Europarecht

Zumutbarkeit der Nachholung eines Visumverfahrens zum Familiennachzug

Aktenzeichen  19 C 19.500

Datum:
11.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 5341
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2, § 30 Abs. 1 S. 1, § 32 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 8 lit. a
AufenthV § 31 Abs. 3, § 39 S. 1 Nr. 3, Nr. 5

 

Leitsatz

1. § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG wirkt dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom Ausland durchzuführende erforderliche Visumverfahren zu honorieren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG sind daher prinzipiell eng auszulegen (BVerwG BeckRS 2016, 43992). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 11 K 17.393 2019-02-19 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Die am … 1977 und am … 2014 geborenen, nunmehr nach Nordrhein-Westfalen verzogenen Klägerinnen, Mutter und Tochter, irakische Staatsangehörige, verfolgen mit der Beschwerde ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für ihre Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 20. Februar 2017, mit der ihre im Oktober 2016 gestellten Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt und sie unter Fristsetzung sowie unter Androhung der Abschiebung in den Irak zur Ausreise aufgefordert wurden.
Mit Beschluss vom 19. Februar 2019 (dort Nr. 4) hat das Verwaltungsgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die gegen diese Bescheide erhobene Klage (Aktenzeichen des Verwaltungsgerichts AN 11 K 17.00393) mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerinnen seien am 1. Juli 2016 mit Schengen-Visa (gültig: 26.6.2016 bis 23.9.2016) in das Bundesgebiet eingereist. Die Visa seien zum Zweck der medizinischen Behandlung der Klägerin zu 2 in München ausgestellt worden. Am 20. Juli 2016 habe die Klägerin zu 1 mit dem irakischen Staatsangehörigen M. B., Inhaber einer Niederlassungserlaubnis, in Dänemark die Ehe geschlossen. Es sei vorgetragen worden, dass der irakische Staatsangehörige M. B. Vater der Klägerin zu 2 sei. Jedenfalls habe die Klägerin zu 1 keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 30 AufenthG, weil sie nicht mit einem zum Zweck des Familiennachzugs erteilten Visum eingereist sei (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Die Voraussetzungen für ein Absehen vom Visumserfordernis (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) lägen nicht vor. Auch die Klägerin zu 2 habe keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (insbesondere gemäß § 32 AufenthG), da sie ebenfalls nicht mit einem zum Zweck des Familiennachzugs erteilten Visum eingereist sei und zudem die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht vorlägen. Ebenso wenig bestehe insoweit ein Anspruch auf Erteilung von Duldungen, da es den Klägerinnen nicht unzumutbar sei, das Visumverfahren nachzuholen.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerinnen. Zur Begründung wird ausgeführt, das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass für einen Anspruch gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt sei. Es möge sein, dass den Klägerinnen eine vorübergehende Trennung vom Ehemann und Vater für die übliche Dauer des Visumverfahrens zumutbar sei. Aufgrund der katastrophalen Überlastung der deutschen Botschaft in Erbil und auch in Teheran müssten die Klägerinnen allerdings mit einer jahrelangen Trennung rechnen. Der Klägerin zu 1 und ihrem Ehemann sei es bislang nicht gelungen, einen Termin für die Beantragung eines Visums zu erhalten. Man könne auch nicht davon ausgehen, dass die Klägerinnen ohne rechtfertigende Gründe das nationale Visumverfahren umgehen wollten. Gerade auch aufgrund des jugendlichen Alters der Klägerin zu 2 habe es faktisch keine andere Möglichkeit für die Klägerinnen gegeben, als ohne Visum in das Bundesgebiet einzureisen, anderenfalls wäre die Trennung für Jahre vorprogrammiert gewesen, was zu einer erheblichen Schädigung in der Entwicklung insbesondere der Klägerin zu 2 geführt hätte. Unter dem 12. April 2019 ergänzten die Klägerinnen ihren Vortrag dahingehend, dass sie vor ihrer Einreise nach Deutschland mehrfach versucht hätten, bei verschiedenen Botschaften der Bundesrepublik Deutschland einen Termin zur Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung zu erhalten, allerdings vergeblich. Eine nicht absehbare Trennungsdauer könne ein besonderer Umstand sein im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, insbesondere, wenn es sich um die Trennung eines kleinen Kindes von seinem Vater handle. Es wäre nicht verhältnismäßig, die Klägerinnen jetzt zu zwingen wieder auszureisen und monatelang und eventuell länger auf ein Visum zur Familienzusammenführung zu warten. Unter dem 25. Juli 2019 ließen die Klägerinnen ergänzen, der Ehemann und Vater sei am 2. Juli 2019 eingebürgert worden, er sei nunmehr deutscher Staatsangehöriger.
Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vorliegen, weil die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten besitzt.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die bereits dann gegeben ist, wenn bei summarischer Überprüfung ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26). Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz fordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr. des Bundesverfassungsgerichts, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags also, wenn dieser vollständig vorliegt und der Prozessgegner Gelegenheit zur Äußerung hatte. Ausnahmsweise ist jedoch hiervon abweichend der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts – hier des Beschwerdegerichts – maßgeblich, wenn sich im Laufe des Verfahrens die Sach- und Rechtslage zugunsten eines Klägers geändert hat, so dass sich infolge dieser Änderung nunmehr hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung erkennen lassen. Denn für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage und damit auch für den Beurteilungszeitpunkt kommt es allein auf das materielle Recht an. Es wäre mit dem Sinn der Vorschriften über die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht vereinbar, wenn man unter Berufung auf das Fehlen hinreichender Erfolgsaussichten in der Vergangenheit die Beschwerde zurückweisen und einen Antragsteller darauf verweisen würde, wegen einer aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage mittlerweile positiven Beurteilung der Erfolgsaussichten einen erneuten Antrag auf Prozesskostenhilfe zu stellen (BayVGH, B.v. 10.4.2013 – 10 C 12.1757 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 21.12.2009 – 19 C 09.2958 – juris Rn. 3 ff., jeweils m.w.N.).
Nach diesen Maßgaben ist vorliegend weder zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine hinreichende oder auch nur offene Erfolgsaussicht zu erkennen. Eine ausschlaggebende Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten der Klägerinnen ist vorliegend nicht eingetreten:
Hinsichtlich der zunächst begehrten Titelerteilungen gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG bzw. § 32 Abs. 1 AufenthG ist entgegen der Auffassung der Klägerinnen, die gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderliche Durchführung von Visumverfahren weder entbehrlich noch liegen die Voraussetzungen für ein Absehen für ein Visumerfordernis gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vor:
Die Durchführung eines Visumverfahrens ist nicht gemäß § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV entbehrlich. Danach kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn er Staatsangehöriger eines in Anhang II der Verordnung (EU) 2018/1806 aufgeführten Staates ist und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) besitzt, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind. Auf diese Norm können sich die Klägerinnen nicht stützen. Zum einen waren bei Antragstellung im Oktober 2016 ihre Schengen-Visa bereits abgelaufen. Zum anderen ist im Hinblick auf die von der Klägerin zu 1 geschlossene sogenannte Dänemark-Ehe bei der Anwendung dieser Vorschrift auf die Entstehung des Anspruchs auf eine Aufenthaltserlaubnis nach der letzten Einreise des Ausländers in das Bundesgebiet – auch von einem anderen Schengen-Staat aus – abzustellen; eine Entstehung des Anspruchs nach der Einreise ins Schengen-Gebiet, aber vor der letzten Einreise in das Bundesgebiet genügt nicht (vgl. BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23/09 – juris; Maor in Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 5 AufenthG Rn. 27.1 m.w.N.). Hinzu kommt, dass einer Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV die ersichtlichen Falschangaben der Klägerinnen im Visumverfahren, die zu einem Ausweisungsinteresse führen, entgegenstehen. Wegen der (von den Klägerinnen insoweit auch eingeräumten) ersichtlich unzutreffenden bzw. unvollständigen Angaben der Klägerinnen vor der Ersteinreise in das Bundesgebiet im Rahmen des Visumverfahrens, die zur Erteilung von Schengen-Visa führten, liegt ein (schwerwiegendes) Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG vor.
Die Durchführung eines Visumverfahrens ist zudem nicht gemäß § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV entbehrlich. Gemäß § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn seine Abschiebung nach § 60a AufenthG ausgesetzt ist und er z.B. aufgrund einer Eheschließung während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Diese Voraussetzungen liegen (soweit sie auf die Inhaberin eines Schengen-Visums anwendbar ist) deshalb nicht vor, weil der Anspruch (hier die Eheschließung der Klägerin zu 1) während des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet entstanden sein muss. Die Ehe wurde allerdings in Dänemark geschlossen (vgl. Maor, a.a.O., § 5 Rn. 30, VG Aachen, U.v. 13.4.2016 – 8 K 669/15 – juris Rn. 36, VG Bremen, B.v. 24.5.2016 – 2 V 188/16 – juris Rn. 32; VG des Saarlandes, B.v. 9.6.2016 – 6 L 205/16 – juris Rn. 13, 14; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 26.11.2019 – 5 K 2905/18 – juris Rn. 36).
Die Voraussetzungen für ein Absehen vom Erfordernis der Durchführung eines Visumverfahrens gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG liegen nicht vor. Es sind weder die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen erfüllt noch ist die Nachholung des Visumverfahrens aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar.
Wie ausgeführt steht der Erteilung von Aufenthaltstiteln ein (schwerwiegendes) Ausweisungsinteresse (jedenfalls) gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG entgegen. Unwidersprochen betont die Beklagte, dass die Klägerinnen schon vor ihrer erstmaligen Einreise in die Bundesrepublik Deutschland die Absicht hatten, längerfristig in Deutschland zu bleiben. Sie räumen selbst ein, dass sie keine andere Möglichkeit gesehen hätten, als ohne das erforderliche Visum einzureisen. Unwidersprochen führt die Beklagte auch aus, dass schon aufgrund der schnellen Eheschließung der Klägerin zu 1 am 20. Juli 2016 in Dänemark (Einreisedatum 1.7.2016) davon auszugehen sei, dass diese schon vor der erstmaligen Einreise einen längerfristigen Aufenthalt in Deutschland anstrebte. Demgegenüber haben die Klägerinnen unstreitig in ihren Anträgen auf Erteilung eines Schengen-Visums angegeben, die Dauer des geplanten Aufenthaltes betrage 90 Tage. Das Ausweisungsinteresse kann auch weiter berücksichtigt werden. Ausweisungsgründe dürfen in Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes einem Ausländer nur dann und solange entgegengehalten werden, als sie noch aktuell und noch nicht verbraucht sind und die Ausländerbehörde auf ihre Geltendmachung nicht ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 39). Dafür fehlen Anhaltspunkte. Die Klägerinnen haben durch ihr Verhalten die Gründe bestätigt, die den Gesetzgeber veranlasst haben, den Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG – erstmals in das Ausländergesetz – einzufügen. Es sollte berücksichtigt werden, dass der Ausländer durch Falschangaben dokumentiere, dass er nicht bereit sei, sich an die Rechtsordnung der Bundesrepublik zu halten, und dass er die zuständigen Behörden in ihrem Handeln bewusst in die Irre führe (BT-Drs. 14/7386 S. 56). Daher ist das Ausweisungsinteresse in der Person der Klägerinnen aktuell und nicht verbraucht.
Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens liegen nicht vor. Sie ergeben sich auch weder aus Art. 6 GG noch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK:
Zunächst ist festzuhalten, dass Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG keinen grundrechtlichen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt vermitteln. Dies gilt auch für den Nachzug zu berechtigter Weise in Deutschland lebenden Familienangehörigen. Allerdings sind die Ausländerbehörden verpflichtet, bei ihren Entscheidungen die bestehenden familiären Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und sie entsprechend ihrem Gewicht in den behördlichen Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris). Ebenso wenig wie Art. 6 GG gewährleistet Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht des Ausländers in einen bestimmten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ein Staat ist vielmehr berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte – EGMR – U.v. 18.10.2006 (Üner) Nr. 46410/99 – juris). Maßnahmen im Bereich der Einwanderung können jedoch das Recht auf Achtung des Familienlebens berühren. Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. Dabei ist eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durchzuführen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C 8.09 – juris m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR).
Davon ausgehend unterstellt der Senat (mangels nachvollziehbarer Angaben der Klägerinnen), dass zwischen den Klägerinnen und dem Ehemann/Vater eine aufenthaltsrechtlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft vorliegt und der Vater ein hinreichendes Maß an Elternverantwortung wahrnimmt, so dass sich grundsätzlich aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK rechtliche Schutzwirkungen ergeben können (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17 ff. m.w.N.; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12 m.w.N.). Auch dies zugrunde gelegt erweist sich eine Beendigung des Aufenthaltes der Klägerinnen zur Durchführung des Visumverfahrens nicht als unzulässig:
In den Blick zu nehmen ist zunächst, dass die Regelungen in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG dem Schutz wichtiger öffentlicher Interessen dienen. Die Pflicht zur Einreise mit dem erforderlichen Visum soll gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor der Einreise geprüft werden können, um die Zuwanderung von Personen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, von vornherein zu verhindern. Dabei dürfen auch generalpräventive Aspekte Berücksichtigung finden, damit das Visumverfahren seine Funktion als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung wirksam erfüllen kann. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wirkt dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom Ausland durchzuführende erforderliche Visumverfahren zu honorieren. Die bewusste Umgehung des erforderlichen Visumverfahrens darf nicht folgenlos bleiben, um dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung nicht zu entwerten. Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind daher prinzipiell eng auszulegen (BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C 15/14, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23/09 – juris). Es ist auch mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des erforderlichen Visumverfahrens üblicherweise einhergehender Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in das Bundesgebiet begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08; B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 5625/10 – jeweils juris). Für die Klägerinnen bedeutet dies grundsätzlich, dass sie als ohne das erforderliche Visum eingereiste Ausländer grundsätzlich ein Sichtvermerkverfahren im Heimatland durchzuführen haben.
Das Vorliegen einer schützenswerten familiären Gemeinschaft unterstellt, könnte es den Klägerinnen, die eine Abwesenheit von mehreren Monaten oder länger befürchten, zugemutet werden, sich für das Sichtvermerksverfahren in ihr Heimatland zu begeben, ohne dass die Grenze des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG erreicht würde. Die öffentlichen Interessen, insbesondere das öffentliche Interesse an der Beachtung des erforderlichen Visumverfahrens setzen sich gegenüber den (unterstellt) schutzwürdigen Interessen der Klägerinnen und ihrer im Bundesgebiet lebenden genannten Bezugsperson durch. In den Blick zu nehmen ist, wie lange ein Visumverfahren bei korrekter Sachbehandlung und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen ein derartiger Auslandsaufenthalt der Ausländer für die Familie hätte (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris). Eine Internetrecherche betreffend das Terminvergabesystem des Auswärtigen Amtes ergibt, dass das deutsche Generalkonsulat in Erbil geöffnet ist und Terminbuchungen durch Zahlung der Servicegebühren online oder durch Einbezahlung bei der Bank möglich sind (www.irak.diplo.de). Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass jedenfalls die schnelle Erteilung der Schengen-Visa (Anträge 7.6.2016, Erteilung 22.6.2016) gegen die behaupteten langen Bearbeitungszeiten beim deutschen Generalkonsulat in Erbil spricht. Es obliegt im Übrigen den Klägerinnen, im Einzelnen eine Absehbarkeit der Dauer des erforderlichen Visumverfahrens abzuklären (vgl. BayVGH, B.v. 30.8.2018 – 10 C 18.1497 – juris Rn. 26). Sie haben es durch die Gestaltung ihrer Ausreise selbst in der Hand, die für die Durchführung des Visumverfahrens erforderliche Dauer ihrer Abwesenheit im Bundesgebiet möglichst kurz und so familienverträglich wie möglich zu halten, indem sie bei der zuständigen Ausländerbehörde die grundsätzlichen Möglichkeiten eines Familiennachzugs abklären, indem sie weiter sich vorab (z.B. umgehend) für einen Termin für die Visumbeantragung registrieren lassen sowie z.B. eine Vorabzustimmung der zuständigen Ausländerbehörde nach § 31 Abs. 3 AufenthV einholen (das Angebot der Beklagten, ihnen eine Vorabzustimmung zur Durchführung des erforderlichen Visumverfahrens zum Familiennachzug zu erteilen, haben sie unter dem 21.12.2019 abgelehnt). Anhaltspunkte dafür, dass der Ehemann/Vater etwa einen unersetzbar notwendigen Beitrag zur Bewältigung eines familiären Alltags leisten würde, auf den die Klägerinnen auch nicht temporär verzichten könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Es entspricht durchaus der Normalität familiären Alltags, dass sich eine Mutter (wie hier die Klägerin zu 1 bereits in der Vergangenheit seit der Geburt des Kindes (29.1.2014) bis zur Ausreise (1.7.2016) geschehen) um ein nunmehr siebenjähriges Kind kümmert und dies ohne Schwierigkeiten bewältigen kann. In den Blick zu nehmen ist zudem, dass es auf der freien Entscheidung der Klägerinnen und des Ehemannes/Vaters beruht, (unterstellt) eine Lebensgemeinschaft bzw. Familie auf aufenthaltsrechtlich ungesicherter Basis gründen zu wollen und die Beteiligten auch nicht schutzwürdig darauf vertrauen können, eine (ggf.) familiäre Lebensgemeinschaft werde sich ohne größere verfahrensrechtliche Anstrengungen und Problemstellungen allein dadurch herstellen lassen, dass die Klägerinnen Fakten schaffen. Zu Recht weist die Beklagte weiter darauf hin, dass es dem Ehemann/Vater zumutbar ist, die familiäre Lebensgemeinschaft für die Dauer des Visumverfahrens durch Besuche aufrecht zu erhalten oder nötigenfalls in den Irak zurückzukehren, um die Familie dort wieder zusammenzuführen.
Soweit die Klägerinnen im Beschwerdeverfahren mitteilten, der Ehemann/Vater sei nunmehr deutscher Staatsangehöriger, ist zunächst festzuhalten, dass aufgrund des Trennungsprinzips ein Ausländer regelmäßig darauf zu verweisen ist, seine aufenthaltsrechtlichen Ansprüche aus den Rechtsgrundlagen abzuleiten, die der Gesetzgeber für die spezifischen Aufenthaltszwecke geschaffen hat (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 81 Rn. 7). Dies zugrunde gelegt fehlt bislang ersichtlich die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG. Unabhängig davon gelten auch insoweit die getätigten Ausführungen, dass die Durchführung eines Visumverfahrens weder entbehrlich ist noch die Voraussetzungen für ein Absehen vom Visumerfordernis vorliegen.
Soweit die Klägerinnen hilfsweise im Hinblick auf den Nachzug zu (nunmehr) Ehemann/Vater die Erteilung einer Duldung begehren ist schließlich auszuführen, dass ihnen aus den dargelegten Gründen insoweit ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (insbesondere im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG) nicht zukommt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2, 159 VwGO. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO). Eine Streitwertfestsetzung bedurfte es im Hinblick auf § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG nicht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 1 VwGO).


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