Europarecht

Verstoß gegen Art. 5 Dublin III-VO wegen fehlender Anhörung

Aktenzeichen  Au 7 S 18.30995

Datum:
8.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 11890
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 13 Abs. 2 S. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 2, § 80, § 83b
SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Dublin III-VO Art. 5 Abs. 2, Art. 8, Art. 17

 

Leitsatz

Entsprechend der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Dublin III-VO vor, wenn der Antragsteller vor Erlass des Bescheids nicht angehört bzw. das persönliche Gespräch nicht geführt wurde, da in einem solchen Gespräch sowohl die Voraussetzungen für vorrangige Zuständigkeitsgründe nach Art. 8 ff. Dublin III-VO als auch für eine Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Dublin III-VO geklärt werden können. (Rn. 26 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: Au 7 K 18.30994) gegen die in Nummer 3 des Bescheids vom 23. April 2018 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1. Der Antragteller stellte am 24. Februar 2018 einen Asylantrag, als er in … bei der illegalen Einreise nach Deutschland als Fahrgast eines Eurolines (Route … – …) von der Bundespolizei aufgegriffen wurde. Nach dem INPOL-Ergebnis (Bl. 2/3 der Bundesamtsakte) lautet sein Geburtsdatum „… 1998“, sein Geburtsort wird mit „…“ (Guinea) angegeben. Der Antragsteller wies sich mit einem gültigen guineischen Reisepass sowie einem spanischen Aufenthaltstitel aus. Der guineische Reisepass lautete auf die Personalien, geboren am … 2002 in … (Bl. 13 – 15 Der Bundesamtsakte). Beim Lichtbildabgleich wurde durch die Polizeibeamten festgestellt, dass das Lichtbild auf dem guineischen Reisepass und auf dem spanischen Aufenthaltstitel nicht mit dem Antragsteller übereinstimmte. Der guineische Staatsangehörige … mischte sich während der polizeilichen Kontrolle ein und behauptete, dass der Antragsteller sein Sohn sei. Im Rahmen der weiteren polizeilichen Vernehmung räumte der Antragsteller ein, dass der Reisepass und der spanische Aufenthaltstitel nicht ihm gehört und behauptete, dass es sich um die Ausweispapieres seines Cousins handle. Im Rahmen der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung gab der Antragsteller an, er habe Guinea im Jahr 2016 verlassen und sei über Mali, Algerien, Marokko nach Spanien gereist. Seit Januar 2018 habe er in Spanien gelebt. Seinen guineischen Reisepass hätten die spanischen Behörden in …Spanien sichergestellt. Er wolle nach Deutschland und zur Schule gehen. Er habe eine Tante (…), die in … lebe. Der guineische Staatsangehörige … sei sein Onkel, der Mann dieser Tante. Er arbeite in Spanien und habe ihm den auf die Personalien … lautenden Pass gebracht. Das Alter, das er den spanischen Behörden gesagt habe (… 1998), sei falsch. Er sei eigentlich erst 16 Jahre alt (vgl. Bl. 5 – 12 der Bundesamtsakte).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt), Referat DU 6 Dublinzentrum, stellte am 5. März 2018 ein auf Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) gestütztes Aufnahmegesuch an Spanien. Hierüber informierte das Bundesamt mit Schreiben vom 5. März 2018 die Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge in …. Auf die Anforderung der spanischen Behörden vom 7. März 2018 reichte das Bundesamt am 14. März 2018 die Fingerabdrücke des Antragstellers nach. Mit Schreiben vom 4. April 2018 (Bl. 50 der Bundesamtsakte) akzeptierten die spanischen Behörden ihre Zuständigkeit für das Asylgesuch des Antragstellers, der bei ihnen unter den Personalien „…, geboren am … 1998 in, Guinea“ geführt wird.
2. Mit Bescheid vom 23. April 2018 lehnte das Bundesamt (Außenstelle …) den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Spanien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass der Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig sei, da Spanien aufgrund des illegalen Grenzübertritts in das Hoheitsgebiet des Schengenraums gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrag zuständig sei. Obwohl noch kein förmlicher Asylantrag des Antragstellers vorliege, handle es sich nach der Rechtsprechung des EuGH bei dem Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung schriftlich Kenntnis erlangt habe, um einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne der Dublin III-VO.
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Spanien würden nicht zu der Annahme führen, dass bei Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 4 der EU-Grundrechte vorliege.
Der Antragsteller sei nach der Vernehmung durch die Bundespolizei in keiner Aufnahmestelle erschienen. Somit habe er nicht zum persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 Dublin III-VO geladen werden können. Da er der Aufforderung, sich bei einer Anlaufstelle zu melden und dort einen Asylantrag zu stellen, nicht nachgekommen sei, habe er seine Mitwirkungspflicht erheblich verletzt. Aufgrund dieses Umstands könne nach Aktenlage entschieden werden.
Dieser Bescheid, adressiert an den Antragsteller unter der Anschrift „Aufnahmeeinrichtung,, …“ konnte nicht zugestellt werden. Das entsprechende Anschreiben an die Aufnahmeeinrichtung … kam mit dem Vermerk „unbekannt“ am 26. April 2018 an das Bundesamt, Referat DU 6 Dublinzentrum, zurück (Bl. 77 der Bundesamtsakte). Mit E-Mail vom 4. Mai 2018 teilte das Regierungspräsidium … dem Bundesamt, Referat DU 6 Dublinzentrum, hierzu mit, dass ihm der Bescheid vom 23. April 2018 zugestellt worden sei. Eine Person mit den angegebenen Personalien sei hier aber noch nicht registriert worden (Bl. 78 der Bundesamtsakte).
3. Das Landratsamt, Personenstands- und Ausländerwesen, teilte dem Bundesamt, Außenstelle, mit Schreiben vom 9. Mai 2018, dort eingegangen am 14.5.2018, mit, dass der Antragsteller seit 16. März 2018 in,, wohnhaft sei (Bl.83 der Bundesamtsakte).
Mit Schreiben vom 14. Mai 2018 (Bl. 98 der Bundesamtsakte) teilte das Landratsamt, Amt für Jugend und Familie, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in, dort eingegangen am 14.5.2018, mit, dass es durch das Amtsgericht, Abteilung für Familiensachen, mit Beschluss vom 20. April 2018 zum Vormund für den Antragsteller bestellt worden sei. Für den Antragsteller wurde ein Asylantrag gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt. Dabei wurde zu den Personalien des Antragstellers angegeben, dass er am … 2000 in … (Guinea) geboren sei. Er sei wohnhaft in der Kinderund Jugendhilfe Südbayern, Wohngruppe, ….
Das Bundesamt datierte den förmlichen Asylantrag auf den 14. Mai 2018 (s. „Niederschrift zu einem Asylantrag, Teil 1“, Bl. 114 der Bundesamtsakte).
4. Das Bundesamt änderte die Adresse des Antragstellers auf dem Bescheid vom 23. April 2018 ab (Bl. 84 der Bundesamtsakte), fügte eine auf das Verwaltungsgericht Augsburg lautende neue Rechtsbehelfsbelehrung:bei und übersandte den Bescheid mit den Anschreiben vom 23. Mai 2018 (direkt) an den Antragsteller sowie an die Ausländerbehörde des Landratsamtes ….
5. Am 29. Mai 2018 wurde durch den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben mit dem Antrag, den Bescheid vom 23. April 2018 aufzuheben. Die Klage wird unter dem Aktenzeichen Au 7 K 18. 30994 geführt.
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung (gemeint wohl: Abschiebungsanordnung) anzuordnen.
Zudem wurde beantragt, dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen. Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse wurde bis zum Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht vorgelegt.
Das Bundesamt übermittelte am 6. Juni 2018 in elektronischer Form die Behördenakte, äußerte sich aber nicht zur Sache.
Die Zentrale Ausländerbehörde … übermittelte dem Gericht auf seine Anfrage hin per E-Mail die Zuweisungsentscheidung der „Landesstelle des Freistaates Bayern für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen“ vom 7. März 2018, mit der der Antragsteller dem Jugendamt … zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zugewiesen wurde (Bl.19/20 der Gerichtsakte).
Unter dem 8. Juni 2018 wurde dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers, entsprechend seinem Antrag, die elektronische Bundesamtsakte als CD übermittelt.
6. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegte Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, § 34a Abs. 2 AsylG hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
2. An der Rechtmäßigkeit des Bescheides des Bundesamts vom 23. April 2018 bestehen ernsthafte bzw. durchgreifende Zweifel. Die Klage wird mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein.
Im vorliegenden Fall liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Dublin III-VO vor, weil der Antragsteller vor Erlass des Bescheids vom 23. April 2018 nicht angehört bzw. das persönliche Gespräch nicht geführt wurde.
Einer der in Art. 5 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Ausnahmefälle liegt nicht vor. Soweit das Bundesamt im angefochtenen Bescheid ausführt, dass der Antragsteller nach der Vernehmung durch die Bundespolizei in keiner Aufnahmestelle erschienen ist und somit nicht zum persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 Dublin III-VO geladen werden konnte und er dadurch seine Mitwirkungspflicht erheblich verletzt hat, entsprechen diese Ausführungen nicht den Tatsachen. Vielmehr war dem Bundesamt im Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 23. April 2018 – nach Aktenlage augenscheinlich mangels Weitergabe der entsprechenden Informationen durch andere Behörden – nicht bekannt, dass das Bundesverwaltungsamt bereits am 6. März 2018 das Land Bayern als das zur Aufnahme bestimmte Land bestimmt hat und die „Landesstelle des Freistaates Bayern für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen“ mit Zuweisungsentscheidung vom 7. März 2018 den Antragsteller dem Jugendamt … zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zugewiesen hat (vgl. Bl. 19/20 der Gerichtsakte).
Das Bundesamt hat das erforderliche persönliche Gespräch aber selbst dann nicht durchgeführt bzw. den Antragsteller (ordnungsgemäß) hierzu geladen, nachdem ihm am 14. Mai 2018 zum einen das Schreiben der Ausländerbehörde des Landratsamtes … vom 9. Mai 2018 (Mitteilung der Adresse des Antragstellers, s. Bl. 83 der Bundesamtsakte) und zum anderen das (Fax-)Schreiben des Jugendamtes … vom 14. Mai 2018 (Mitteilung über die Minderjährigkeit des Antragstellers und Vormundbestellung, Bl. 98 der Bundesamtsakte) zuging. Vielmehr hat das Bundesamt trotz dieser Mitteilungen lediglich die Adresse auf dem Bescheid vom 23. April 2018 (handschriftlich) geändert (s. Bl. 84 der Bundesamtsakte) und eine erneute Zustellung dieses Bescheids veranlasst, nämlich den Bescheid mit den Anschreiben vom 23. Mai 2018 (s. Bl. 91und 95 der Bundesamtsakte) an den Antragsteller persönlich (nicht an das Jugendamt als dessen Vormund) sowie an die Ausländerbehörde gesandt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 17. Januar 2017 (Az.: 2 BvR 2013/16, juris Rn. 20) zu einem Verstoß gegen Art. 5 Dublin III-VO ausgeführt:
„Unionsrechtlich spricht nach den den Drittschutz von Bestimmungen der Dublin-III-VO stärkenden Entscheidungen des EuGH vom 7. Juni 2016 (C-63/15 – Ghezelbash -, juris, Rn. 34 ff. und C-155/15 – Karim -, juris, Rn. 19 ff.) vielmehr manches dafür, dass das erstmals in der Dublin-III-VO eingeführte obligatorische persönliche Gespräch mit dem Asylbewerber für die Frage der Rechtmäßigkeit des Bescheids beachtlich ist. Denn in einem solchen Gespräch können sowohl die Voraussetzungen für vorrangige Zuständigkeitsgründe nach Art. 8 ff. Dublin-III-VO als auch für eine Ausübung des Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin-III-VO geklärt werden (vgl. Erwägungsgrund 17 und 18 der Dublin-III-VO).
Auch im vorliegenden Fall hätte das Bundesamt in einem persönlichen Gespräch mit dem Antragsteller zum einen Zuständigkeitsgründe nach Art. 8 Dublin III-VO als auch ggf. sein Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO klären müssen.
Nach allem ist davon auszugehen, dass der Bescheid vom 23. April 2018 aufgrund des hier vorliegenden Verstoßes gegen Art. 5 Dublin III-VO rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3. Dem Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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