Europarecht

Temporäres Abschiebungshindernis wegen Risikoschwangerschaft

Aktenzeichen  W 8 K 17.50316

Datum:
13.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3
EMRK EMRK Art. 8
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a § 34a Abs. 1 S. 1, § 77 Abs. 2
AufenthG AufenthG § 60a Abs. 2c S. 2

 

Leitsatz

Eine Risikoschwangerschaft, die zur Reiseunfähigkeit wegen einer konkreten Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit von Mutter und ungeborenem Kind führt, begründet ein temporäres, inlandsbezogenes und vom Bundesamt zu beachtendes Abschiebungshindernis. Dieses Abschiebungshindernis dauert – orientiert an der Mutterschutzfrist des Mutterschutzgesetzes – bis acht Wochen nach der Entbindung. (Rn. 16 und 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Nr. 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit darin die Abschiebung aller Kläger in die Tschechische Republik während der aktuellen Schwangerschaft der Klägerin zu 2) sowie bis acht Wochen nach Niederkunft bzw. nach sonstiger Beendigung der Schwangerschaft der Klägerin zu 2) angeordnet ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig, aber nur im tenorierten Umfang begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 31. Mai 2017 ist im tenorierten Umfang betreffend Nr. 2 teilweise rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO):
Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Im Fall der Kläger steht dem jedoch ein temporäres Abschiebungshindernis aus gesundheitlichen Gründen inolge der Risikoschwangerschaft der Klägerin zu 2) entgegen.
Vorliegend besteht ein zeitweises inlandsbezogenes Abschiebungshindernis (§ 60a Abs. 2 AuslG), das die Beklagte selbst zu berücksichtigen hat. Eine Reise- oder Transportunfähigkeit wurde von den Klägern substanziiert geltend gemacht.
Denn die Kläger haben zwei fachärztliche Atteste betreffend die Klägerin zu 2) mit folgender Diagnose vorgelegt: 1. Gravidität 10. SSW; 2. Z. n. septischem Abort bei Geminigravidität mens VI 2016; 3. Z. n. nach Spontanpartus 2010 und 2012. Therapieempfehlung: Weitere ambulante Schwangerschaftsvorsorge. Nach dem ersten Trimenon Empfehlung zum Muttermundverschluss nach Saling. Die aktuelle Schwangerschaft sei als Risikoschwangerschaft einzustufen, es bestehe Reiseunfähigkeit (ärztliches Attest des Frauenarztes Dr. S* … vom 16.6.2017).
Ein weiteres ärztliches Attest des Facharztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. B* … vom 31. August 2017 diagnostiziert: Gravidität 25. SSW; Zust. nach septischem Abort bei Geminigravidität mens IV 2016; Zust. nach Spontanpartus 2010 und 2012. Bei der Klägerin zu 2) bestehe eine Risikoschwangerschaft, deshalb sei sie nicht reisefähig.
Auch wenn die Atteste immer noch nicht voll den Vorgaben des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG entsprechen, hat das Gericht keinen Zweifel, dass die von zwei verschiedenen Frauenärzten gestellte Diagnose zutrifft und eine Risikoschwangerschaft besteht, die zur (vorübergehenden) Reiseunfähigkeit führt. Hinzu kommt, dass sich ebenfalls im vorgelegten Mutterschaftspass sowohl eine Gemini-Frühgeburt im Jahr 2016 als auch die Fehlgeburten im Jahr 2010 und 2012 belegt finden und dort weiter die Empfehlung zum Muttermundverschluss nach Saling aufgeführt ist. Ausgehend von diesen Feststellungen hat das Gericht keine Zweifel, dass bei der Klägerin zu 2) eine Risikoschwangerschaft vorliegt und bei einer Reise bzw. Überstellung nach Tschechien zum jetzigen Zeitpunkt eine konkrete und ernsthafte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Mutter oder des ungeborenen Kindes (etwa infolge einer erneuten Früh- oder Fehlgeburt) beachtlich wahrscheinlich ist, sodass eine Überstellung nach Tschechien gegenwärtig nicht zumutbar ist. Auch wenn die ärztliche Atteste nicht konkret auf mögliche Folgen einer Abschiebung eingehen, sprechen sowohl die früheren Fehlgeburten bzw. Komplikationen bei den früheren Geburten und die Empfehlung zum Muttermundverschluss für die Korrektheit der fachärztlich festgestellten Reiseunfähigkeit.
Die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit begründet indes kein absolutes, sondern nur ein vorübergehendes Abschiebungshindernis. Laut Mutterschaftspass ist die Niederkunft am … Dezember 2017 (bzw. …12.2017) zu erwarten. Von einer Reiseunfähigkeit ist bis zu einem Zeitraum von acht Wochen nach der Entbindung/Niederkunft bzw. nach sonstiger Beendigung der Schwangerschaft auszugehen. Denn die Bestimmungen über die Mutterschutzfristen im Mutterschutzgesetz (vgl. § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 Mutterschutzgesetz) sind bei der Frage der rechtlichen Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend heranzuziehen, so dass im Zeitraum von acht Wochen nach der Entbindung grundsätzlich ein Abschiebungshindernis besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 27.6.2016 – W 2 K 16.50065 – juris; VG Ansbach, B.v. 24.11.2015 – AN 14 S. 15.50402 – juris, jeweils m.w.N.).
Im Hinblick auf Art. 1, 2 und 6 GG ergibt sich aus der vorübergehenden Reiseunfähigkeit der Klägerin zu 2) ein temporäres Abschiebungshindernis für alle Kläger, so dass insoweit eine Abschiebung zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt nicht durchgeführt werden kann. Ist die Abschiebung der Klägerin zu 2) vorübergehend rechtlich unmöglich, so liegt auch bei den Klägern zu 1) sowie 3) und 4) ein solches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO und gemäß dem in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Ehe und Familie unzulässig. Die Familienbindung der Klägerin zu 2) zu ihrem Ehemann sowie zu ihren Kindern unterfallen dem entsprechenden Schutz (vgl. VG Würzburg, U.v. 27.6.2016 – W 2 K 16.50065 – juris; VG Ansbach, B.v. 24.11.2015 – AN 14 S. 15.50402 – juris, jeweils m.w.N.).
Da die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit der Klägerin zu 2) lediglich temporär ist und nicht zu einem absoluten Abschiebungshindernis führt, war der Klage (nur) teilweise stattzugeben, soweit die Kläger die Aufhebung der Abschiebungsanordnung nach Tschechien für den Zeitraum bis Ende der Mutterschutzfrist (acht Wochen nach Entbindung/Niederkunft bzw. sonstige Beendigung der Schwangerschaft) begehren. Soweit die Kläger über die Acht-Wochen-Frist hinaus die Aufhebung ihrer Abschiebungsanordnung nach Tschechien begehren, bleibt der Klageantrag ohne Erfolg. Insoweit ist die Abschiebungsanordnung rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
Auch im Übrigen ist die Klage unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid in seinen Nrn. 1, 2 und 4 rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Des Weiteren nimmt das Gericht auf seinen Beschluss im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 9.6.2017 – W 8 S. 17.50315) Bezug, in dem es das klägerische Vorbringen schon ausführlich gewürdigt hat.
Die Kläger haben im gerichtlichen Verfahren, insbesondere auch nach Ergehen des sie betreffenden Beschlusses im Sofortverfahren bzw. nach Anfrage zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung – betreffend die Nrn. 1, 2 und 4 des Bescheides – keine weiteren Gesichtspunkte vorgebracht, die eine andere Beurteilung rechtfertigen. Solche Gründe sind auch sonst nicht ersichtlich. Daher erübrigen sich weitergehende Ausführungen zu den Entscheidungsgründen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Kostenteilung (2/3 Kläger, 1/3 Beklagte) orientiert sich am Grad des jeweiligen Obsiegens bzw. Verlierens. Einerseits lässt sich kein endgültiges, sondern nur ein vorübergehendes Abschiebungshindernis durch die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit feststellen; andererseits besteht das Abschiebungshindernis ausgehend von der geplanten Niederkunft im Dezember 2017 und den zusätzlich danach folgenden acht Wochen doch für geraume Zeit. Hingegen bleibt die Klage betreffend die Nrn. 1, 2 und 4 des streitgegenständlichen Bescheides erfolglos.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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