasskandals nachträglich entfallen war. Das ergibt sich aus der Aufdeckung der manipulativen Abschalteinrichtung bei dem gegenständlichen Motor EA 189 und den von der Beklagten aus diesem Anlass unternommenen Schritten zur Unterrichtung der „breiten“ Öffentlichkeit.
2.1 Bei diesen Maßnahmen der Beklagten handelt es sich vor allem um folgende senats- bzw. allgemeinkundige Vorgänge (§ 291 ZPO), die sich im Übrigen auch aus der unbestritten gebliebenen bzw. nach § 138 IV ZPO nicht zulässig bestrittenen Darstellung der Beklagtenseite ergeben (vgl. ergänzend auch OLG Stuttgart NJW-RR a.a.O., Rn. 45ff.):
a) Ob bereits die Pressemitteilung der Beklagten vom 18. September 2015 und die sog. Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten vom 22. September 2015 zum Wegfall des Verdikts der Sittenwidrigkeit geführt haben, kann dahinstehen.
Jedenfalls hatte die Beklagte am 22. September 2015 auch eine Pressemitteilung herausgeben, in der mitgeteilt wurde, dass „Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA189 mit einem Gesamtvolumen von weltweit rund elf Millionen Fahrzeugen auffällig“ seien. Bei diesem Motortyp sei „eine auffällige Abweichung zwischen Prüfstandwerten und realem Fahrbetrieb festgestellt“ worden. Diese Verlautbarung hatte sofort eine intensive Berichterstattung in nahezu allen Zeitungen, Fernsehsendern und Onlinemedien in Deutschland ausgelöst.
Anfang Oktober 2015 hatte die Beklagte sodann eine Website freigeschaltet, auf der durch Eingabe der FIN überprüft werden konnte, ob ein konkretes Fahrzeug mit der manipulierten Abschalteinrichtung versehen, also von dem sog. Dieselskandal betroffen ist. Dies wurde ebenfalls in einer Pressemitteilung bekannt gegeben und war Gegenstand einer umfangreichen Presseberichterstattung. Darüber hinaus informierte die Beklagte ihre Vertragshändler und Servicepartner über die Problematik.
Am 15. Oktober 2015 gab das KBA in einer Pressemitteilung bekannt, dass es gegenüber der Beklagten den Rückruf von 2,4 Millionen Volkswagen-Fahrzeugen, die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, angeordnet habe. Der Beklagten werde – so die Pressemitteilung weiter – auferlegt, die entsprechende Software aus allen Fahrzeugen zu entfernen und geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit zu ergreifen. Dies sei durch entsprechende Nachweise zu belegen. Betroffen seien Fahrzeuge mit EURO 5 Dieselmotoren der Größe 2 l, 1,6 l und 1,2 l Hubraum. Die betroffenen Halterinnen und Halter würden durch den Hersteller zeitlich gestaffelt angeschrieben und aufgefordert, ihr Fahrzeug in der Werkstatt vorzuführen. Über diese Rückrufanordnung des KBA informierte die Beklagte ebenfalls in einer Pressemitteilung.
b) Die dargelegten Maßnahmen der Beklagten waren nach Inhalt und Umfang ohne weiteres ausreichend, um die Öffentlichkeit sowie die Besitzer betroffener Dieselfahrzeuge über das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu informieren. Im Hinblick auf die absehbare Unterrichtung der Öffentlichkeit durch die nachfolgende Berichterstattung in der Presse waren die Verlautbarungen der Beklagten daher jedenfalls ab Mitte Oktober 2015 geeignet, das Fortwirken des Sittenwidrigkeitsverdikts zu verhindern.
Allerdings können die Presseberichterstattung sowie die Öffentlichkeitsinformationen durch das KBA der Beklagten nicht zugerechnet werden. Diese sich aus den amtlichen Informationsquellen ergebende Aufklärung der breiten Öffentlichkeit ist aber bei der Beurteilung der Frage, welche Anstrengungen von der Beklagte zu unternehmen waren, um den an Vertrieb der mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehenen Fahrzeuge anknüpfenden Sittenwidrigkeitsvorwurf zu beseitigen, ebenfalls mit zu berücksichtigen, zumal die Beklagte auch darüber informiert hatte.
2.2 Die gegenteilige Auffassung des OLG Hamm (NJW-RR 2019, 1428, dort Rn. 59ff.) kann gleich aus mehreren Gründen nicht überzeugen.
a) Sie beruht schon nicht auf einer tragfähigen Beurteilungsgrundlage, weil der beurteilungserhebliche Sachverhalt erkennbar nur in Ausschnitten festgestellt und verwertet wurde: So ist bereits unter den Tisch gefallen, dass die Beklagte am 22.09.2015 zugleich eine für die breite Öffentlichkeit bestimmte Pressemitteilung herausgegeben hatte. Des Weiteren wird auch das durch die Verlautbarungen der Beklagten im Herbst 2015 jedes Mal ausgelöste -überwältigende – Medienecho und die jeweils damit (absehbar) einhergehende pressemäßige „Nachbearbeitung“ der Mitteilungen von VW ausgeblendet. Schließlich bleiben auch noch die Informationsarbeit des KBA und die wiederum hieran anknüpfende Aufklärung der Beklagten unberücksichtigt.
b) Sodann und vor allem sind die Darlegungen des OLG Hamm zum Inhalt der ausschnittsweise berücksichtigten Verlautbarungen der Beklagten auch nicht am objektiven Verständnishorizont eines durchschnittlichen Kunden einschließlich der sich hierbei aufdrängenden Regeln der Lebenserfahrung ausgerichtet, sondern erkennbar ergebnisorientiert. Das gilt insbesondere (aber nicht nur) für das den Bedeutungsgehalt der zentralen Hinweise auf „Auffälligkeiten“ oder eine „augenfällige Abweichung zwischen Prüfstandsverhalten und realem Fahrbetrieb“ einengende Verständnis der maßgebenden Verlautbarungen (OLG Hamm a.a.O. Rn. 59 bzw. 65). Denn selbstverständlich sind sich auch geschäftsunerfahrene Durchschnittsleser der Tragweite von wiederholten Verlautbarungen bewusst, mit denen ein Fahrzeug-Hersteller wie der VW-Konzern die gesamte Öffentlichkeit mit dem Eingeständnis konfrontiert, dass eine gesamte Produktpalette bereits seit Jahren mit einem signifikanten Fehler behaftet ist. Ohne Frage weiß nämlich auch das fachunkundige Publikum, dass sich ein Unternehmen wie die Beklagte zu einem solchen „schmerzhaften“ Schritt ausschließlich deshalb entschließt, weil hinter den vorsichtig formulierten Hinweisen auf „Auffälligkeiten“ usw. hochbrisante Vorgänge stehen, die auf geradezu alarmierende Schwachstellen in dem – konzernweit – betroffenen Produktionszweig der Dieselfahrzeuge hindeuten. Demzufolge hatte bereits die erste Pressemitteilung vom 22.09.2015 zugleich das bestimmungsgemäße Potential, die Öffentlichkeit auf die nun einsetzende „Nachbearbeitung“ samt den sich nun auf „Skandalstatus“ ausweitenden Recherchen in allen medialen Bereichen zu verweisen.
c) Schließlich stellt die Einordnung des OLG Hamm a.a.O. auch weit überzogene (sich tendenziell sogar einem wettbewerbsrechtlichen Lauterbarkeitsmaßstab annähernde) Anforderungen an den Inhalt und die Aussagequalität von Verlautbarungen, die unter den damaligen Umständen zur Aufklärung der breiten Öffentlichkeit notwendig, aber auch ausreichend waren.
Denn hierfür bedurfte es weder eines ausdrücklichen „Eingeständnisses“ hinsichtlich des im Raum stehenden Manipulationsverdachts noch einer näheren Erläuterung der möglichen Auswirkungen des Produktmangels auf die Zulassungsfrage. Vielmehr war jedenfalls bis Mitte Oktober 2015 ein Aufklärungsniveau erreicht, das jeden potentiellen Kunden bzw. betroffenen Fahrzeugbesitzer in die Lage versetzte, die Situation bei Dieselfahrzeugen der – in den Hinweisen der Beklagten ausdrücklich konzernweit angesprochenen – Produktpalette als hochsuspekt zu erkennen und den alarmierenden Hinweisen selbstständig weiter nachzugehen. Da schon in den ersten Mitteilungen der Beklagten explizit auf eine konzernweite Dimension des Produktfehlers hingewiesen worden war, bedurfte es auch keiner näheren Angaben zu den im einzelnen betroffenen Marken, Modellen bzw. sonstigen Produktreihen (vgl. dazu im übrigen OLG Stuttgart, Urteil vom 23.01.20 – 13 U 244/18 -, dort Rn. 87, 88 sowie OLG Frankfurt a.a.O., Rn. 56).
Nach alledem kann bei der gebotenen Gesamtbetrachtung spätestens ab Mitte Oktober 2015 nicht mehr von einer weiterhin als sittenwidrig anzusehenden Schädigung von Käufern durch die Herstellung und das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegangen werden.
3. Auf dieser Grundlage ist auch kein Raum mehr für die Feststellung, dass im maßgebenden Zeitpunkt des gegenständlichen Kaufvertrages auf Beklagtenseite (immer noch) der für eine deliktische Haftung notwendige (und von der Klägerseite nachzuweisende) Täuschungs- und damit verbundene Schädigungsvorsatz vorgelegen hat (vgl. Urteil des OLG Stuttgart vom 23.01.20 – 13 U 244/18 -, dort Rn. 76 und 82 und OLG Schleswig NJW-RR 2020, 213, Rn. 39).
4. Hiernach kommt es schon nicht mehr auf die Frage an, ob und in welchem Umfang die Klägerseite bei Vertragsschluss Kenntnis von dem sog. Dieselskandal und dessen möglichen Auswirkungen auf Fahrzeuge des hier erworbenen Modells gehabt hatte. Vielmehr sind aus den dargelegten Gründen für das Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit nur das Verhalten und die Einstellung der Beklagten maßgebend.
Es bedarf daher auch keiner Vertiefung der Frage, welche Mindestkenntnisse im beurteilungserheblichen Zeitraum bei einem durchschnittlichen Käufer in der Lage der Klagepartei in Bezug auf den sog. Dieselskandal bzw. von der konkreten Betroffenheit des gekauften Fahrzeugs vorausgesetzt werden können. Somit kann auch dahinstehen, ob eine die Haftung der Beklagten ausschließende Kenntnis der Käuferseite auch die interne Motorenbezeichnung des Herstellers (hier: EA 189) zu umfassen hätte (was der Senat im Übrigen verneint).
5. Schließlich ist die Klage zugleich deshalb abweisungsreif, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der behaupteten Täuschung und dem Kaufentschluss der Klagepartei nicht dargetan ist. Denn es bestehen auch durchgreifende Zweifel an dem Vorbringen der insoweit beweisbelasteten Klägerseite, wonach sie bei Kenntnis der unzulässigen Abschalteinrichtung das gegenständliche Fahrzeug nicht erworben hätte.
5.1 Bei ihrer informatorischen Anhörung durch den Senat hat die Klägerin u.a. angegeben (Sitzungsniederschrift vom 08.01.20 dort S. 2, 3 = Bl. 424f.):
„Ich hatte mich für einen Gebrauchtwagen aus finanziellen Gründen entschieden. Ich habe und hatte kein weiteres Fahrzeug. Das Fahrzeug war vom Preis sehr interessant. Trotz der hohen Fahrleistung wollte ich unbedingt ein Dieselfahrzeug haben, weil ich einen weiteren Weg zur Arbeit habe. Wie schon bei meinem ersten Fahrzeug möchte ich dieses Fahrzeug so lange wie möglich fahren. Ein Weiterverkauf ist bis auf weiteres nicht vorgesehen.
Ich wusste nicht, dass die Marke Seat zum VW-Konzern gehört. Ich hatte mich damals für die Medienberichte über den Abgasskandal nicht interessiert… Zum Zeitpunkt des Kaufs hatte ich noch so wenig von dem Abgasskandal mitbekommen, dass ich selbst beim Angebot eines gebrauchten Polos oder Golfs noch keine Bedenken wegen des Verdachts einer Abgasmanipulation gehabt hätte. Die Vorgänge in der Autoindustrie haben mich seit jeher so gut wie nicht interessiert…“
5.2 Danach ist die Klägerin schon eine plausible Erklärung dafür schuldig geblieben, weshalb sie trotz der umfangreichen und seit Ende September 2015 wochenlang anhaltenden Berichterstattung in den Medien auch bei Vertragsschluss keine Kenntnis davon gehabt und noch nicht einmal einen dahingehenden Verdacht geschöpft haben will, dass die Beklagte – konzernweit – bei mehreren ihrer Marken und jeweils bei zahlreichen Modellen jeweils Dieselfahrzeuge mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung vertreibt.
Unabhängig davon drängt sich nach den Angaben der Klägerin zu ihren für den Kauf eines gebrauchten und preisgünstigen Dieselfahrzeugs maßgebenden Gründen der Eindruck auf, dass der Aspekt einer umweltfreundlichen Technik von vornherein keine Rolle spielte, so dass auch eine mögliche Betroffenheit des Wagens vom „Abgasskandal“, wenn überhaupt, allenfalls nur von ganz untergeordneter Bedeutung war.
Entgegen dem Vorbringen in der Klageschrift hatte die Klägerin bei der Anschaffung des Fahrzeugs auch nicht die Möglichkeit eines Wiederverkaufs ins Auge gefasst. Sie hat sich vor dem Senat vielmehr darauf festgelegt, dass ein Weiterkauf (nach wie vor) nicht geplant sei und sie das Fahrzeug „so lange wie möglich“ fahren wolle.
5.2. Der Senat neigt im Übrigen zu der Auffassung, dass jedenfalls bei der vorliegenden Konstellation eines Gebrauchtwagenkaufs ein plausibler Sachvortrag in der Kausalitätsfrage zugleich nachvollziehbare Darlegungen dazu erfordert, dass und weshalb die Käuferseite in ihrer konkreten Situation bei Kenntnis der verheimlichten Umstände auch nicht bereit gewesen wäre, das Fahrzeug zu einem um den „Minderwert“ reduzierten Kaufpreis zu erwerben. Denn die Verständigung auf eine angemessene Minderung des Kaufpreises wegen eines im Rahmen der Kaufverhandlungen aufgedeckten Sachmangels ist nun einmal gerade im Gebrauchtwagenhandel für die Käuferseite im Regelfall das Mittel der Wahl, welches – schon im Hinblick auf die bereits vorliegenden Verlautbarungen des KBA und der sich daraus ergebenden Perspektive einer effizienten Nachbesserung – auch der Klagepartei als eine sowohl realistische wie naheliegende Option offen gestanden hätte.
6. Auch das Vorbringen, wonach die Beklagte mit dem nachträglichen Aufspielen eines „Software-Updates“ erneut eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Form eines Thermofensters installiert habe, kann der Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
Da der Vorwurf eines „manipuliertenSoftware-Upgrades“ ausschließlich an das dem Vertragsschluss nachfolgende und auf eine Nachbesserung bezogene Verhalten der Beklagten anknüpft, ist schon kein ursächlicher Zusammenhang mit demjenigen Schadenseinschlag erkennbar, der entsprechend dem ursprünglichen Klagevortag aus der angeblich täuschungsbedingten Eingehung des vorliegenden Kaufvertrags abgeleitet wird. Mit anderen Worten: Die Behauptung einer weiteren Manipulation liegt von vornherein außerhalb des haftungsbegründenden Sachverhalts und damit des Klagegrundes, der auf die angeblich zum Abschluss des Kaufvertrages führenden Umstände gestützt wird.
Darüber hinaus lässt das – ohnehin nur in der Aufmachung eines Textbausteins angebotene – Vorbringen zugleich schlüssigen Sachvortrag vermissen, der die tatbestandlichen Voraussetzungen einer weiteren sittenwidrigen Schädigung ausfüllen könnte. In objektiver Hinsicht gehört dazu insbesondere, dass die Historie des konkreten Fahrzeugs dargelegt und hierbei auch das Ergebnis der amtlichen Untersuchungen einbezogen wird. Schon daran fehlt es. Es überrascht deshalb nicht, dass die Klägerin vor dem Senat eingeräumt hat, dass inzwischen zwei Hauptuntersuchungen ihres Fahrzeugs stattgefunden haben, die beide auch im Rahmen der Abgaskontrolle ohne Beanstandungen geblieben sind (Sitzungsniederschrift vom 08.01.20 dort S. 3 = Bl.425).
Aber auch zur subjektiven Tatseite fehlt eine ansatzweise nachvollziehbare Darstellung; dies bereits im Hinblick darauf, dass für das inzwischen zur Beseitigung der unzulässigen Abschalteinrichtung aufgespielte Update eine Genehmigung des Kraftfahrt-Bundesamts vorliegt (vgl. dazu etwa OLG Frankfurt a.a.O., Rn. 57ff. und 71).
7. Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 27 Abs. 1 EG-FGV besteht ebenfalls nicht. Abgesehen davon, dass § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht als Schutzgesetz einzuordnen ist, fehlt es aus den vorgenannten Gründen jedenfalls auch insoweit an einem Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Verletzung eines Schutzgesetzes und dem geltend gemachten Schaden sowie an dem Nachweis der Kausalität zu dem Kaufentschluss der Klagepartei.
III.
Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten das Ersturteil abzuändern und die Klage mit der Kostenfolge der §§ 91 Abs. 1; 516 Abs. 3 ZPO insgesamt abzuweisen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10; 713 ZPO.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der schon im tatsächlichen Ausgangspunkt abweichenden Einordnung des OLG Hamm a.a.O. in Bezug auf den Inhalt, die Entwicklung sowie die Auswirkungen der zur Unterrichtung der Öffentlichkeit bestimmten Verlautbarungen der Beklagten seit Mitte September 2015. Denn die Würdigung dieses komplexen Geschehens sowie die darauf aufbauende Einordnung durch das OLG Hamm a.a.O. beruhen auf einer erkennbar verkürzten Beurteilungsgrundlage, die aus den dargelegten Gründen in gleich mehreren tragenden Aspekten auch hinter dem vom Senat festgestellten Ausgangssachverhalt zurückbleibt.
Darüber hinaus kommt in der Kausalitätsfrage ein weiterer und eigenständiger Abweisungsgrund hinzu, der ausschließlich auf den individuellen Gegebenheiten des Streitfalls beruht.


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