Europarecht

Türkischer Staatsangehöriger, Erlöschen der Niederlassungserlaubnis, Sicherung des Lebensunterhalts, Erwerbsunfähigkeit, Schwerbehinderung

Aktenzeichen  M 25 K 18.2692

Datum:
28.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16932
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6
AufenthG § 51 Abs. 2
ARB 1/80

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.     
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist teilweise unzulässig und, soweit sie zulässig ist, unbegründet.
I) Insoweit der Kläger Klage auf Feststellung, dass die Niederlassungserlaubnis nicht erloschen ist, erhoben hat, ist die Klage unzulässig. Gegen die in Form eines Verwaltungsakts getroffene Feststellung des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis ist die Anfechtungsklage statthaft. Mit der Entscheidung über die Anfechtungsklage wird der Streit zwischen den Beteiligten beigelegt, ob die Niederlassungserlaubnis kraft Gesetzes erloschen ist; einer zusätzlichen Feststellungsklage, dass dieser Aufenthaltstitel fortbesteht, bedarf es nicht (vgl. VGH Mannheim, U.v. 9.11.2015 – 11 S 714/15, BeckRS 2016, 40012, Rn. 25, m.w.N.).
II) Insoweit der Kläger Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 2018 erhoben hat, ist die Klage zulässig, aber nicht begründet. Die Feststellung des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis des Klägers ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung sind rechtmäßig ergangen.
Die Niederlassungserlaubnis des Klägers ist nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG aufgrund des langjährigen Auslandsaufenthalts erloschen; auf einen Privilegierungstatbestand nach § 51 Abs. 2 AufenthG kann sich der Kläger nicht berufen. Auch ein Aufenthaltsrecht des Klägers nach ARB 1/80 ist wegen des jahrelangen Auslandsaufenthalts erloschen.
1. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt ein Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausreist. Ein vorübergehender Grund in dem Sinne liegt dann vor, wenn der Auslandsaufenthalt nach seinem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt ist und keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringt. Fehlt es an einem dieser Merkmale, liegt ein seiner Natur nach nicht nur vorübergehender Grund im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG vor. Neben der Dauer und dem Zweck des Auslandsaufenthalts sind bei der Prüfung, ob die Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund erfolgt ist, alle objektiven Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers und insbesondere seine Planung der späteren Rückkehr nach Deutschland nicht allein ankommen kann. Wesentlich ist auch die Dauer der Abwesenheit: Je länger sie währt und je deutlicher sie über einen bloßen Besuchs- und Erholungsaufenthalt im Ausland hinausgeht, desto mehr spricht dafür, dass der Auslandsaufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist (BayVGH, U.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 11).
Nach diesen Maßstäben ist der Kläger nicht nur aus einem der Natur nach vorübergehenden Grunde ausgereist. Der Kläger ist am 31. Dezember 2011 in die Türkei ausgereist, da er (krankheitsbedingt) das Gefühl hatte zu sterben und in der Türkei sterben wollte. Eine Rückkehr war dementsprechend nicht vorgesehen. Der Aufenthalt des Klägers war auch nicht nur vorübergehender Natur, aufgrund seiner medizinischen Weiterbehandlung in der Türkei. Zum einen hat sich der Kläger nicht umgehend in medizinische Behandlung gegeben, sondern erst im Jahre 2013, und zum anderen war die Behandlung zum Zeitpunkt der Ausreise auch nicht geplant. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der Kläger sich erst nach längerem Aufenthalt in der Türkei zu einer Rückkehr nach Deutschland entschlossen hat. Nach seinen eigenen Angaben waren Änderungen der familiären und finanziellen Situation in der Türkei ausschlaggebend hierfür. Für einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt spricht auch die Dauer des Aufenthalts von über 5,5 Jahren.
2. Dem Erlöschen der Niederlassungserlaubnis steht auch nicht § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen, da der Lebensunterhalt des Klägers im maßgeblichen Zeitpunkt nicht gesichert war.
Nach § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (i.d.F. gültig bis 31. Juli 2015) erlosch die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG, wenn dessen Lebensunterhalt gesichert ist und kein Ausweisungsgrund bestand. Maßgeblich für die nach § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu treffende Prognoseentscheidung, ob der Lebensunterhalt des Ausländers für den Fall seiner zukünftigen Wiedereinreise auf Dauer oder zumindest auf absehbare Zeit gesichert ist, ist der Zeitpunkt des Eintritts der Erlöschensvoraussetzungen (vgl. BVerwG, U.v. 23.3.2017 – 1 C 14.16 – juris Rn. 15; BayVGH, U.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 20).
Es ist eine positive Prognose gemäß § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderlich, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Zweifel gehen dabei zu Lasten des ausreisenden Ausländers. Je unsicherer der Zeitpunkt einer möglichen Wiedereinreise ist, umso schwieriger ist es, eine positive Prognose zu stellen, es sei denn, der Betreffende verfügt über feste wiederkehrende Einkünfte, etwa in Gestalt einer Altersrente, oder über ein ausreichendes, auch im Bestand gesichertes Vermögen (BVerwG, U.v. 23.3.2017 – 1 C 14/16 – juris Rn. 15).
Der Lebensunterhalt ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann.
Eine positive Prognose bezüglich der Sicherung des Lebensunterhalts des Klägers konnte zum Zeitpunkt der Ausreise nicht gestellt werden.
Der Kläger hat zu keinem Zeitpunkt eine Erwerbsminderungsrente bezogen. Aufgrund der beschränkten Erwerbstätigkeit in den Jahren vor 2005 hätte eine derartige Rente auch nicht zu dauerhaften Sicherung seines Lebensunterhaltes ausgereicht und wird dies vorrausichtlich auch nicht nach Eintritt ins Rentenalter tun. Es war nicht zu erwarten, dass der Kläger bei einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit finanzieren können würde, da im August 2005 festgestellt wurde, dass der Kläger nicht erwerbsfähig ist. Der Bestand eines gesicherten Vermögens zur Sicherung wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Dass andere Personen im Dezember 2011 bereit gewesen wären, dauerhaft für den Lebensunterhalt des Klägers zu sorgen, ist nicht ersichtlich. Der Kläger hat zum Zeitpunkt seiner Ausreise bereits seit mehreren Jahren Leistungen nach dem SGB XII in Form der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung bezogen. Die von einem Freund monatlich gezahlten 170 EUR während des Aufenthalts des Klägers in der Türkei hätten für eine Lebensunterhaltsicherung nicht ausgereicht. Unter Berücksichtigung des Vorangegangenen lag keine positive Prognose vor, dass der Lebensunterhalt des Klägers ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert wäre.
Der Ablehnung der Privilegierung des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG steht nicht die Erwerbsunfähigkeit/Schwerbehinderung des Klägers entgegen. Der Gesetzgeber hat eine Möglichkeit von der Sicherung des Lebensunterhaltes in atypischen Fällen abzusehen – wie z.B. in § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG – nicht vorgesehen. Aufgrund des weiten Spielraums des Gesetzgebers in der Gewährung von Vergünstigungen, bewegt sich die Regelung jedoch im Rahmen des zulässigen Gestaltungsspielraums (VGH Mannheim, U.v. 9.11.2015 – 11 S 714/15, BeckRS 2016, 40012, Rn. 25). Ein Anspruch auf Behalt der Niederlassungserlaubnis ergibt sich nicht (direkt oder indirekt) aus Art. 3 GG oder Art. 18 UN-Behindertenrechtskonvention. In die in Art. 18 UN-Behindertenrechtskonvention beispielhaft aufgezählten Rechte wird nicht eingegriffen.
Die Anwendung von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG verstößt auch nicht wegen des gleichzeitigen Verlusts des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts (s.u.) gegen Unionsrecht bzw. Assoziationsrecht, insbesondere nicht gegen die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BayVGH, U.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 15 ff.).
3. Dem Kläger steht auch kein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 zu, da sein früheres Aufenthaltsrecht ebenfalls erloschen ist.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erlischt ein Aufenthaltsrecht nur dann, wenn es gemäß Art. 14 ARB 1/80 rechtmäßig aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt wurde oder wenn der Rechtsinhaber das Gebiet des aufnehmenden EU-Mitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum und ohne berechtigte Gründe verlässt (vgl. EuGH, U.v. 16.3.2000 – Ergat, Rs. C-329/97 – juris Rn. 45 ff.; EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/08 – juris Rn. 49). Ob ein türkischer Staatsangehöriger das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen und dadurch sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht verloren hat, richtet sich danach, ob er seinen Lebensmittelpunkt aus Deutschland wegverlagert hat. Je länger der Auslandsaufenthalt des Betroffenen andauert, desto eher kann von der Aufgabe seines Lebensmittelpunktes in Deutschland ausgegangen werden. Ab einem Auslandsaufenthalt von ungefähr einem Jahr müssen gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sein Lebensmittelpunkt noch im Bundesgebiet ist. Eine Dauer von mehr als zwei Jahren Auslandsaufenthalt ist geeignet, die Integration eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet grundlegend infrage zu stellen, selbst wenn dieser hier geboren wurde und seine Sozialisation erfahren hat, ohne vor der Ausreise längere Zeiträume im Ausland zugebracht zu haben (BayVGH, U.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 24, 25, m.w.N.).
Der Kläger war mehr als 5,5 Jahre in der Türkei wohnhaft, hat soweit ersichtlich Deutschland in dieser Zeit nicht besucht und hatte seinen Lebensmittelpunkt von Deutschland in die Türkei verlegt. Ein berechtigter Grund für das Verlassen des Bundesgebiets bestand nicht (s.o.).
4. Die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig. Der Kläger ist ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG), da sein Aufenthaltstitel erloschen ist. Die Ausreisepflicht ist auch vollziehbar (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Der Kläger ist im Juli 2017 ohne Visum unerlaubt eingereist (§§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 14 Abs. 1 Nr. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG).
III) Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
IV) Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.


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