Europarecht

Verlust des Freizügigkeitsrechts eines Unionsbürgers nach strafgerichtlicher Verurteilung

Aktenzeichen  AN 5 K 19.02522

Datum:
28.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 10437
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizüG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4, Abs. 5
StGB § 64

 

Leitsatz

1. Allein aus dem langen Aufenthalt im Bundesgebiet kann jedenfalls nicht auf eine Kontinuität der durch eine längere Strafhaft unterbrochenen Integrationsbande geschlossen werden. (Rn. 25 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr jedenfalls nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie beziehungsweise eine andere Suchttherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 14. November 2019 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die in Ziffer I verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland ist ebenso wenig zu beanstanden wie die in Ziffer III und IV verfügten Annexentscheidungen. Ebenso begegnet die unter Ziffer II verfügte Befristung der Wirkungen der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts auf die Dauer von sieben Jahren ab Ausreise/Abschiebung keinen rechtlichen Bedenken.
Die nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 11) als rechtmäßig.
Die Beklagte geht zu Gunsten des Klägers, allerdings ohne die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU im Einzelnen zu prüfen, davon aus, dass der Kläger schon auf Grund seiner griechischen Staatsangehörigkeit ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ist.
Rechtsgrundlage der Verlustfeststellung ist vorliegend – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 FreizügG/EU, sondern § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU.
Zugunsten des Klägers wird – in Übereinstimmung mit der Beklagten – davon ausgegangen, dass der Kläger ein Daueraufenthaltsrecht gem. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hat.
Der noch weitergehende Schutz nach § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 FreizügG/EU steht ihm – entgegen der Ansicht der Beklagten – jedoch nicht zu. Nach dieser Vorschrift darf eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für die Frage, ob eine Person die Voraussetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EG, den „Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat“ gehabt zu haben, erfüllt, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die ursprüngliche Ausweisungsverfügung ergeht (EuGH, U.v.17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 88).
Zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Verlustfeststellung am 28. November 2019 erfüllt der bereits seit 12. Mai 2017 inhaftierte Kläger die Voraussetzung eines ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalts nicht. Der EuGH hat in seinem Urteil im Verfahren C-316/16 zum wiederholten Male festgestellt, dass Haftstrafen die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des Art. 28 Absatz 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 grundsätzlich unterbrechen (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C 316/16 – juris Rn. 70 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 16.1.2014 – C-400/12 – juris Rn. 33 ff.). Ob diese Unterbrechung zu einem Entfallen eines verstärkten Schutzes vor Verlustfeststellung führt, ist abhängig von einer umfassenden Beurteilung der konkreten Situation des Betroffenen: Je fester die Integrationsbande zum Aufenthaltsstaat, insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Verbüßung einer Haftstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts von 10 Jahren führt (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 – juris Rn. 72). Relevant sind in diesem Zusammenhang die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art und Begehungsweise der Tat, die zur verhängten Haft führte, sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 – juris Rn. 83). Die Frage, ob der Betroffene in den Genuss des besonderen Schutzes des Art. 28 Absatz 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 kommt, ist – im Gegensatz zur ggf. nachträglich anzupassenden Gefährdungsprognose – mit Blick auf die Situation im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung zu beantworten (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 – juris Rn. 86).
Unter Zugrundelegung dieser Maßgaben kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Verlustfeststellungsentscheidung der Beklagten nicht an § 6 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 5 FreizügigkeitsG/EU, sondern an § 6 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 4 FreizügigkeitsG/EU zu messen ist. Zwar hält sich der Kläger seit ca. 1970 und damit mehr als zehn Jahre ständig im Bundesgebiet auf. Die Kammer geht jedoch im vorliegenden Fall davon aus, dass die Integrationsverbindungen jedenfalls durch die Verbüßung der langjährigen Haftstrafe abgerissen sind.
Die Beklagte hat den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt am 14. November 2019 festgestellt. Der Kläger wurde am 12. Mai 2017 vorläufig festgenommen und befand sich seit dem 13. Mai 2017 in Untersuchungshaft, anschließend in Strafhaft. Seit 14. August 2018 ist er gemäß § 64 StGB in der Klinik für forensische Psychiatrie des Klinikums … untergebracht. Eine Entlassung aus dem Maßregevollzug ist bislang noch nicht erfolgt. Innerhalb des gem. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU relevanten Zeitraums von zehn Jahren war der Kläger demnach bereits mehr als 2 Jahre in Haft bzw. im Maßregelvollzug. Dadurch wurde der erforderliche Aufenthaltszeitraum nach Auffassung der Kammer unterbrochen. Allein aus dem langen Aufenthalt im Bundesgebiet kann jedenfalls nicht auf eine Kontinuität geschlossen werden. Denn bereits vor der Inhaftierung waren die Integrationsverbindungen des Klägers im Bundesgebiet nur in geringem Maße ausgeprägt. Insofern ist zu Gunsten des Klägers sein langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet einzustellen. Allerdings war der Kläger, der die Schulausbildung abgebrochen und keine Ausbildung absolviert hat, wirtschaftlich nicht erfolgreich. Ausgelöst durch seine Zeit als Gastronom und Besitzer verschiedener Gaststätten hatte der Kläger zum Zeitpunkt seiner Verurteilung massive Schulden in Höhe von 2 Millionen EUR. Im Zeitraum von 2009 bis 2010 und seit 2016 war der Kläger zudem arbeitslos und bezog Sozialleistungen. Demzufolge kann zum maßgeblichen Zeitpunkt von einer nennenswerten wirtschaftlich-beruflichen Integration des Klägers, die hätte abreißen können, nicht (mehr) gesprochen werden. Auch in familiärer Hinsicht waren vor Haftantritt die Bindungen im Bundesgebiet nicht (mehr) stark. Der Kläger ist seit 2007 von seiner Lebensgefährtin getrennt und ledig. Laut Strafurteil musste aufgrund des Drogenkonsums des Klägers der bei dem Kläger lebende Sohn zu seiner Mutter zurück. Seine Kinder sind mittlerweile zudem volljährig und nicht auf seine Unterstützung angewiesen. Auch ist der Kläger während seines gesamten Aufenthaltes innerhalb des Bundesgebietes immer wieder umgezogen ist. Gegen eine gelungene Integration in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland spricht zudem, dass der Kläger vor Haftantritt Betäubungsmittelkonsument war. Bereits nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin im Jahr 2007 konsumierte der Kläger bis zum Jahr 2010 Heroin und begann im Jahr 2016 aufgrund seiner Arbeitslosigkeit erneut Betäubungsmittel zu konsumieren. Auch die Art der Straftat und die Umstände ihrer Begehung lassen erkennen, in welchem Maß sich der Kläger der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates entfremdet hat. Der Kläger nahm aktiv am Rauschgifthandel teil und hat bei drei Taten mit großen Mengen der aufgrund ihres hohen Abhängigkeitspotentials gefährlichen Droge Kokain gehandelt. Trotz fehlender Vorstrafen, teilweisem Geständnis und teilweiser Sicherstellung der Betäubungsmittel sowie in einem Fall geleisteter Aufklärungshilfe hat das Strafgericht den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren 6 Monaten verurteilt. Bereits die hohe Haftstrafe verdeutlicht, dass es sich um erhebliche Straftaten gehandelt hat. Gerade der Betäubungsmittelhandel zählt zu den besonders schweren Straftaten. In der Gesamtschau lässt sich somit feststellen, dass bereits vor der Inhaftierung die ursprünglich vorhandenen Integrationsverbindungen zunächst sukzessive und letztlich mit Verbüßung der langjährigen Haftstrafe abgerissen sind. Der Kläger kann sich daher nicht auf den besonderen Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berufen.
Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung ist somit § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) festgestellt werden. Die Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
Die von dem Kläger begangene Straftat rechtfertigt die Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU).
Der Begriff der öffentlichen Ordnung i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist nicht nach nationalen, sondern nach unionsrechtlichen Kriterien zu bestimmen. Er ist eng auszulegen (EuGH, U.v. 27.4.2006 – C-441/02 – juris Rn. 34). Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung setzt voraus, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften verletzt wurden (EuGH, U.v. 27.4.2006 – C-441/02 – juris Rn. 35). Die reine soziale Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, reicht für eine Verlustfeststellung nicht aus (EuGH, U.v. 27.4.2006 – C-441/02 – juris Rn. 35). Denn anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht verweist der Maßstab des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris Rn. 24). Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung rechtfertigt für sich genommen eine Verlustfeststellung (ebenfalls noch) nicht (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Strafrechtliche Verurteilungen dürfen in diesem Kontext nur berücksichtigt werden, soweit sie im Bundeszentralregister noch nicht getilgt wurden (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU).
Die strafrechtliche Verurteilung des Klägers durch das Landgericht … vom 16. März 2018 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren 6 Monaten stellt eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU dar. Der Kläger hatte in drei Fällen größere Mengen Kokain erworben und teilweise weiterverkauft. In seiner Wohnung bewahrte er neben einem Teil der Betäubungsmittel auch ein funktionierendes Pfefferspray auf.
Das Strafgericht berücksichtigte zwar zu Gunsten des Klägers insbesondere dessen Betäubungsmittelabhängigkeit sowie den Umstand, dass er die Taten auch zur Finanzierung seiner Sucht begangen hat, dass er nicht vorbestraft und teilweise geständig war, bei einer Tat Aufklärungshilfe leistete und dass Teilmengen des Kokains sichergestellt werden konnten. Jedoch sah das Strafgericht zu Lasten des Klägers, dass es sich um erhebliche Mengen (die Grenze zur nicht geringen Menge wurde teilweise um das 5-fache bzw. 9,6-fache überschritten) an Kokain gehandelt hat. Insoweit handelt es um ein gravierendes Verbrechen. Es ist wohl glücklichen Umständen zuzuschreiben, dass die Straftaten teilweise unter polizeilicher Überwachung stattgefunden haben, so dass nicht das gesamte verkaufte Kokain in den Verkehr gelangen konnte, denn gerade Kokain stellt eine gefährliche Droge dar. Von einem Grundinteresse der Gesellschaft kann in diesem Zusammenhang ausgegangen werden, da die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (vgl. BVerwG U. v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 12).
Das persönliche Verhalten des Klägers indiziert nach Auffassung des Gerichts auch für die Zukunft eine tatsächliche, gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU).
Für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU erforderlich und ausschlaggebend sind die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Freizügigkeitsberechtigten und die insoweit anzustellende aktuelle Gefährdungsprognose. Dabei steht es den Ausländerbehörden und Gerichten nicht frei, von einem früheren Verhalten ohne weiteres auf die aktuelle Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu schließen. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt jedoch nicht, dass eine gegenwärtige Gefahr im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird. Hierbei ist eine individuelle Würdigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris Rn. 26). In Fällen eines Daueraufenthaltsberechtigten i.S.d. § 4a AufenthG/EU ist nach § 6 Abs. 4 AufenthG/EU zusätzlich einschränkend zu berücksichtigen, dass die drohende Beeinträchtigung zu schweren Gefahren für die öffentliche Ordnung führen muss. Es ist daher eine erhebliche Gefahr mindestens mittlerer oder schwerer Straftaten erforderlich.
Die Kammer geht vorliegend mit der Beklagten davon aus, dass der Kläger bei einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet auch weiterhin gravierende Straftaten, namentlich Betäubungsmitteldelikte, begehen wird. Im Rahmen der Gefahrenprognose ist zu berücksichtigen, dass der in dem Strafverfahren hinzugezogene Sachverständige … bei dem Kläger eine Drogenabhängigkeit (Polytoxikomanie) festgestellt hat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen …, denen sich die erkennende Kammer uneingeschränkt anschließt, ist es zu einer deutlichen und mehrjährigen, durch Übung erworbenen, intensiven Neigung hinsichtlich des regelmäßigen Konsums von Kokain und Heroin gekommen. Außerdem hat eine körperliche Abhängigkeit bestanden. Im Hinblick auf die nachlassende berufliche und soziale Integration ist von einem Hang des Klägers auszugehen. Der Sachverständige führte aus, dass ohne Behandlung der psychischen Hintergründe des Abhängigkeitsverhaltens und der mittlerweile verfestigten Suchtstrukturen ein sehr hohes Risiko besteht, dass der Kläger erneut Drogen konsumieren und neue Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz begehen wird.
Die Kammer erkennt durchaus, dass der Kläger an seiner Suchtproblematik arbeitet und sich um ein geregeltes Leben bemüht. Aber auch wenn der Kläger laut Therapiebericht des Klinikums … vom 20. März 2020 insgesamt einen positiven Behandlungsverlauf aufweist, mittlerweile in Teilzeit arbeitet, sich in der Probewohnphase befindet, eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug voraussichtlich im Sommer 2020 ansteht und eine Regelinsolvenz angemeldet ist, so ist dennoch zu berücksichtigen, dass bislang die Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers (noch) nicht erfolgreich therapiert ist.
Bei Straftaten, die wie vorliegend auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr jedenfalls nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie beziehungsweise eine andere Suchttherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie kann allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden (BayVGH, B.v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7; B. v. 13.5.2015 – 10 C 14.2795 – juris Rn. 4; B.v. 21.2.2014 – 10 ZB 13.1861 – juris Rn. 6). Selbst eine erfolgreich abgeschlossene Drogentherapie schließt eine Rückfall- und Wiederholungsgefahr nicht per se aus (BayVGH, B.v. 24.5.2012 – 10 ZB 11.2198 – juris Rn. 13). Gerade im Fall des Klägers ist außerdem zu berücksichtigen, dass dieser bereits in der Vergangenheit auch nach Zeiten der Abstinenz wieder rückfällig geworden ist. Grund für seinen erstmaligen bzw. erneuten Konsum waren die Trennung von seiner Lebensgefährtin bzw. seine Arbeitslosigkeit. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Kläger bei erneuten persönlichen Krisen wieder in den Drogenkonsum zurückfallen und Straftaten begehen wird. Die Kammer geht daher im Hinblick auf die längerfristig angelegte ausländerrechtliche Gefahrenprognose und den Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der Kläger, auch gegenwärtig, wieder straffällig wird.
Die Beklagte hat bei Erlass der Verlustfeststellung das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienfriedens zu Gunsten des Unionsbürgers zu beachten. Hierbei ist gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich darauf hin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
Die Beklagte hat ermessensfehlerfrei festgestellt, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Die Beklagte hat in ihrer Ermessensentscheidung zutreffend die Art und Schwere der von dem Kläger begangenen Straftat und die lange Dauer seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt. Sie hat auch in ihre Abwägung eingestellt, dass die volljährigen Kinder und die Geschwister des Klägers im Bundesgebiet leben. Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK gewähren jedoch einen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Nur wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen sich als unverhältnismäßig erweisen (BayVGH, B.v. 25.4.2014 – 10 CE 14.650 – juris Rn. 6). Eine entsprechende Situation liegt bei dem Kläger aber offensichtlich nicht vor. Zudem berücksichtigte die Beklagte, dass der Kläger massiv straffällig geworden ist und Drogen konsumiert hat. Auch wurde gesehen, dass der Kläger keinen Beruf erlernt hat und trotz vieler Jahre als selbständiger Gastronom Schulden in beachtlicher Höhe hat, so dass ihm trotz des langen Aufenthaltes weder eine wirtschaftliche noch soziale Integration im Bundesgebiet gelungen ist. Nach alledem hat die Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Klägers höher gewichtet, als dessen Interesse, weiterhin im Bundesgebiet zu leben.
Die Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise ist ebenfalls rechtmäßig. Die Frist, das Bundesgebiet innerhalb von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen, erscheint angemessen. Dies gilt auch für die ausgesprochene Abschiebungsandrohung für den Fall, dass die Antragstellerin ihrer Ausreiseverpflichtung nicht innerhalb der gesetzten Frist freiwillig nachkommt.
Ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken begegnet die in Ziffer II des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von sieben Jahren ab Ausreise/Abschiebung. Rechtsgrundlage ist insoweit § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (EuGH, U.v. 17. Juni 1997 – C-65/95, C-111/95 – Rn. 39 ff.). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU – wie hier – überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 23). Die Beklagte geht zutreffend davon aus, dass von dem Kläger auch künftig schwerwiegende Straftaten zu erwarten sind und dass eine zeitnahe Befristung im Hinblick auf die von dem Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr hinsichtlich neuer Straftaten den Verlustfeststellungszweck konterkarieren würde. Die Beklagte kommt unter Berücksichtigung aller für und gegen den Kläger sprechenden bekannten Umstände zum Ergebnis, die Wirkung der Verlustfeststellung auf die Dauer von sieben Jahren ab Ausreise/Abschiebung zu befristen. Diese Frist erscheint auch der Kammer im Hinblick auf die von dem Kläger ausgehenden Gefahren angemessen, insbesondere verhältnismäßig.
Im Übrigen folgt die Kammer gemäß § 117 Abs. 5 VwGO den zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheids und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung der Gründe ab.
Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.

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