Aktenzeichen M 4 K 17.4371
AEUV Art. 83 Abs. 1, Abs. 2
Leitsatz
§ 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist dahin auszulegen, dass der Aufenthalt in den letzten zehn Jahren rechtmäßig gewesen sein muss, d.h. der Familienangehörige muss während eines zusammenhängenden Zeitraums von zehn Jahren freizügigkeitsberechtigt gewesen sein. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht verweist zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid und sieht von der Darstellung eigener Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Lediglich ergänzend wird ausgeführt:
I.
Die Feststellung, dass die Klägerin ihr Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ist rechtmäßig im Sinne von § 6 FreizügG/EU. Maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Tatsachengerichts (BayVGH, B.v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris).
Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden; die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt dafür nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU für sich allein nicht. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655; B.v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris).
1. Auf den Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kann sich die Klägerin nicht berufen.
Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach Abs. 1 bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden.
Die Voraussetzung eines zehnjährigen Aufenthalts erfüllt die Klägerin vorliegend jedoch nicht.
Ausgehend von der aktuellen Rechtsprechung des EuGH (U.v. 16.1.2014 – C-400/12, NVwZ-RR 2014, 245 = BeckRS 2014, 80039) wird der zehnjährige Aufenthalt rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Verlustfeststellung betrachtet. Zwar muss er nicht unterbrechungsfrei gewesen sein (EuGH, NJW 2011, 1201). Aufenthaltsunterbrechungen, die einer Bewertung im Einzelfall unterliegen, sollen jedenfalls dann für die Anwendung des § 6 Abs. 5 unschädlich sein, wenn sie den Integrationszusammenhang mit der Bundesrepublik nicht unterbrechen (EuGH, NVwZ RR 2014, 245 = BeckRS 2014, 80039). Z.T. wird in diesem Zusammenhang die analoge Anwendung von § 4a Abs. 6 FreizügG/EU befürwortet (so etwa Bergmann/ Dienelt AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn. 59). Zeiten von Strafhaft führen jedoch regelmäßig zur Unterbrechung des Zehnjahreszeitraums und rechnen für die Bestimmung des „Ausweisungsschutzes“ regelmäßig nicht mit (EuGH, NVwZ-RR 2014, 245 = BeckRS 2014, 80039; BayVGH, BeckRS 2015, 44240, VG München, BeckRS 2016, 52457).
Außerdem setzt der erhöhte Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU voraus, dass ein Daueraufenthaltsrecht nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, § 4a FreizügG/EU (BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris) vorher erworben wurde.
Das Gericht verweist auch insoweit zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid.
Die Klägerin ist seit ihrer Scheidung im Jahr 2010 nicht mehr Familienangehörige im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU (VG Augsburg, U.v. 5.5.2009 – Au 1 K 08.449). Sie kann daher seit dieser Zeit von ihrem Ehemann kein Freizügigkeitsrecht mehr ableiten. Die Klägerin ist zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung auch nicht mehr Familienangehörige im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU, da die Tochter der Klägerin keinen Unterhalt gewährt bzw. gewährt hat. Auch der umgekehrte Fall, dass aus § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU in bestimmten Fällen ein freizügigkeitsrechtliches Aufenthaltsrecht abgeleitet werden kann, wenn nicht der EU-Bürger seinem Verwandten den Unterhalt gewährt, sondern es sich umgekehrt verhält, liegt nicht vor. Dies ist nur der Fall, wenn es sich bei dem EU-Bürger um einen freizügigkeitsberechtigten Minderjährigen handelt, der von einem drittstaatsangehörigen Elternteil tatsächlich betreut wird, diese Betreuung erforderlich ist und keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen werden (Ziff. 3.2.2.2 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU v. 3.2.2016; EuGH, U.v. 19.10.2004 – C-200/02 – juris).
Dies ist nicht der Fall.
Das Gericht legt § 6 Abs. 5 FreizügG/EU so aus, dass der Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen sein muss und dies bedeutet, dass der Familienangehörige während eines zusammenhängenden Zeitraums von zehn Jahren freizügigkeitsberechtigt gewesen sein muss (BVerwG, U.v. 31.5.2012 – 10 C 8/12 – juris; BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655). Aus der Ehe mit dem österreichischen Staatsangehörigen kann die Klägerin schon deshalb keinen zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt ableiten, weil die Ehe als eheliche Lebensgemeinschaft nur sechs Jahre und – auch wenn man zugunsten der Klägerin davon ausgeht, dass es nur auf das formale Band einer Ehe ankommt – keine zehn Jahre im Bundesgebiet bestanden hat.
Auch von ihrer österreichischen Tochter kann die Klägerin keinen durchgehend rechtmäßigen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vor der Verlustfeststellung ableiten. Dabei ist schon fraglich, ob und wie lange die Tochter selbst als nichterwerbstätige Unionsbürgerin freizügigkeitsberechtigt war (§§ 3 Abs. 1, 2 Abs. 2 Nr. 4, 4 FreizügG/EU). Die Klägerin hat nämlich nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung bereits kurze Zeit nach ihrer Scheidung für sich und ihre Tochter Sozialleistungen in Anspruch genommen. Darüber hinaus hat die Klägerin in den letzten zehn Jahren nicht durchgehend ihre Tochter tatsächlich betreut. Die Tochter war nach Aktenlage und den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung längere Zeit in einem Internat bzw. in einer Wohngruppe der Landeshauptstadt München untergebracht. Auch lebte die Tochter seit dem … März 2015 wieder in einer Sozialeinrichtung der Landeshauptstadt … bzw. lebt seit März 2018 in … Außerdem hat zur Überzeugung des Gerichts sowohl die Untersuchungshaft im Jahr 2015 als auch die Inhaftierung seit Februar 2016 die Integration der Klägerin und damit den zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt unterbrochen.
2. Auf den Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU kann sich die Klägerin hingegen berufen.
a) Nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU können Feststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU steht einem Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt unabhängig von den Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU zu (Daueraufenthaltsrecht), wenn er sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, haben dieses Recht, wenn sie sich seit fünf Jahren mit dem Unionsbürger ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Dies bedeutet, dass der Unionsbürger/Familienangehörige während eines zusammenhängenden Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt gewesen sein muss (BVerwG, U.v. 31.5.2012 – 10 C 8/12 – NVwZ-RR 2012, 821).
Das Gericht geht davon aus, dass sich die Klägerin fünf Jahre ständig rechtmäßig mit einem Unionsbürger im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Klägerin hat diesen 5-jährigen Aufenthalt entweder in der Ehebestandszeit der Ehe mit dem österreichischen Staatsangehörigen oder durch ihre tatsächliche Sorge für ihre österreichische Tochter erreicht. Anders als für den zehnjährigen Bestand nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU reicht es aus, dass dieser fünfjährige Zeitraum irgendwann während des Aufenthalts des Ausländers erreicht wurde.
3. Die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt er-weist sich vorliegend als rechtmäßig, da eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vgl. § 6 Abs. 1, Abs. 2 FreizügG/EU; schwerwiegende Gründe i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU liegen vor.
Die Klägerin ist in der Bundesrepublik wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zwar können eine Vielzahl kleinerer Straftaten, die für sich allein genommen nicht geeignet sind, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft zu begründen, eine Feststellung nach § 6 FreizügG/EU nicht rechtfertigen (EuGH, U.v. 4.10.2007 – C-349/06 – NVwZ 2008, 59; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, FreizügG/EU § 6 Rn.16) Die Schwelle von leichten Delikten (Ziff. 6.2.2.1.2 VV-FreizügG/EU) bzw. Kleinkriminalität (vgl. Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU Rn. 12) hat die Klägerin vorliegend jedoch durch ihr Drogendelikt mit einer Verurteilung zu drei Jahren und zwei Monaten erheblich überschritten.
Es besteht auch eine Wiederholungsgefahr. Die Klägerin hat es in der Vergangenheit seit ihrer Einreise nicht geschafft, sich ihren Unterhalt auf Dauer oder zumindest über einen längeren Zeitraum durch eigene Arbeit zu finanzieren. Die Beziehung zu ihrer Tochter hat sie nicht vom Drogenhandel abgehalten. Nach der Haftentlassung besteht nach derzeitiger Aktenlage kein positiver Empfangsraum.
4. Die Beklagte hat die persönlichen Interessen der Klägerin zutreffend berücksichtigt und zutreffend gewichtet. Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich daraufhin überprüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
a) Nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Verlustfeststellung insbesondere Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Daneben spielen die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bedrohten Rechtsguts, sowie die Entwicklung und die Lebensumstände der Klägerin eine wichtige Rolle (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2010 – 19 ZB 10.584 – juris). In dem streitgegenständlichen Bescheid hat die Beklagte alle für die Klägerin maßgeblichen Umstände berücksichtigt. Insbesondere hat sie zutreffend festgestellt, dass die Klägerin familiäre und soziale Bindungen im Bundesgebiet hat. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die erwachsene Tochter bereits seit 2015 in einer eigenen Wohnung lebte und jetzt in … lebt; die Klägerin ist erst 39 Jahre alt und spricht durch ihren langen Aufenthalt im Bundesgebiet zumindest soweit Deutsch, dass ihre Berufschancen in der Dominikanischen Republik z.B. im Tourismusbereich, nicht schlecht sind.
b) Die Verlustfeststellung ist aus den von der Beklagten im Bescheid genannten Gründen auch im Hinblick auf § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ermessensgerecht; schwerwiegende Gründe liegen aufgrund der Drogendelikte vor. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein (EuGH, U.v. 23.11.2010 – Tsakouridis, C-145/9 – juris Rn. 45 ff.; BayVGH, B.v. 6.5.2015 -10 ZB 15.231 – juris Rn. 4). Sogar Gründe i.S.d § 6 Abs. 5 FreizügG liegen vor, wenn die Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der den Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, die mit dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verbundene Kriminalität bekämpfen soll. Es steht den Mitgliedstaaten frei, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet sind, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen und eine Ausweisungsverfügung rechtfertigten können, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris Leitsatz. 1; vgl. BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 7 m.w.N.). Illegaler Drogenhandel gehört zu den in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten Straftaten im Bereich der besonders schweren Kriminalität (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394).
II.
Die in Ziff. 2 des angegriffenen Bescheides verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf acht Jahre begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Die festgesetzte Frist von acht Jahren erscheint angemessen, um dem bei der Klägerin bestehenden hohen Gefahrenpotential Rechnung zu tragen. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU liegen vor. Die Länge der gesetzten Frist ist aufgrund der massiven Drogendelinquenz noch angemessen.
III.
Daher war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
IV.
Gründe für die Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO liegen nicht vor.