Europarecht

Vorabentscheidungsersuchen, Berufung, Vorabentscheidung, Verfahren, Unionsrecht, Herausgabe, Berufungsverfahren, Rechtsmittel, Pkw, Aussetzung, Befund, EuGH, Verpflichtung, Zinsen, Aussetzung des Verfahrens, Fortbildung des Rechts, Aussicht auf Erfolg

Aktenzeichen  24 U 2890/22

Datum:
25.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18805
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

32 O 1723/21 2022-04-22 Urt LGMEMMINGEN LG Memmingen

Tenor

1. Der Antrag der Klägerin, das Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Rechtsstreits vor dem europäischen Gerichtshof im Verfahren C-100/21 auszusetzen, wird zurückgewiesen.
2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 22.04.2022, Aktenzeichen 32 O 1723/21, wird zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
4. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Memmingen ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 33.666,39 € festgesetzt.

Gründe

I.
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Memmingen vom 22.04.2022 Bezug genommen.
Im Berufungsverfahren beantragt die Klägerin:
1. Das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 22.04.2022 – 24 U 2890/22 – wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei € 33.666,39 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, Zugum-Zug gegen die Übereignung und Herausgabe des PKWs VW Multivan Trendline 2,0 TDI FIN: … .
3. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des im Klageantrag zu 1) genannten Fahrzeugs seit Rechtshängigkeit in Verzug befindet.
In der Gegenerklärung vom 12.07.2022 beantragt die Klägerin, dass das vorliegende Verfahren ausgesetzt wird, bis eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im zitierten Verfahren C-100/21 vorliegt.
Zur Begründung ihres Aussetzungsantrags stützt sich die Klagepartei auf eine Pressemitteilung des EuGH und einen Artikel aus anwalt.de über den Schlussantrag des Generalanwalts in dem genannten Verfahren. Hieraus ergebe sich, dass nach dem Antrag des Generalanwalts Hersteller, die unzulässige Abschalteinrichtungen wie z. B. Thermofenster in ihren Fahrzeugen einsetzten, Fahrzeugbesitzern zum Schadensersatz verpflichtet seien.
Eine Verpflichtung der Instanzgerichte, Verfahren aus dem Bereich der sogenannten Abgasthematik bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auszusetzen, besteht indes nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs als auch des Bundesgerichtshofs im Falle von Vorabentscheidungsersuchen anderer nationaler Gerichte gerade nicht. Der Senat ist nicht bereits deshalb zur Anrufung des EuGH verpflichtet, weil einzelstaatliche Gerichte in Rechtssachen, die der beim Senat anhängigen ähneln und die gleiche Problematik betreffen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 – 3 AEUV vorgelegt haben (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 – C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Ebenso wenig ist der Senat verpflichtet, die Antwort auf diese Frage abzuwarten und das bei ihm rechtshängige Verfahren analog § 148 ZPO auszusetzen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 – C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51).
Der Bundesgerichtshof hat dies mit Beschluss vom 14.06.2022, ZR 409/21 für eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof (wiederum durch das Landgericht Ravensburg) zum Verhältnis zwischen Verbraucherkreditlinie und Kilometerleasingverträgen nochmals ausdrücklich bestätigt.
In Anwendung seines richterlichen Ermessens hält der Senat weiterhin eine Aussetzung des Verfahrens nicht für sachgerecht.
Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 erfordern ein Abwarten durch den Senat nicht. Selbst wenn entsprechend der in den Schlussanträgen (dort Rn. 50 und Rn. 78 Ziff.1) vertretenen Auffassung davon ausgegangen würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerber seines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelt es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB.
Der VO (EG) Nummer 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst selbst der Generalanwalt keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu.
Bereits das bestehende deutsche Vertrags- und Deliktsrecht hält zahlreiche – abgestufte – Instrumente bereit, die hinreichend wirksam das Interesse eines Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben und zugleich auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bedingen, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. Vor diesem Hintergrund bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der Vorschriften der EG-FGV als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse der Käufer von Fahrzeugen, die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, angemessen zu schützen (im gleichen Sinne OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, 24 U 115/22, Seite 27 ff; dort auch eingehend zu entstehenden nicht hinnehmbaren Wertungswidersprüchen, wollte man den Bestimmungen der §§ 6 und 27 EG-FGV Schutzgesetzcharakter im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB beimessen).
Soweit das im Verfahren C-100/21 vorlegende Landgericht Ravensburg hierzu eine abweichende Auffassung (insbes. hinsichtlich des Erfordernisses einer Herstellerhaftung bereits für fahrlässiges Verhalten) vertritt, ist als Beleg für den gegenteiligen Befund darauf zu verweisen, dass in den vergangenen Jahren hunderttausende Käufer von Dieselfahrzeugen erfolgreiche, auf unzulässige Abschalteinrichtungen gestützte Klagen gegen unterschiedliche Hersteller von Pkw und darin eingesetzten Dieselmotoren geführt haben.
Im Übrigen erkennt der Senat auch keine unmittelbaren Wirkungen für anhängige Verfahren, soweit es in den Schlussanträgen des Generalanwalts unter Ziffer 57 wörtlich lautet:
„Im Einklang mit dem Effektivitätsgrundsatz ist es Sache dieses Gerichts (gemeint ist das vorlegende Gericht) zu prüfen, ob die in § 826 BGB vorgesehenen Voraussetzungen die Ausübung des Ersatzanspruchs, der dem Erwerber eines Fahrzeugs nach der RL 2007/46 zusteht, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren können. Wenn ja, wären diese nationalen Verfahrensvorschriften nicht mit dem Unionsrecht verein – bar.“ (Hervorhebung durch den Senat)
Da die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht infrage steht, dürfte selbst bei – unterstellten – Defiziten zuvörderst der nationale Gesetzgeber gefordert sein, soweit nicht im Auslegungswege abgeholfen werden kann, was hier vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung hinsichtlich der Regelungen der EG-FGV mit Recht verneint wird.
Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 22.04.2022, Aktenzeichen 32 O 1723/21, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 20.06.2022 Bezug genommen.
Auch die Ausführungen in der Gegenerklärung vom 12.07.2022 geben zu einer Änderung keinen Anlass. Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Klägerin durch die Beklagte liegt nicht vor.
1. In der Klageschrift vom 08.11.2021 (S. 26/27) und in der Berufungsbegründung vom 13.06.2022 (S. 6) hat die Klägerin den Vorwurf einen unzulässigen Abschalteinrichtung unter anderem darauf gestützt, dass das Fahrzeug nach einer Messung der Deutschen Umwelthilfe (DUH) unter Realbedingungen die zulässigen Grenzwerte für NOx nach der Euro 6-Norm erheblich übersteige. Dafür gibt die Klägerin die Messwerte von elf getesteten Fahrzeugen wieder, die auf den streitgegenständlichen T 6 zu übertragen seien. Der Senat hat im Hinweis vom 20.06.2022 jedoch unter Zitierung der unter www.duh.de abrufbaren Messwerte ausgeführt, dass beim VW T6 Transporter 2.0 TDI der für Nutzfahrzeuge von 80 auf 125 mg/km erhöhte Grenzwert mit einem NOx-Messwert von 118 mg/km sogar leicht unterschritten wird. In der Gegenerklärung legt die Klägerin die vom Senat zitierte Tabelle zwar selbst als Anlage K22 vor, meint aber daraus entnehmen zu können, dass eine Grenzwertüberschreitung mit dem Faktor 0,9 vorliege. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine geringfügige Unterschreitung des Grenzwerts, aus der sich kein Grund für eine Beanstandung ergeben kann.
Ein Verstoß gegen den Beibringungsgrundsatz liegt schon deshalb nicht vor, weil die Klägerin dieselbe Tabelle bereits in erster Instanz – allerdings weitgehend unleserlich – als Anlage K4 vorgelegt hat. Daraus hat sie jedoch nur auszugweise zitiert, wobei das Weglassen gerade des Messwerts, der das streitgegenständliche Modell betrifft, Bedenken hinsichtlich der Wahrheitspflicht (§ 138 Abs. 1 ZPO) aufwirft.
2. Eine nähere Substanziierung des Vortrags hinsichtlich des Thermofensters ist der Gegenerklärung nicht zu entnehmen.
3. Der Senat hat im Hinweis vom 20.06.2022 zu Recht ausgeführt, dass die Klägerin eine „Fahrkurvenerkennung“ beanstande, die den SCR-Katalysator manipuliere. In diesem Vorwurf sind die von der Klägerin nunmehr unterschiedenen Vorwürfe einer „Zykluserkennung infolge Drehzahl“, „Zykluserkennung infolge Lenkwinkel“, „Ad-Blue-Dosierstrategie“ und eines „Fahrkurvenerkennungssurrogats“ enthalten. Die Klägerin hat tatsächlich schon in der Replik vom 21.02.2022, S. 36 = Bl. 216 d. A., eingeräumt, dass bei den produzierten Fahrzeugen nach der KW 22/2016 – dazu zählt der streitgegenständliche Bus T6, den die Klägerin am 04.09.2017 als Neuwagen gekauft hat – „keine Fahrkurve mehr“ bestehe, „diese wurde entfernt“. Sie trägt demgegenüber vor, dass sie durch
„Abgasnachbehandlungsevents“ ersetzt worden sei, „welche mittels physikalischer Rahmenbedingungen stattfinden“. Es wird sodann ausgeführt, dass die AGR im ersten Drittel des außerstädtischen Verkehrs (im Zeitraum von 780 – 913 Sekunden) zeitgesteuert zurückgefahren werde, während im normalen Fahrbetrieb nach Erreichen der Betriebstemperatur des SCR-Kat. von 200 Grad Celsius eine erhöhte AGR-Rate temperaturgesteuert zurückgefahren werde. Damit handelt es sich jedoch um keine Prüfstandserkennung, da auch nach dem klägerischen Vorbringen die AGR-Rate während der genormten Prüfstandsfahrt zurückgefahren wird. Zudem führt die von der Klägerin geschilderte Programmierung der Steuerung des AGR-Rate und der Zuführung von AdBlue in den SCR-Katalysator ausweislich der auch von der Klägerin vorgetragenen Messungen der DUH nicht zu einer Überschreitung des NOx-Grenzwertes im Realbetrieb.
Zudem bestehen für eine bewusste Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts über Abschalteinrichtungen zu diesem Zeitpunkt – nach Bekanntwerden des den Motortyp EA 189 betreffenden Abgasskandals im September 2015 – keine Anhaltspunkte. Auf die entsprechenden Ausführungen auf S. 4 des Hinweises vom 20.06.2022 wird Bezug genommen, zu denen sich die Klägerin in der Gegenerklärung nicht geäußert hat.
4. Auf die Frage, ob ein verpflichtender Rückruf des KBA stets Voraussetzung für das Bestehen von Ansprüchen aus § 826 BGB ist, kommt es nicht an. Es ist jedoch ein starkes Indiz sowohl gegen das Vorliegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung als auch eines Schadens, wenn das KBA – wie im Fall des Motortyps EA 288 – nach jahrelangen intensiven Untersuchungen in keinem Fall einen verpflichtenden Rückruf wegen des Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung angeordnet hat.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.


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