Europarecht

Überstellungsentscheidung, Dublin-III-VO, Überstellungsfrist, Verwaltungsgerichte, Aussetzungsentscheidung, Abschiebungsverbot, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Maßgeblicher Zeitpunkt, Dublin-Überstellung, Prozeßbevollmächtigter, Entscheidung durch Gerichtsbescheid, Rechtsbehelfsverfahren, Widerruf, Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt, Prozeßkostenhilfeverfahren, Abschiebungsanordnung, Aussetzung der Vollziehung, Anfechtungsklage, Rechtsschutzbedürfnis, Kostenentscheidung

Aktenzeichen  M 11 K 20.50050

Datum:
8.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36208
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a
VwGO § 80 Abs. 4
Dublin III-VO Art. 27 Abs. 4
Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

Tenor

II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. Januar 2020 wird aufgehoben.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
IV. Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Über die Klage kann gemäß § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Streitsache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beklagte mit Schreiben vom 31. August 2020 auf mündliche Verhandlung verzichtet. Seitens des Klägers erfolgte keine Äußerung.
2. Die Klage ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 AsylG) zulässig und auch begründet.
2.1 Gegen den streitgegenständlichen Dublin-Bescheid ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32/14 – juris). Auch ein etwaiger Ablauf der Überstellungsfrist führt nicht dazu, dass der Bescheid seine Regelungsfunktion und damit seine rechtliche Wirkung verlieren und in der Folge das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage entfallen würde (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris). Soweit seitens der Rechtsantragsstelle darüber hinaus ein Verpflichtungsantrag des anwaltlich nicht vertretenen Klägers aufgenommen wurde, ist dieser dahingehend auszulegen, dass es sich um einen bloßen Hilfsantrag handelt (§ 88 VwGO).
2.2 Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2.2.1 Rechtsgrundlage der Ziff. 1 des angefochtenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) des Asylgesetzes (AsylG). Hiernach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO) für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Diese Voraussetzungen liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) vor, da die Beklagte aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers geworden ist.
Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung des Asylantragstellers nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die Frist höchstens auf achtzehn Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Fristbeginn ist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO die Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat.
Fristauslösendes Ereignis für die Überstellungfrist war vorliegend zunächst die am 23. Dezember 2019 erklärte Zustimmung der italienischen Behörden. Nachdem der Kläger am 27. Januar 2020 fristgerecht einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hatte, begann die 6-monatige Überstellungfrist mit der (letzten) Zustellung des ablehnenden Eilbeschlusses vom 19. Februar 2020 am 26. Februar 2020 erneut zu laufen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16/18; U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – jew. juris).
Im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ist die Überstellungsfrist damit abgelaufen. Entgegen der Auffassung der Beklagten wurde durch die auf § 80 Abs. 4 VwGO i.V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gestützte behördliche Aussetzungsentscheidung keine Unterbrechung des Fristlaufs bewirkt.
Zwar haben die Behörden nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO grundsätzlich die Befugnis, die Vollziehung auszusetzen. Regelungen des Asylgesetzes schließen eine behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 23). Die im nationalen Recht vorgesehene Aussetzungsentscheidung (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) kann jedoch vorliegend nicht die Aussetzung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin III-VO bewirken.
Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Wortlaut, Systematik und Regelungszweck der Dublin III-VO setzen indes voraus, dass diese Aussetzung zum Zwecke einer Prüfung der Überstellungsentscheidung (in Form eines Rechtsbehelfsverfahrens oder einer behördlichen Überprüfung) angeordnet wird. Eine von der Durchführung eines solchen Prüfungsverfahrens unabhängige Aussetzung der Überstellungsentscheidung aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit der Überstellung sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht vor. Erfolgt die Aussetzungsentscheidung allein aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit – wie sie sich infolge der als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie unionsweit erlassenen Einreisebeschränkungen ergibt -, ohne dass dies der rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung dient, bewegt sich die Aussetzungsentscheidung nicht in dem von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmen (vgl. ausführlich OVG Schleswig-Holstein, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris).
Die vorliegend ohne konkreten Verfahrensbezug, „flächendeckend“ und unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs erfolgte Aussetzungsentscheidung des Bundesamts diente nicht dazu, dem Kläger effektiven Rechtsschutz zu gewähren, indem eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung etwa bis zum Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens ermöglich worden wäre. Vielmehr diente die Aussetzung (nur) dazu, auf außerhalb des konkreten Verfahrens liegende Entwicklungen (das Auftreten einer Pandemie und damit zusammenhängende rechtliche und/ oder tatsächlicher Überstellungshindernisse) zu reagieren (ebenso: VG München, U.v. 7.7.2020 – M 2 K 19.51274; VG Aachen, U.v. 10.6.2020 – 9 K 2584/19.A; VG Schleswig Holstein, U.v. 15.5.2020 – 10 A 596/19, VG Münster, B.v. 22.5.2020 – 8 L 367/20.A, VG Düsseldorf, B.v. 18.5.2020 – 15 L 776/20.A – jew. juris m.w.N.).
2.2.2 Angesichts der gebotenen Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung können auch die übrigen Regelungen des Bescheids keinen Bestand haben. Die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst der Abschiebungsanordnung sind jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21).
2.3 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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