Europarecht

Überstellung von Familienangehörigen im Dublin-Verfahren

Aktenzeichen  AN 14 E 18.50386

Datum:
20.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 8466
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 22, Art. 29 Abs. 1
VO (EG) Nr. 1560/2003 Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

Es besteht kein Anspruch gegen den zur Aufnahme verpflichteten Mitgliedstaat auf Überstellung von Familienangehörigen innerhalb der 6-Monats-Frist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO. Die Überstellung liegt im Verantwortungsbereich des ersuchenden Mitgliedstaates. (Rn. 21 – 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Mitteilung an die griechische Dublin-Einheit, dass der Familienangehörige der Antragsteller, …, geb. … 1987, bis zum 23. April 2018 in die Bundesrepublik Deutschland zu überstellen ist.
Die Antragsteller sind iranische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1. reiste zusammen mit ihrem Sohn, dem Antragssteller zu 2., in die Bundesrepublik Deutschland ein. Beide wurden mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. November 2016 als Flüchtlinge anerkannt. Der Ehemann der Antragstellerin zu 1. und Vater des Antragstellers zu 2., …, reiste am 18. Juli 2017 nach Griechenland, beantragte dort internationalen Schutz und Zusammenführung mit seiner Familie in Deutschland.
Die Antragsgegnerin wurde am 25. September 2017 von der griechischen Dublin-Einheit ersucht, den Antragsteller zur Familienzusammenführung zu übernehmen. Am 23. Oktober 2017 erklärte die Antragsgegnerin die Übernahme des Antragstellers gemäß Art. 9 Dublin III-Verordnung. Eine Überstellung des Antragstellers ist bislang nicht erfolgt.
Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 18. April 2018, bei Gericht per Telefax eingegangen am selben Tag, haben die Antragsteller Antrag nach § 123 VwGO gestellt.
Sie beantragen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, der griechischen Dublin-Einheit durch Liaisonbeamtin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in der Hellenischen Republik oder auf anderem Wege mitzuteilen, dass der Familienangehörige der Antragsteller, …, geb. am … 1987, bis zum 23. April 2018 (Ablauf der Überstellungsfrist) in die Bundesrepublik Deutschland zu überstellen ist.
Hilfsweise beantragen sie,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, der griechischen Dublin-Einheit im Rahmen der zwischen den griechischen und deutschen Behörden vereinbarten Abstimmung der jeweiligen Maßnahme für die einzelnen zu überstellenden Personen durch die Liaisonbeamtin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in der Hellenischen Republik oder auf anderem Wege mitzuteilen, dass der vorbezeichnete Familienangehörige der Antragsteller von den vereinbarten Regelungen zur Priorisierung bestimmter Personengruppen bei der Überstellung ausgenommen ist;
das einzige Kriterium zur Bestimmung des Überstellungstermins des vorbezeichneten Familienangehörigen somit der Fristablauf am 23. April 2018 ist;
die Antragsgegnerin wegen des subjektiven Rechts der Antragsteller und ihres Familienangehörigen davon ausgeht, dass dieser vor Ablauf des 24. April 2018 in die Bundesrepublik Deutschland überstellt wird;
die Antragsgegnerin sich für den Fall der Überschreitung der Überstellungsfrist auf den Fristablauf nicht berufen wird, sondern die Einreise des vorbezeichneten Familienangehörigen zum Zweck der Zusammenführung mit den Antragstellern auch zu einem späteren Zeitpunkt gestatten wird.
Der Bevollmächtigte der Antragsteller weist zunächst auf die aus seiner Sicht rechtswidrige griechische Verwaltungspraxis hin, wonach die Anzahl der Überstellungen von Familienangehörigen aus Griechenland nach Deutschland grundsätzlich auf eine bestimmte Anzahl beschränkt und damit erheblich verlangsamt worden sei. Hierzu existiere eine informelle Vereinbarung zwischen Griechenland und Deutschland. Danach bestimme grundsätzlich Griechenland die Auswahl der zu überstellenden Personen. Aber auch Deutschland habe Einfluss. Hierzu verweist die Bevollmächtigte der Antragsteller auf das Plenarprotokoll 18/236 des Deutschen Bundestages vom 31. Mai 2017, S. 23961, auf das Plenarprotokoll 18/242 des Deutschen Bundestages vom 28. Juni 2017, S. 24870 sowie die Antwort der Bundesregierung vom 22. August 2017 auf die schriftliche Frage der Abgeordneten … Die Tatsache, dass deutsche Behörden die zügige Überstellung bewirken könnten, bestätige zudem der Nachgang zum Beschluss des VG Wiesbaden vom 15. September 2017, in dem diese die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet habe, der griechischen Dublin-Einheit mitzuteilen, dass die Angehörigen des Antragstellers zu überstellen seien. Daraufhin sei die Überstellung umgehend erfolgt. Weiter führt der Bevollmächtigte der Antragsteller aus, dass es zwischen den zuständigen griechischen und deutschen Behörden bezüglich Überstellungen eine Verwaltungspraxis gebe, die vor der Überstellung eine weitere Mitteilung des aufnehmenden Staates vorsehe, dass eine Überstellung erfolgen könne. Eine solche Praxis sei von der Dublin III-VO nicht vorgesehen und eine solche Mitteilung sei bisher noch nicht ergangen. Dahinstehen könne, ob die informelle Vereinbarung und die beschriebene Verwaltungspraxis weiterhin bestehe oder inzwischen aufgegeben wurde, wie es die Antwort der Bundesregierung vom 25. September 2017 auf die schriftliche Frage der Abgeordneten … nahezulegen scheine.
Nach Auffassung der Antragsteller besteht ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Überstellung ihres Familienangehörigen aus Art. 29 Abs. 1, 22 Abs. 1 bzw. Abs. 7, 18 Abs. 1 lit. a Dublin III-VO i.V.m. Art. 8 Abs. 1 Durchführungsverordnung zur Dublin III-VO. Diese Vorschriften verliehen ein subjektives Recht auf fristgemäße Überstellung ihres Familienangehörigen. Sie entfalteten drittschützende Wirkung, weil sie Familienangehörige hinreichend von der Allgemeinheit unterscheiden und zumindest auch als Dritte schützen. Dafür spreche auch Erwägungsgrund 14 der Dublin III-VO, der Familieneinheit als vorrangige Erwägung bei Anwendung der Verordnung anmahne. Auch Erwägungsgrund 15 sei hier relevant, der feststellt, dass die Bearbeitung der Asylanträge einer Familie durch denselben Mitgliedstaat zu kohärenteren Entscheidungen, einer sorgfältigen Prüfung und dazu führen würde, dass die Familien nicht getrennt werden. Die Familieneinheit habe höchsten Stellenwert und sei damit wichtiger als der Grundsatz der möglichst schnellen Zuordnung von Zuständigkeiten. Vorrangige Erwägung sollte auch nach Erwägungsgrund 13 das Wohl des Kindes sein. Das komme auch in Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO zum Ausdruck. Neben diesen humanitären Zwecken verfolge die Verordnung nach Erwägungsgrund 5 auch den Zweck einer raschen Verfahrensdurchführung. Könnten sich nun Antragsteller auch auf die Fristen der Dublin III-VO berufen, so würde dies zu deren effektiver Durchsetzung beitragen. Dabei verweist die Bevollmächtigte der Antragsteller auf die EuGH-Rechtsprechung, wonach die Vorschriften, die Überstellungsfristen betreffen, subjektive Rechte an den von den Vorschriften geschützten Personenkreis vermittelten.
Die Tatsache, dass die griechischen Behörden eine Überstellung in vier Monaten in Aussicht gestellt haben, stehe einem subjektiven Recht nicht entgegen. Dabei handele es sich um keine rechtsverbindliche Zusicherung. Auch eine Zusicherung der Antragsgegnerin, sich im Verhältnis zu Griechenland nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist zu berufen, sei nicht gesichert.
Die informelle Vereinbarung zur Kontingentierung der zu übernehmenden Personen entbehre jeder Rechtsgrundlage. Insbesondere auf Art. 36 Dublin III-VO könne eine solche nicht gestützt werden.
Die Antragsgegnerin hat keinen Antrag gestellt.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf eine streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint.
Es bestehen bereits Zweifel an der Zulässigkeit der Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz.
Ihr eigentliches Rechtsschutzziel, nämlich die Überstellung des Ehemanns und Vaters nach Deutschland, können die Antragsteller nicht erreichen. Die Durchführung der Überstellung fällt in den Verantwortungsbereich Griechenlands, vgl. VG Ansbach, B.v. 09.02.2018 – AN 14 E 17.51345 – juris. Damit bestehen bereits erhebliche Bedenken hinsichtlich des Vorliegens eines Rechtsschutzbedürfnisses sowohl für den Hauptantrag als auch für die Hilfsanträge.
Jedenfalls ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO unbegründet.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der zugrunde liegende materiell-rechtliche Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung glaubhaft gemacht ist (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Der Anordnungsgrund ist mit der besonderen Dringlichkeit angesichts des drohenden Ablaufs der Überstellungsfrist am 23. April 2018 glaubhaft gemacht.
Die Antragsteller haben dagegen einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Ein Anspruch auf Überstellung von Familienangehörigen innerhalb der 6-Monats-Frist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ergibt sich weder aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO noch aus Art. 22 Abs. 1 und 7, 29 Abs. 1 Dublin III-VO i.V.m. Art. 8 Abs. 1 Dublin III-Durchführungsverordnung noch aus einer anderen Rechtsgrundlage (siehe auch: VG Ansbach, B.v. 09.02.2018 – AN 14 E 17.51345 – juris sowie VG Würzburg, B.v. 02.11.2017 – W 2 E 17.50674 – juris; a.A. VG Düsseldorf, B.v. 21.02.2018 – 22 L 442/18.A – juris; VG Berlin, B.v. 23.11.2017 – 23 L 836.17 A – juris; VG Halle, B.v.14.11.2017 – 5 B 858/17 – juris; VG Düsseldorf, B.v.24.10.2017 – 12 L 4933/17.A – juris; VG Wiesbaden, B.v.15.09.2017 – 6 L 4438/17.WI.A – juris).
Aus Art. 22 Abs. 1 und 7 Dublin III-VO ergibt sich lediglich, dass der zur Aufnahme verpflichtete Mitgliedstaat, die Person aufnehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft treffen muss. Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO fordert zwar eine Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, regelt aber gleichzeitig, dass die Überstellung nach den innerstaatlichen Vorschriften des ersuchenden Mitgliedstaat – hier also Griechenlands – zu erfolgen hat. Die Überstellung liegt damit eindeutig im Verantwortungsbereich des ersuchenden Mitgliedstaates. Nach dieser Wertung ist es am ersuchenden Mitgliedstaat, die Initiative zur Überstellung zu ergreifen. Der ersuchte Mitgliedstaat ist in diesem Fall lediglich verpflichtet, an der Überstellung mitzuwirken. Die im Hauptantrag geforderte Verpflichtung zur Mitteilung der Antragsgegnerin an Griechenland würde diese Abgrenzung der Verantwortungsbereiche umkehren.
Diese eindeutige Auslegung der Verantwortungssphären lässt sich weder unter Hinweis auf die zur Auslegung heranzuziehenden Erwägungsgründe der Dublin III-VO noch im Hinblick auf die Durchführungsverordnung ins Gegenteil verkehren.
Die vom Verwaltungsgericht Wiesbaden herangezogene Rechtsprechung des EuGH – auf diese verweisen auch die Antragsteller – zu den subjektiven Rechten, die die Fristen der Dublin III-VO den Antragstellern vermitteln, betrifft gerade den umgekehrten Fall, dass aus dem fristbedingten Zuständigkeitsübergang ein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens gegenüber dem die Frist versäumenden Mitgliedstaat hergeleitet wird. Ein Anspruch auf fristgerechte Überstellung ist der Rechtsprechung des EuGH weder ausdrücklich, noch von ihrem Sinngehalt her zu entnehmen.
Die in Erwägungsgrund 13 bis 15 niedergelegten Intentionen des Verordnungsgebers führen zu keinem anderen Ergebnis. Den Mitgliedstaaten wird hierdurch aufgetragen, dass Kindeswohl, Achtung des Familienlebens und Familieneinheit vorrangige Erwägungen der Verordnung sein sollten. Dass diesen Erwägungen im Konfliktfall aber stets über den Wortlaut der Verordnung hinaus der Vorrang einzuräumen ist, ist hierdurch aber nicht normiert, zumal der Verordnungsgeber für solche Konfliktfälle die Regelung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehen hat. Ein Selbsteintritt eines Mitgliedstaats aus humanitären, insbesondere familiären Gründen ist demnach auch nach Ablauf der Überstellungsfrist möglich. Ein solcher ist ausdrücklich auch möglich zur Zusammenführung von Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung.
Die Antragsgegnerin hat damit alles nach der Verantwortungsabgrenzung der Dublin III-VO von ihrer Seite Erforderliche zur Überstellung getan. Sie hat die Übernahme erklärt und ist aufnahme- und kooperationsbereit.
Damit ist auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung mangels hinreichender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Die Kostentragung ergibt sich aus § 154 VwGO.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83 b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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