Europarecht

Verlust des Freizügigkeitsrechts wegen schweren Rauschgiftdelikten

Aktenzeichen  M 10 K 15.5928

Datum:
4.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 8 S. 1
BtMG BtMG § 35
EMRK EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
FreizügG/EU FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 4a, § 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Abs. 4, Abs. 5 S. 1
RL 2004/38/EG RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3 lit. a
GG GG Art. 6
AEUV AEUV Art. 83 Abs. 1

 

Leitsatz

Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG ist dahin auszulegen, dass der Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren im Sinne dieser Bestimmung grds. ununterbrochen gewesen sein muss und vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung des Betroffenen an zurückzurechnen ist. (redaktioneller Leitsatz)
Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG ist dahin auszulegen, dass ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch einen Unionsbürger grds. geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedsstaat aufgehalten hat. (redaktioneller Leitsatz)
Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen bei schweren Rauschgiftdelikten vor, die regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden sind und das Leben und die Gesundheit anderer Menschen in schwerwiegender Weise gefährden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig.
Dem Kläger wurde mit Beschluss vom 4. August 2016 in der mündlichen Verhandlung von Amts wegen Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist gemäß § 60 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 4 VwGO gewährt, da er unverschuldet die Einhaltung der Klagefrist (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO) um einen Tag versäumt hat.
2. Die danach zulässige Klage hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
a. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen berücksichtigt werden, und diese nur insoweit, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 FreizügG/EU. Auch sind bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen, § 6 Abs. 3 FreizügG/EU. Bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, darf eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden, § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe vom mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht, § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU. Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, der der Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, dient, setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist. Eine Ausweisungsmaßnahme ist hier auf außergewöhnliche Umstände begrenzt (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 – C-145/09 Rn. 40,41 – juris). Sie muss auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden, wenn sie angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist; Voraussetzung ist weiter, dass dieses Ziel unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann. Dabei ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die zu der Zeit, zu der die Ausweisungsverfügung ergeht, zu beurteilen ist, nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Aufnahmemitgliedsstaat, in den er vollständig integriert ist, zu gefährden (EuGH, U. v.23.11.2010 – C-145/09 Rn. 49,50 – juris). Im Falle einer Verurteilung wegen Straftaten ist § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU im Übrigen dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist. Zudem setzt eine Verlustfeststellung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (vgl. EUGH, U. v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris Rn. 33 f; zum Ganzen: BayVGH, B. v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 7).
Nach dem gestuften System des § 6 FreizügG/EU ist danach zu unterscheiden, ob der Kläger ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4 a FreizügG/EU erworben hat (fünf Jahre rechtmäßiger Aufenthalt) oder sich schon seit zehn Jahren im Bundesgebiet aufhält (§ 6 Abs. 5 FreizügG/EU). Hierbei hat die Beklagte die neuere Rechtsprechung des EuGH (U. v.16.1.2014 – C-400/12 – juris) zu § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zugrunde gelegt. Diese Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG. Diese Vorschrift ist nach dem oben zitierten Urteil des EuGH dahin auszulegen, dass der Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren im Sinne dieser Bestimmung grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein muss und vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung des Betroffenen an zurückzurechnen ist (1. Orientierungssatz). Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG ist weiterhin dahin auszulegen, dass ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedsstaat aufgehalten hat. Gleichwohl kann dieser Umstand bei der umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, die für die Feststellung, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind, vorzunehmen ist (2. Orientierungssatz).
aa. Im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob mit der Beklagten davon auszugehen ist, dass der Kläger nur den Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU in Anspruch nehmen kann (Feststellung des Verlusts nur aus schwerwiegenden Gründen), da die Kontinuität des Aufenthalts des Klägers zum Bundesgebiet mit Antritt der Haftstrafe unterbrochen ist. Hierfür würde sprechen, dass der Kläger im vorliegenden Fall im Bundesgebiet vor allem beruflich integriert war und diese Integration durch Antritt der Freiheitsstrafe nunmehr einschneidend unterbrochen wurde, da der Kläger während der Verbüßung seiner Haftstrafe nicht die Möglichkeit hat, eine neue Arbeitsstelle anzutreten.
Dies kann hier jedoch deshalb dahinstehen, da der streitgegenständliche Bescheid vom 9. November 2015 auch unter Zugrundelegung eines zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalts des Klägers und der Voraussetzung des Vorliegens von zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach § 6 Abs. 5 Satz 1 und 3 FreizügG/EU rechtmäßig ist.
Der Kläger wurde bereits mit Urteil des Amtsgerichts München vom 8. Oktober 2003 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen in einem Fall in Tatmehrheit mit zehn sachlich zusammentreffenden Fällen des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Diese Verurteilung kann zur Begründung der Verlustfeststellung auch noch herangezogen werden. Ein Verwertungsverbot nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 FreizügG/EU hinsichtlich derjenigen Straftaten, die im Bundeszentralregister bereits getilgt sind, gilt für diese Straftat noch nicht (vgl. Kurzidem in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar, Ausländerrecht, Stand: 1.2.2016, § 6 FreizügG/EU Rn. 6). Nach § 47 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über das Zentralregister und das Erziehungsregister (BZRG) beträgt die Tilgungsfrist bei der vorliegenden Verurteilung fünfzehn Jahre und hat mit dem Tag des ersten Urteils, also am 8. Oktober 2003 begonnen, § 36 Abs. 1 Satz 1 BZRG.
Weiter wurde der Kläger mit Urteil des Landgerichts München I vom 27. April 2015 wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln sowie des vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmittels in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt.
Eine Ausweisung nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kommt daher in Betracht. Der Kläger wurde bei Zugrundelegung nur der beiden einschlägigen Betäubungsmitteldelikte bereits zu insgesamt fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Zu berücksichtigen ist mindestens auch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten wegen Unterhaltspflichtverletzung, deren Aussetzung zur Bewährung zwischenzeitlich widerrufen wurde.
Das den Verurteilungen vom 8. Oktober 2003 und vom 27. April 2015 zugrunde liegende Verhalten des Klägers erfüllt auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 4 und Abs. 5 FreizügG/EU. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen bei schweren Rauschgiftdelikten vor, die regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden sind und das Leben und die Gesundheit anderer Menschen in schwerwiegender Weise gefährden. Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 – C-145/9 – juris Rn. 45 ff.; BayVGH, B. v. 6.5.2015 -10 ZB 15.231 – juris Rn. 4). Der Schutz der Bevölkerung vor Betäubungsmitteln stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, da der Handel mit Drogen eine Abhängigkeit von Drogenkonsumenten hervorruft oder aufrechterhält. Gegenstand der Taten waren hier nicht nur weiche Drogen, wie Haschisch, sondern bei den Taten im Jahr 2001 unter anderem auch eine besonders harte und gefährliche Droge, nämlich Kokain in einer erheblichen Menge von insgesamt 50 Gramm. Dabei erwarb der Kläger die Betäubungsmittel teils zum Eigenverbrauch, aber zum größeren Teil, um diese gewinnbringend weiter zu veräußern. Im Jahr 2014 erwarb der Kläger unter anderem 2,6 kg Marihuana „auf Kommission“, um mit dieser erheblichen Menge Gewinn zu erzielen. Die Betäubungsmittel verkaufte der Kläger größtenteils aus der Wohnung seines Bruders heraus weiter und gefährdete dadurch die Gesundheit und das Leben anderer Menschen. Hierbei kann den Kläger auch nicht entlasten, dass er – wie er in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat – das Marihuana „nur“ an zwei verschiedene Kunden und einen Freund abgegeben und nicht auf der Straße „gedealt“ hat. Die Weitergabe der Drogen an diese drei Personen hat gerade deren Gesundheit, die es als sehr hohe Güter der Wertordnung zu schützen gilt, in schwerwiegender Weise gefährdet und stellt eine schwere Straftat dar.
Illegaler Drogenhandel gehört auch zu den in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten Straftaten im Bereich der schweren Kriminalität.
bb. Das Gericht teilt ferner die Prognoseentscheidung der Beklagten, dass vom Kläger auch in Zukunft die Gefahr weiterer schwerwiegender Straftaten ausgeht. Bei einer Ausweisung zu spezialpräventiven Zwecken müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Straftaten des Ausländers ernsthaft droht und damit eine von ihm bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (ständige Rspr., etwa BVerwG, U. v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U. v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris Rn. 16) der Wahrscheinlichkeitsmaßstab bezüglich der Wiederholungsgefahr vom Rang des gefährdeten Rechtsguts abhängig; bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung gelten daher für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. Damit sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringer, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Das bedeutet andererseits nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit genügt, um eine Wiederholungsgefahr annehmen zu können.
Der Kläger hat vorliegend Straftaten begangen, die bereits dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen sind. Dem unerlaubten Erwerb und dem Handel mit Betäubungsmitteln lag nicht nur eine eigene Drogenabhängigkeit zugrunde. Vielmehr handelte der Kläger dabei auch aus Gewinnstreben ohne Rücksicht auf die Folgen für Drogenkonsumenten und Sozialversicherungssysteme.
Es besteht auch weiterhin die Gefahr, dass der Kläger sein strafbares Verhalten wiederholen wird. Angesichts der bereits zum zweiten Mal aufgetretenen Drogensucht des Klägers ist zunächst der erfolgreiche Abschluss einer Drogentherapie von zentraler Bedeutung für die Prognose, ob der Kläger künftig weiterhin erhebliche Straftaten begehen wird. Liegt, wie beim Kläger, die Ursache der begangenen Straftaten (auch) in der Suchtmittelabhängigkeit, so ist nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie zwingende Voraussetzung für ein denkbares Entfallen der Wiederholungsgefahr (vgl. BayVGH, B. v. 10.10.2012 – 10 ZB 11.2454 – juris Rn. 9; B. v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 7). Auch wenn der Kläger bereits an Therapiesitzungen teilnimmt, derzeit abstinent in beschützender Umgebung lebt und darüber hinaus noch beständig und fleißig in einem anstaltsinternen Unternehmensbetrieb in der JVA arbeitet, besteht die Wiederholungsgefahr nach wie vor fort. Sogar, wenn eine suchttherapeutische Behandlung erfolgreich abgeschlossen wird, ist die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Rückfalls und eine Rückkehr zu delinquenten Verhaltensweisen als hoch anzusehen. Dies ergibt sich daraus, dass der Kläger bereits im Jahr 2004 eine Suchttherapie erfolgreich abgeschlossen hat und danach auch mehrere Jahre drogenfrei gelebt hat. Doch hat er zu keiner Zeit ein straffreies Leben geführt und ist letztendlich wieder in alte Verhaltensweisen und die Drogensucht zurückgefallen. Auch hat er selbst angegeben, dass er spielsüchtig sei und dies als Ursache für seine erneute Drogensüchtigkeit ansehe. Er hat es weiterhin nicht geschafft, ein schuldenfreies Leben zu führen.
Eine erhebliche Wiederholungsgefahr kann der Kläger damit nicht ernsthaft in Zweifel ziehen; die Erwartung künftig straffreien Verhaltens auch nach Straf- bzw. Therapieende hat er nicht glaubhaft machen können.
Vorgaben für den Zeitpunkt, zu dem die Behörde die Verlustfeststellung ausspricht, ergeben sich weder aus dem nationalen Recht noch aus Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen „jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt“ (vgl. U. v. 16.1.2014 – C-400/12 – juris Rn. 35; U. v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 32). Einer positiven Entwicklung des Unionsbürgers nach Erlass der Verlustfeststellung – etwa wie im vorliegenden Fall durch eine erfolgreiche Therapie während der Strafhaft oder zu einem späteren Zeitpunkt – kann durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, B. v. 11.9.2015 – 1 B 39/15 – juris Rn. 21).
cc. Die Ausweisung erweist sich auch unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen des Klägers als ermessensfehlerfrei und angemessen. Auch der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Klägers erweist sich unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 8 Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
Ob die Ausweisung des Klägers – und damit der Eingriff in das Familien- und/oder Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK – im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, bestimmt sich anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet. Die durch höherrangiges Recht und Vorschriften der EMRK geschützten Belange des Klägers gebieten daher eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles (vgl. BVerwG, U. v. 23.10.2007 – 1 C 10/07 – juris Rn. 25).
Die Beklagte hat die persönlichen Umstände des Klägers und sein Privatinteresse an einem weiteren Aufenthalt und Verbleib im Bundesgebiet angemessen gewürdigt und nach Abwägung aller Umstände gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt als nachrangig eingestuft.
Die Beklagte hat dabei ausreichend berücksichtigt, dass der Kläger sogenannter „faktischer Inländer“ ist, da er seit seiner Geburt in … lebt, dort zur Schule gegangen ist und gearbeitet hat. Allerdings hat der Kläger es nicht geschafft, ein straffreies Leben zu führen, sondern hat kontinuierlich durch verschiedene Straftaten, unter anderem auch Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte, die Rechtsordnung missachtet.
Auf die familiären Bindungen des Klägers zu seinem Vater und seinem Bruder kommt es aufgrund des Alters des Klägers nicht entscheidungserheblich an. Der Kläger kann telefonisch oder im Rahmen von Betretenserlaubnissen zu diesen Kontakt halten. Weiter kann sich der Kläger nicht auf eine familiäre Beziehung mit seinen beiden Kindern, die dem Schutzbereich des Art. 6 GG unterfällt, berufen. Der Kläger hat schon seit ca. sechs Jahren keinerlei Kontakt mehr zu seinen Kindern; es besteht sogar ein unbefristetes Kontaktverbot zu diesen. Eine tatsächliche persönliche Verbundenheit, auf deren Aufrechterhaltung die Kinder zu ihrem Wohl angewiesen sind (vgl. BVerfG, B. v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 18), besteht offensichtlich nicht.
Eine für den Kläger günstigere Entscheidung ergibt sich auch dann nicht, wenn man den Einwand des Klägers zugrunde legt, dass er keine familiäre Kontakte in Italien hat und die italienische Sprache nicht spricht. Es ist dem Kläger zuzumuten, sich entweder im deutschsprachigen Raum Italiens aufzuhalten und/oder die italienische Sprache zu erlernen. Durch Urlaubsreisen an den Gardasee und nach Salerno (vgl. Schreiben des Klägers vom 7. September 2015, Bl. 278 der Behördenakte) ist ihm sein Herkunftsland auch nicht gänzlich unbekannt.
dd. Die Ausweisung ist daher unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses, der vom Kläger ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in Italien verhältnismäßig. Die Beklagte hat die familiäre und persönliche Situation des Klägers im Rahmen einer Einzelfallbeurteilung ausreichend gewürdigt (vgl. § 114 VwGO).
b. Vor diesem Hintergrund sind die verfügte Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung auch aus der Haft heraus (Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids) rechtlich nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU.
c. Die in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Die festgesetzte Frist von fünf Jahren erscheint jedenfalls angemessen, um dem beim Kläger bestehenden hohen Gefahrenpotential Rechnung zu tragen und ihm insbesondere die Möglichkeit zu geben, sich auf Dauer von schädlichen Einflüssen aus seinem Umfeld in Deutschland zu distanzieren.
Zudem hat die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid darauf hingewiesen, dass Härtefälle ggf. durch kurzfristige Betretenserlaubnisse nach § 11 Abs. 8 Satz 1 AufenthG aufgefangen werden können.
3. Nach alledem war die Klage insgesamt mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz -GKG-).


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