Europarecht

Unzulässigkeit eines Asylantrages einer in Rumänien internationalen Schutz genießenden Asylbewerberfamilie

Aktenzeichen  6 E 1148/21 We

Datum:
29.10.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Weimar 6. Kammer
Dokumenttyp:
Beschluss
Normen:
§ 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992
Art 4 EUGrdRCh
Art 33 EURL 32/2013
Art 3 MRK
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Die Asylanträge der Mitglieder einer Familie – darunter zwei Kinder -, denen zuvor in Rumänien internationaler Schutz zuerkannt wurde, dürfen gegenwärtig nicht gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Denn nach aktuellen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass solchen Personen – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – die ernsthafte Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK droht.

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 16. August 2021, Az. 6 K 1147/21 We, gegen die in dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Juli 2021 unter Ziff. 3 verfügte Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des – gerichtskostenfreien – Verfahrens zu tragen.
3. Den Antragstellern wird zur Durchführung des Verfahrens Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsbestimmung bewilligt. Antragsgemäß wird Rechtsanwalt Tolan beigeordnet. Die Rechtsanwaltskosten sind bis zu den vergleichbaren Kosten eines im Bezirk des Gerichts ansässigen Rechtsanwaltes erstattungsfähig (§§ 166 VwGO, 121 Abs. 3 ZPO).

Gründe

Der sinngemäß gestellte Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 16. August 2021, Az. 6 K 1147/21 We, gegen die in dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Juli 2021 unter Ziff. 3 verfügte Abschiebungsandrohung anzuordnen,
über den gem. § 76 Abs. 4 S. 1 AsylG der zuständige Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet,
hat Erfolg.
I.
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Ziff. 3 des o. g. Bescheids ist zulässig, insbesondere nach den §§ 36 Abs. 3 S. 1, 75 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 VwGO statthaft und auch fristgerecht erhoben.
2. Der Antrag ist auch in der Sache begründet.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Juli 2021 stellt sich bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 HS. 2 AsylG) hinsichtlich der hier angegriffenen Ziff. 3 als rechtswidrig dar und verletzt die Antragsteller damit in ihren Rechten. Das private Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet bleiben zu dürfen, überwiegt daher vorliegend das öffentliche Vollzugsinteresse.
Den Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylG bildet die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Weil diese Regelung und die damit verbundene Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) die Folge aus der qualifizierten Asylablehnung sind, ist Anknüpfungspunkt der gerichtlichen Überlegungen zur Frage der Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs die Prüfung, ob die für eine Aussetzung der Abschiebung erforderlichen ernstlichen Zweifel bezogen auf die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen. Nach § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. In der Konsequenz ist die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme nur dann auszusetzen, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (vgl. zum diesbezüglichen Prüfungsmaßstab etwa BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93, Rn. 98 –, zit. nach juris). Dabei muss das Verwaltungsgericht bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes diese Prüfung auch auf das Merkmal der Offensichtlichkeit erstrecken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 153/02 – Inf-AuslR 2003, 244).
3. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe überwiegt im hiesigen Fall das private Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Interesse am Vollzug der Ziff. 3 des angefochtenen Bescheids. Denn das Gericht ist der Auffassung, dass sich die streitgegenständliche Regelung in Ziff. 3 des o. g. Bescheids des Bundesamtes bei der hier allein gebotenen summarischen Prüfung zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 HS. 2 AsylG) als rechtswidrig darstellt. Denn es bestehen gegenwärtig – und auf absehbare Zeit – systemische Mängel der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende und Schutzberechtigte in Rumänien, die regelmäßig zu der konkreten Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK führen. Eine Rückführung der hiesigen Antragsteller ist daher nicht zulässig.
a) Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist vorliegend § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG. Danach erlässt das Bundesamt nach den §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthaltsG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird (Nr. 1), dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (Nr. 2), dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird (Nr. 2a), die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthaltsG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist ( Nr. 3) und der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt (Nr. 4).
Diese Voraussetzungen sind im hiesigen Fall nicht erfüllt. Insbesondere hält die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes einer rechtlichen Prüfung vorliegend nicht Stand.
Unzulässig ist ein Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i. S. d. § 1 Abs.1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Korrespondierend hierzu, erlaubt Art. 33 Abs. 2 lit. a RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten, einen Antrag auf internationalen Schutz u. a. dann als unzulässig zu betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. Bei der in jener Vorschrift vorgesehenen Befugnis handelt es sich um eine Ausprägung des sog. „Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens“: Dem gemeinsamen europäischen Asylsystem liegt die Vermutung zu Grunde, dass jeder Asylbewerber in jedem Mitgliedsstaat gemäß den Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention behandelt wird. Daher gilt die Vermutung, dass Asylbewerbern in jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union eine Behandlung entsprechend den Erfordernissen der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – („Jawo“) C-163/17, Rn. 80 –, zit. nach juris; Urteil vom 19. März 2019 – („Ibrahim u. a.“) C-297/17 u. a. Rn. 84,– juris; Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10, Rn. 79-84 –, zit. nach juris). Diese dem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, Rn. 181-185 –, zit. nach juris) zu Grunde liegende Vermutung ist nur dann als widerlegt anzusehen, wenn es in Mitgliedsstaaten bekannt sein muss, also ernsthaft zu befürchten steht, dass dem Asylverfahren einschließlich seiner Aufnahmebedingungen in einem anderen Mitgliedsstaat grundlegende, systemische Mängel anhaften und diese die Gefahr für dorthin überstellte Asylbewerber begründen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden.
Dabei sind an die Feststellung solcher systemischer Mängel hohe Anforderungen zu stellen. Zu bejahen sind sie etwa nicht schon bei einzelnen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedsstaaten, sondern nur dann, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten steht, dem Asylbewerber werde im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, zit. nach juris). Die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem zu überstellenden Mitgliedstaat kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte allerdings nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 –, ZAR 2013, 336, 70 f.). In seiner Entscheidung legt der EGMR dar, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthält, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Daher können einer Überstellung nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegenstehen.
Unter Zugrundelegung jener Maßstäbe ergeben sich für das erkennende Gericht anhand des vorliegenden Erkenntnismaterials sowie unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 –, zit. nach juris) im gegenwärtigen Zeitpunkt nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung vorliegend hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass den Antragstellern bei ihrer Rücküberstellung nach Rumänien auf Grund dort vorhandener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber eine menschenunwürdige oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK drohen würde. Die grundsätzliche Vermutung, dass in Rumänien die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechtecharta sichergestellt ist, wird insofern widerlegt.
Dabei geht das Gericht von folgenden tatsächlichen Umständen aus:
Grundsätzlich haben anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte in Rumänien Zugang zu Bildung, Wohnungen, Arbeit, Krankenversorgung und Sozialleistungen. Die Möglichkeit des faktischen Zugangs ist aber nicht überall im Land gleich gegeben. Es werden auch Integrationsprogramme, vor allem mit Fokus auf die kulturelle Orientierung und den Spracherwerb, angeboten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 14. Juni 2019, S. 12 ff.). Antragsteller mit Flüchtlingsstatus bekommen zunächst eine dreijährige Aufenthaltsbewilligung, subsidiär Schutzberechtigte eine zweijährige, die jeweils problemlos verlängert werden können. Ab einem rechtmäßigen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren in Rumänien kann auch eine permanente Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn weitere Voraussetzungen wie z. B. Sprachkenntnisse, Krankenversicherung und Unterkunft, erfüllt sind (BFA, a. a. O; AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S. 148, 150 ff.).
Anerkannte Schutzberechtigte können nach ihrer Anerkennung, wenn sie über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen und an einem Integrationsprogramm teilnehmen, jedenfalls für sechs weitere Monate in den regionalen Unterbringungszentren verbleiben. Ferner ist in Ausnahmefällen eine Verlängerung um weitere sechs Monate möglich. Zwar müssen sie hierfür grundsätzlich – vulnerable Personen ausgenommen – eine Miete von 1,40 € pro Tag im Winter und 1,20 € pro Tag im Sommer entrichten. Doch gibt es Berichte, wonach für die Unterbringungszentren in Timișoara, Şomcuta Mare, Rădăuţi, Galaţi und Giurgiu in den ersten drei Monaten nach der Anerkennung keine Miete gefordert wird. Darüber hinaus scheint die NGO Jesuit Refugee Service Romania über das Projekt „A New House“ in allen Regionalzentren zumindest teilweise die dann noch anfallenden Mietkosten zu übernehmen (AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S. 162 ff.). Wie rumänische Staatsbürger, haben die anerkannten Schutzberechtigten außerhalb der Unterbringungszentren Zugang zum Sozialwohnungsprogramm. Kann keine Sozialwohnung zur Verfügung gestellt werden, gewährt der Staat für maximal ein Jahr einen Zuschuss von bis zu 50 % für die Anmietung einer sonstigen Wohnung (AIDA a. a. O., S. 164).
Was Sozialleistungen anbelangt, wird den an einem Integrationsprogramm teilnehmenden international Schutzberechtigten eine monatliche Leistung von ca. 110 € innerhalb eines Jahres sowie ein Sprachkurs zur Verfügung gestellt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 14. Juni 2019, S. 13).
Es gibt einen grundsätzlich einschränkungslosen Zugang zum Arbeitsmarkt für anerkannte Schutzberechtigte. Außerdem erfolgt mit der Teilnahme am Integrationsprogramm automatisch eine Registrierung letzterer als Arbeitssuchende bei der rumänischen Arbeitsagentur. Gleichwohl lassen sich zum Teil praktische Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche konstatieren. So fehlt es vielen international Schutzberechtigten an nachweisbaren Schul-, Berufs- oder Studienabschlüssen, weshalb sie von bestimmten Positionen ausgeschlossen sind. Auch wird vor allem die rumänische Sprache nicht ausreichend beherrscht (AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S.165 ff.).
Die gesundheitliche Versorgung von anerkannten Schutzberechtigten ist prinzipiell gewährleistet. Der Anspruch auf eine Krankenversicherung besteht zu den gleichen Bedingungen wie für rumänische Staatsbürger. Psychische Krankheiten, darunter auch Traumata, werden behandelt. Bei der Überwindung von dennoch auftretenden praktischen Schwierigkeiten hinsichtlich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung sind in erster Linie NGOs behilflich. Die Kosten, welche erwerbslose Anerkannte für die staatliche Krankenversicherung aufbringen müssen, betragen 44 € pro Monat. Es gibt auch Berichte, wonach eine jährliche Versicherung für einen Betrag von 265 € zu haben sein soll. Teilweise können die Kosten für die Krankenversicherung von den NGOs übernommen werden (AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S. 175 f.).
Zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie lässt sich für Rumänien Folgendes festhalten: In Rumänien wurden bislang 1.602.830 COVID-19 Infektionen erfasst, bei 46.015 Corona-bedingten Todesfällen (Stand: 28. Oktober 2021), was einer Infektionsrate von 8,38 % sowie eine Todes- bzw. Letalitätsrate von 2,87 % entspricht. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen hatte sich seit einem Hoch Ende März 2021 deutlich reduziert und lag dann zeitweise bei unter 100 Fällen pro Tag. Derzeit ist wieder ein rasanter Anstieg der Infektionen zu verzeichnen mit 14.950 Fällen pro Tag. Im Durchschnitt der letzten 7 Tage wurden 14.201 Neuinfektionen pro Tag erfasst. Innerhalb der letzten Woche wurden in Rumänien 519,7 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gemeldet (sog. „7-Tage-Inzidenz“, https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/rum%C3%A4nien/, Stand: 28. Oktober 2021). Die Kurve der verabreichten Impfungen war bislang stetig ansteigend. Etwa 30,3 % der Bevölkerung sind mittlerweile vollständig geimpft (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1203308/umfrage/impfstoffabdeckung-der-bevoelkerung-gegen-das-coronavirus-nach-laendern/, Stand: 28. Oktober 2021).
Bis zum 8. November 2021 gilt in Rumänien der Alarmzustand, wobei eine weitere Verlängerung besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Lage nicht ausgeschlossen ist. Die Regierung hat stufenweise Maßnahmen je nach Höhe der Inzidenz in den betroffenen Ortschaften beschlossen. Inländische Reisebeschränkungen gibt es derzeit jedoch nicht. Hotels, Restaurants und Kultureinrichtungen sind nur für Personen zugänglich, die ein digitales Impf- oder Genesenenzertifikat vorlegen können. Wegen der momentan sehr hohen Infektionszahlen gelten landesweit Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Ab einer Inzidenz von 6 (berechnet auf 1.000 Einwohner/14 Tage) sind Ausgangssperren angeordnet, welche aber nicht für vollständig geimpfte Personen gelten. Rumänien ist als Hochrisikogebiet eingestuft. Vor nicht notwendigen, touristischen Reisen nach Rumänien wird gewarnt (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/rumaenien-node/rumaeniensicherheit/210822#content_0, Stand: 28. Oktober 2021).
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie spiegeln sich in einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2020 von 3,9 % wieder. Für 2021 jedoch wird ein Wachstum von 5,1 % erwartet. Zuletzt ließ sich eine allmähliche Erholung der rumänischen Wirtschaft von den Auswirkungen der Corona-Pandemie ausmachen. Allerdings bremsen die Sicherheitsmaßnahmen immer noch die Industrieproduktion. Zur Kompensation unterstützt der rumänische Staat die Wirtschaft mit Zuschüssen, Kredithilfen und Kurzarbeitergeld (vgl.VG Ansbach, Beschluss vom 23. Juni 2021 – 17 S 21.50064, BeckRS 2021, 16832, Rn. 38).
Vor diesem Hintergrund nimmt ein Großteil der Instanzrechtsprechung an, dass die derzeitigen Lebensverhältnisse in Rumänien mit Blick auf den in diesem Zusammenhang geltenden Mindestmaßstab „Brot, Bett und Seife“ (vgl. hierzu bspw. nur VGH Mannheim, Beschluss vom 27. Mai 2019 – A 4 S 1329/19, Rn. 5 –, zit. nach juris) alleinstehenden, arbeitsfähigen jungen Männern zugemutet und diese rücküberstellt werden können (vgl. etwa VG Ansbach, Beschluss vom 23. Juni 2021 – 17 S 21.50064, BeckRS 2021, 16832, Rn. 42; VG München, Beschluss vom 27. November 2020 – M 1 S 20.50531 –, zit. nach juris; VG Würzburg, Beschluss vom 7. Oktober 2019 – W 8 S 19.50715 –, zit. Nach juris). Soweit aktuelle Entscheidungen, etwa der Verwaltungsgerichte Kassel (VG Kassel, Urteil vom 31. Mai 2021 – 1 K 973/19.KS.A, 7759687 –, zit. nach juris), Cottbus (VG Cottbus, Urteil vom 1. April 2021 – 5 K 1582/17.A –, zit. nach juris) und Düsseldorf (VG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Januar 2021 – 12 L 3/21.A –, zit. nach juris), in den Blick genommen werden, gilt für diese nichts anderes. Keine jener Entscheidungen betrifft schutzbedürftige Personen oder einen Familienverband mit mehreren vulnerablen Personen (vgl. diesbezüglich VG München, a. a. O., Rn. 25: dort werden jene explizit ausgenommen; VG Ansbach, Beschluss vom 23. Juni 2021 – 17 S 21.50064, BeckRS 2021, 16832, Rn. 42: Begrenzung auf „anerkannte, arbeitsfähige, alleinlebende, im Wesentlichen gesunde Erwachsene“).
Genau um solche geht es aber hier. Die Antragsteller bilden einen Familienverband bestehend aus einem einjährigen Kind sowie einer (hoch-)schwangeren Mutter. Angesichts jener Konstellation bestehen nach Ansicht der Kammer ernste Zweifel daran, dass es den Antragstellern als Schutzberechtigten unter den gegebenen schwierigen Bedingungen gelingen wird, durch eine hohe Eigeninitiative – wie dies von jungen alleinstehenden Männern erwartet wird – selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt zu sorgen (vgl. explizit VG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Juni 2018 – 22 L 5230/17.A, Rn. 52 –, zit. nach juris; VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 64 –, zit. nach juris). Die Geburt des neuen Kindes steht unmittelbar bevor. Kleinkind und Neugeborenes bedürfen einer intensiven Betreuung durch ihre Eltern. Darüber hinaus wird auch die Antragstellerin zu 2. – vor allem in den ersten Wochen – nach der Entbindung zusätzliche Unterstützung benötigen. Insofern ist nicht ersichtlich, wie es dem Antragsteller zu 1. oder seiner Frau möglich sein soll, sich den schwierigen Bedingungen in Rumänien zu stellen und in umfassender Eigeninitiative für Unterbringung sowie Lebensunterhalt zu sorgen.
Ferner gilt es an dieser Stelle zu beachten, dass die besonderen staatlichen Leistungen für anerkannte Flüchtlinge schon aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr zur Verfügung stehen und Rückkehrer deshalb auf die allgemeinen staatlichen Hilfen angewiesen sind. Auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung können anerkannte Schutzberechtigte dabei jedoch nicht zurückgreifen. Der Bezug solcher setzt nämlich voraus, dass in den letzten 24 Monaten vor der Inanspruchnahme mindestens 12 Monate Beiträge bezahlt worden sind (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, S. 41 f.). Die Sozialhilfe beträgt für eine Person höchstens 142 Lei im Monat (ca. 32 Euro).
Bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen lässt sich indes eine erhebliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis feststellen. So unterscheidet sich der tatsächliche Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Unterkunft, Sicherstellung von Ausbildung und Sozialhilfe je nach Landesteil und hängt ferner vom Grad des Bewusstseins verschiedener öffentlicher und privater Akteure, welche die Verantwortung für die Sicherstellung dieses Zugangs tragen, ab. Es gibt keine Gemeinde, die zielgerichtete Unterstützungsprogramme oder Integrations- und Inklusionsprogramme für Flüchtlinge anbietet. Zwar besteht bspw. theoretisch ein Anspruch auf Unterbringung in Sozialwohnungen. Doch hat in der Praxis kaum jemand auf diese Weise eine Unterkunft erhalten. Der tatsächliche Zugang zu einer Ausbildung ist ebenfalls schwierig. Schon der Schulbesuch für Kinder wirft oft Probleme auf, weil nicht wenige Schulen die Aufnahme von Kindern Schutzsuchender verweigern. Auch Diskriminierungen durch Lehrer und Mitschüler kommen häufig vor. In Städten wie Bukarest und Timisoara kam es sogar zur zeitweiligen Weigerung von Schulen, Flüchtlinge einzuschreiben. Schließlich stößt auch der eigentlich rechtlich garantierte Zugang zum Arbeitsmarkt in der Praxis wegen des Mangels an Arbeitsplätzen, niedrigen Löhnen, Sprachbarrieren und Problemen bei der Anerkennung ausländischer Universitäts- oder Berufsabschlüsse auf erhebliche Schwierigkeiten mit der Folge von Arbeitslosigkeit oder irregulären Arbeitsverhältnissen. In der Konsequenz ist es für Schutzberechtigte nicht einfach, überhaupt einen legalen Arbeitsvertrag zu erhalten, wobei steuerliche Erwägungen teilweise ebenso eine Rolle spielen wie der Widerwillen von Arbeitgebern, Flüchtlinge anzustellen. Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang zur öffentlichen Krankenversorgung, welcher oft mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden und regional sehr unterschiedlich ausgestaltet ist (vgl. zum Ganzen ACCORD, Anfragebeantwortung Rumänien vom 16. März 2020; AIDA, Country Report: Romania, Update 2020, S. 175 f.; VG Köln, Beschluss vom 30. November 2020 – 20 L 1980/20.A, BeckRS 2020, 38111, Rn. 5; VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 56-62 –, zit. nach juris).
Nach wie vor gilt, dass Informationen zur Frage, in welchem Umfang es Schutzberechtigten in der Vergangenheit gelungen ist, sich in Rumänien eine Lebensgrundlage aufzubauen, nicht vorliegen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 65 –, zit. nach juris).
Doch selbst unabhängig vom Problem des effektiven Zugangs zu allgemeinen staatlichen Hilfen genügen diese alleine objektiv nicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, was besonders für eine mehrköpfige Familie gelten muss (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, S. 33 ff.; VG Köln, Beschluss vom 30. November 2020 – 20 L 1980/20.A, BeckRS 2020, 38111, Rn. 5; VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 64 –, zit. nach juris). Deshalb sind Schutzberechtigte letztlich darauf angewiesen, durch eigene Erwerbstätigkeit für ihren Unterhalt zu sorgen. Dabei ist es zwingend notwendig, einen legalen Arbeitsplatz zu finden, um Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erlangen. Schon vor den o. g. negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie war die Unterhaltssicherung durch eigene legale Erwerbstätigkeit in Rumänien als ärmstem Land der EU eine enorme Herausforderung. In Anbetracht des momentan wieder stark wütenden Infektionsgeschehens erscheint dies praktisch unmöglich, zumal es im hiesigen Fall – dies ist an jener Stelle nochmals zu betonen – nicht nur um die Existenz des Antragstellers zu 1., sondern auch der übrigen Familienmitglieder geht (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, S. 34).
Vor dem geschilderten Hintergrund lässt sich auch aus dem Umstand, dass der Antragsteller zu 1. seinen eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise aus Rumänien dort über einen kurzen Zeitraum einer entlohnten Beschäftigung nachging, nicht mehr schlussfolgern, dass es ihm im Falle einer Rückkehr erneut – und dazu noch in der gebotenen Kürze der Zeit – gelänge, eine entsprechende Erwerbstätigkeit zu finden, um sowohl die Unterbringung als auch den Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen. Sowohl der Antragsteller zu 1. als auch die Antragstellerin zu 2. werden wegen der beschriebenen familiären Situation daran gehindert sein, sich den schwierigen Lebensbedingungen in Rumänien zu stellen.
Sofern die Beklagte – auch in anderen, vor dem hiesigen Gericht geführten Verfahren – den Standpunkt vertritt, die vor allem vom Verwaltungsgericht Aachen in der oben zitierten Entscheidung dargelegten Umstände (VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A –, zit. nach juris) würden nach aktuellen Erkenntnissen nicht mehr vorliegen, vermag dies nicht zu überzeugen. Erkenntnisquellen oder weitergehenden entsprechenden Vortrag, um dies zu belegen, führte sie bislang jedenfalls nicht an. Der bloße Verweis auf die Gründe des ebenfalls bereits genannten Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel (VG Kassel, Urteil vom 31. Mai 2021 – 1 K 973/19.KS.A, 7759687 –, zit. nach juris) reicht hingegen nicht aus. Denn diesbezüglich gelten die obigen Darlegungen: Einerseits betrifft die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Kassel einen jungen, alleinstehenden Mann aus Eritrea (VG Kassel, a. a. O., S. 2). Andererseits teilt auch das Gericht in seiner Entscheidung keine anderen Erkenntnisquellen mit, sondern beruft sich vielmehr auf andere jüngst ergangene Rechtsprechung, die wiederum ersichtlich ebenfalls nur junge Männer und gerade keine vulnerablen Personen zum Verfahrensgegenstand hat (VG Kassel, a. a. O., S. 13). Auch verfängt der Einwand des Verwaltungsgerichts Kassel nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen sei während der Pandemie verkündet worden (VG Kassel, a. a. O., S. 14). Diese hält nämlich auch gegenwärtig noch an. Schließlich zeigen die bisherigen Erwägungen, dass es bei der Frage, ob vulnerable Personen – wie sie im hiesigen Fall betroffen sind – sich den schwierigen Bedingungen in Rumänien ebenfalls stellen können, in erster Linie auf die tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen vor Ort ankommt. Diese wurden und werden zwar von der Corona-Pandemie mitbeeinflusst, sind aber nicht allein auf jene zurückzuführen.
In der Gesamtschau der tatsächlichen Umstände und insbesondere unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Antragsteller ist es zur vollen Überzeugung des Gerichts i. S. d. § 108 VwGO im hiesigen Fall beachtlich wahrscheinlich, dass die noch drei- und demnächst vierköpfige Familie in eine wirtschaftlich und sozial aussichtlose Lage geraten wird. Nach alledem ist die Rückkehr nach Rumänien für die Familie damit nicht zumutbar. Denn selbst die mit einer kurzfristigen Obdachlosigkeit für einen solchen Familienverband verbundenen physischen und gerade für die Kinder auch psychischen gesundheitlichen Nachteile bergen die Gefahr einer existenziellen Notlage (vgl. in diesem Sinne bereits VG Magdeburg, Urteil vom 14. Oktober 2019 – 8 A 44/19, Rn. 39 –, zit. nach juris: dort zu Bulgarien; VG Meiningen, Urteil vom 2. November 2021 – 2 K 793/20 Me –, S. 10; zuletzt auch VG Meiningen, Beschluss vom 18. August 2021 – 2 E 947/21 Me –, S. 12).
3. Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war aus den vorstehenden Gründen nach den §§ 166 VwGO, 114 ZPO ebenfalls stattzugeben.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b Abs. 1 AsylG).
Dieser Beschluss ist gem. § 80 AsylG unanfechtbar.


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