Europarecht

Zur Arzneimitteleigenschaft melatoninhaltiger Lebensmittel

Aktenzeichen  M 18 K 15.4632

Datum:
17.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28804
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AMG § 2, § 69

 

Leitsatz

1 Ein Präsentationsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG liegt vor, wenn es entweder ausdrücklich als ein solches Mittel bezeichnet wird oder aber sonst bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass es in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden Eigenschaften haben müsse. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die pharmakologische Wirkung eines Erzeugnisses ist zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eingriffe in die Körperfunktionen, die völlig unerheblich sind, können die Zuordnung zu den Arzneimitteln nicht rechtfertigen; die erhebliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und das Vorliegen erheblicher pharmakologischer Wirkungen müssen durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt sein. (Rn. 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
4 Die Einstufung eines Produktes als Funktionsarzneimittel verlangt positiv die Feststellung einer pharmakologischen Wirkung in nicht unerheblichem Maß; lediglich ein entsprechender Verdacht reicht nicht aus. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
5 Eine hinreichende pharmakologische Wirkung melatoninhaltiger Lebensmittel lässt sich aktuell nicht nachweisen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 2. Oktober 2015 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Parteien auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 2. Oktober 2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage ist im vorliegenden Fall der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Bei der angegriffenen Untersagungsverfügung handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt, so dass auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist, wenn das materielle Recht – wie hier – nicht die Maßgeblichkeit eines anderen Zeitpunkts bestimmt (BVerwG, U.v. 19. September 2013 – 3 C 15/12, juris Rn. 9).
Rechtsgrundlage für die Untersagungsverfügung des Beklagten vom 2. Oktober 2015 ist § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 Arzneimittelgesetz (AMG). Danach treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln oder Wirkstoffen untersagen, deren Rückruf anordnen und diese sicherstellen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für das Arzneimittel nicht vorliegt oder deren Ruhen angeordnet ist.
Eine Zulassungspflicht nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG setzt dabei das Vorliegen eines Arzneimittels im Sinn des § 2 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 AMG voraus.
Bei den streitgegenständlichen Produkten handelt es sich – zumindest nach derzeitigem Kenntnisstand – nicht um Arzneimittel.
Nach § 2 Abs. 1 AMG sind Arzneimittelstoffe oder Zubereitungen aus Stoffen,
1.die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierische Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind (sog. Präsentationsarzneimittel) oder
2.die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder
a.die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder
b.eine medizinische Diagnose zu stellen (sog. Funktionsarzneimittel).
Diese Definitionen beruhen auf dem europarechtlichen Arzneimittelbegriff in Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung des Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel (ABl. L 311 vom 28.11.2001, S. 67), zuletzt geändert durch Richtlinie 2012/26/EU vom 25. Oktober 2012 (ABl. L 299 vom 27.10.2012). Sie sind gemeinschaftsrechtlich vorgeprägt und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs richtlinienkonform auszulegen (vgl. OVG NRW, B.v. 13.10.2010 – 13 A 1187/10, juris Rn. 22 ff.).
Nicht dem Arzneimittelbegriff unterfallen gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 AMG Lebensmittel im Sinne des § 2 Abs. 2 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB). Diese Bestimmung verweist auf Art. 2 VO (EG) 178/2002. Danach sind Lebensmittel alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie von Menschen aufgenommen werden, wobei Arzneimittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts, d.h. der Definition in Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG nicht zu den Lebensmitteln gehören. Das Arzneimittelrecht und das Lebensmittelrecht sind folglich in der Weise aufeinander bezogen, als die in Frage kommenden Produkte nur entweder Arzneimittel oder Lebensmittel sein können (vgl. VG Köln, U.v. 25.4.2017 – 7 K 5986/13, juris Rn. 31 – 34 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 14.12.2006 – 3 C 40.05, juris Rn. 15 ff.)
Bei den streitgegenständlichen Produkten handelt es sich nicht um Präsentationsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Ein Produkt erfüllt diese Voraussetzungen, wenn es entweder ausdrücklich als ein solches Mittel bezeichnet wird oder aber sonst bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass es in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden Eigenschaften haben müsse (st. Rspr; z.B. BVerwG, U.v. 20.11.2014 – 3 C 25/13, juris Rn. 14 m.w.N.). Dies ist vorliegend unstreitig nicht gegeben.
Die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG liegen ebenfalls nicht vor.
Eine medizinische Diagnose soll offensichtlich nicht gestellt werden, so dass kein Fall des § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AMG vorliegt.
Auch ein Funktionsarzneimittel im Sinne § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG liegt nicht vor. Ob ein Erzeugnis unter diese Begriffsbestimmung fällt bedarf nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer Einzelfallprüfung, bei der alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen sind. Hierbei sind die pharmakologischen Eigenschaften das wesentliche Kriterium, auf dessen Grundlage, ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses, zu beurteilen ist, ob ein Funktionsarzneimittel vorliegt. Kann ein Erzeugnis bei bestimmungsgemäßer Anwendung die physiologischen Funktionen nicht nachweisbar und in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische (oder immunologische oder metabolische) Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen, kommt eine Einstufung als Funktionsarzneimittel nicht in Betracht. Danach ist die pharmakologische Wirkung zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels fällt (vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 17.8.2017 – 3 C 18/15, juris Rn. 12 mit umfangreichen weiteren Nachweisen).
Des Weiteren folgt aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, dass pharmakologische oder metabolische Wirkungen eines Stoffes nur dann die Zuordnung eines Stoffes zu den Arzneimitteln rechtfertigen können, wenn sie nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken und somit dessen Funktionsbedingungen wirklich beeinflussen, folglich die Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Eingriffe in die Körperfunktionen, die völlig unerheblich sind, können dagegen die Zuordnung zu den Arzneimitteln nicht rechtfertigen (BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 3 C 34/06, juris Rn. 29 m.w.N.).
Die erhebliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und das Vorliegen erheblicher pharmakologischer Wirkungen müssen durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt sein (BVerwG, U.v. 25.7.2007 – 3 C 23/06, juris Rn. 22). Den plausiblen Nachweis einer pharmakologischen Wirkung schuldet der Beklagte, wenn er die Behauptung eines (Funktions-)Arzneimittels aufstellt (BVerwG, U.v. 26.5.2009 – 3 C 5/09, juris Rn. 17).
Soweit sich der Beklagte insoweit unter Berufung auf die (nicht rechtskräftige) Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln vom 25. April 2017 (Az. 7 K 3110/14) auf eine Art gestufte Beweislast beruft, überzeugt dies nicht. Das Verwaltungsgericht Köln führt insoweit – ohne erkennbare Auseinandersetzung mit oben genannter Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung – aus, dass es, sofern ein Produkt erhebliche Anhaltspunkte für ein Funktionsarzneimittel biete, dem Unternehmer obliege, verbleibende Unklarheiten durch Vorlage entsprechenden Datenmaterials zu beseitigen. Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass solche Anhaltspunkte aufgrund der begründeten Stellungnahme der zuständigen Landesbehörde vorlägen, vgl. § 21 Abs. 4 S. 2 AMG (VG Köln, U.v. 25.4.2017 – 7 K 3110/14, juris Rn. 37). Diese Argumentation dürfte bereits dem Gesetzeswortlaut widersprechen, da der Antrag der zuständigen Landesbehörde nach § 21 Abs. 4 Satz 2 AMG lediglich zu einer Prüfung der Zulassungspflicht durch die zuständige Bundesoberbehörde führt (§ 21 Abs. 4 Satz 1 AMG). Einer solchen Überprüfung bedürfte es jedoch nicht, sofern bereits allein der Antrag ausreichende Anhaltspunkte für die Einordnung eines Produktes als Funktionsarzneimittel ergeben würde.
Auch die Ausführungen des Beklagten, dass von ihm lediglich die pharmakologische Wirkung nachzuweisen sei, hingegen von Herstellerseite der Nachweis zu erbringen sei, dass die Erheblichkeitsschwelle nicht erreicht werde, erscheint nicht zulässig. Die Einstufung eines Produktes als Funktionsarzneimittel verlangt positiv die Feststellung einer pharmakologischen Wirkung in nicht unerheblichem Maß. Diese Voraussetzungen müssen erfüllt sein, lediglich ein entsprechender Verdacht reicht nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2009 – 3 C 5/09, juris Rn. 19). Die Umkehr der Beweislast bezüglich des Erreichens der Erheblichkeitsschwelle würde jedoch gerade dazu führen, dass Produkte ohne entsprechenden plausiblen Nachweis ihrer Wirkungsweise als Funktionsarzneimittel eingestuft würden.
Das Gericht sieht den Nachweis einer hinreichenden pharmakologischen Wirkung der streitgegenständlichen Produkte für nicht gegeben an und schließt sich insoweit der aktuellen wohl überwiegenden Rechtsprechung zu melatoninhaltigen Lebensmitteln an (vgl. LG München, U.v. 26.4.2016 – 33 O 5198/14; LG Berlin, U.v. 11.6.2018 – 101 O 31/14 – jeweils den Parteien bekannt, unveröffentlicht). Die entgegenstehenden Entscheidungen des VG Köln vom 25. April 2017 (Az.: 7 K 3110/14) sowie des LG Stuttgart vom 17. November 2014 (Az.: 36 O 23/14) überzeugen nicht und sind auch mit Rechtsmitteln angegriffen.
Insbesondere bestätigen auch die Ausführungen des ins vorliegende Verfahren eingeführten Gutachtens vom 31. August 2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 29. September 2017 – welches aufgrund eines Beweisbeschlusses des Landgerichts Dortmund zu den streitgegenständlichen Produkten erstellt wurde -, dass für eine pharmakologische Wirkung (überphysiologisch) von 1 mg exogenes Melatonin keine sicheren Belege vorlägen (S. 5 des Gutachtens vom 31.8.2016; Punkt 4.10 der ergänzenden Stellungnahme vom 29. September 2017, S. 11). Eine Sachentscheidung ist im dortigen Verfahren nach Vorlage des Gutachtens nicht mehr erfolgt.
An dem Ergebnis des Gutachtens bestehen für das Gericht keine Zweifel. Das ausführliche Gutachten schildert nachvollziehbar die angewandte Vorgehensmethode und setzt sich intensiv mit vorliegenden Studien auseinander.
Der Gutachter führt aus, dass der Begriff der pharmakologischen Wirkung in der Wissenschaft wertneutral als Wechselwirkung zwischen Stoff und Lebewesen verstanden werde. Damit sei für eine Wirkung im Körper eine Wechselwirkung Voraussetzung. Die Qualität der Wirkung könne gewertet werden. Sie könne nützlich, belanglos oder schädlich ausfallen, die Größe der Wirkung könne gemessen werden (Effektgröße) (S. 3f der ergänzenden Stellungnahme).
Hingegen weiche der Begriff der pharmakologischen Wirkung im Sinne einer Dosis-Wirkungs-Korrelation – wie von der Rechtsprechung gefordert – hiervon leicht ab. Eine pharmakologische Wirkung, die begrifflich verstanden werde als über die physiologische hinausreichend (physiologische Funktion des Körpers beeinflussend), lasse sich über die Effektgröße, die Wirksamkeitsintensität, erkennen (S. 1 und 9 der ergänzenden Stellungnahme). Zum Nachweis der Wirksamkeit und der wirksamen Dosis eines Arzneistoffes am Menschen beschreibe die Dosis-Wirkungs-Beziehung klassisch einen quantitativen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung innerhalb des Wirkbereiches (S. 5 der ergänzenden Stellungnahme).
Eine 1,0 mg Dosierung von Melatonin mit kurzer Melatoninspiegelanhebung werde in der Literatur als leicht pharmakologisch bzw. „überphysiologisch“ bezeichnet werde. Ob diese Dosierung dann physiologische oder pharmakologische Effekte zeige, sei anhand von Studienergebnissen zu bewerten.
Was den genauen Mechanismus, wie Melatonin auf den Schlaf wirke, angehe, gebe es trotz jahrzehntelanger Forschung keine wissenschaftliche Klarheit (S. 6 der ergänzenden Stellungnahme). Die Wissenschaft habe jedoch für Dosen um 1 mg exogenes Melatonin keine klassische Dosis-Wirkungs-Beziehung nach dem Prinzip ableiten können, je mehr exogenes Melatonin, desto schneller schlafe man ein, weil zum Beispiel hypothetisch mehr Rezeptoren von exogenem Melatonin aktiviert würden. Bei Melatonindosen bis zu 3 mg bleibe die Reduktion der Einschlaflatenz vergleichbar. D.h., es lasse sich trotz pharmakologischer Dosis nur eine Reduktion der Einschlaflatenz erreichen, die schon mit 0,3 mg Dosis vorhanden sei; eine Dosis, die in der Literatur als physiologisch bezeichnet werde (S. 8 der ergänzenden Stellungnahme). Es bestehe lediglich eine Ursache-Wirkungs-Beziehung, in dem Sinne, dass ein Zusammenhang zwischen moderater einschlaffördernden Effekten und einer exogenen, oralen Melatoningabe dosisabhängig um 1 mg angenommen werden könne (S. 5 der ergänzenden Stellungnahme).
Im Fall von Melatonin habe die Wissenschaft somit keine klassische Dosis-Wirkungs-Korrelation für den Effekt, die Reduktion der Einschlaflatenz, ableiten können (S. 9 der ergänzenden Stellungnahme), so dass kein Beleg für eine pharmalogische Wirkung im Sinne einer überphysiologischen Wirkung vorliege.
Von Beklagtenseite wird hingegen ausgeführt, dass den Ausführungen des Gutachtens fachlich weitgehend zu folgen sei, jedoch das Vorhandensein einer Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht als notwendige Bedingung für eine pharmakologische Wirkung angesehen werde. Vielmehr könne auch eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zum Nachweis einer pharmakologischen Wirkung ausreichen. Eine solche Ursache-Wirkungs-Beziehung werde auch im Gutachten angenommen. Viele Arzneistoffe würden bewusst so verabreicht, dass zwar ihre Konzentration im Blut nicht über ihre normale physiologische Konzentration hinaus aufgehoben werde, trotzdem aber die gewünschte therapeutische Wirkung eintrete. Der geringe Effekt auf die Verkürzung der Einschlafzeit sei kein Argument gegen eine pharmakologische Wirkung. Falle die beabsichtigte Wirkung zu gering aus, so werde möglicherweise eine arzneimittelrechtliche Zulassung versagt werden, die Wirkung bleibe jedoch nach wie vor pharmakologisch.
Wie der Gutachter im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme bereit unter Punkt 3.2 erläutert, weicht die Definition der pharmakologischen Wirkung in der Pharmakologie und Toxikologie von dem in der Rechtsprechung verwendeten ab. So spreche die Pharmakologie wertneutral von einer Wechselwirkung zwischen Stoff und Lebewesen. Für eine Wirkung im Körper sei eine Wechselwirkung im Körper Voraussetzung. Die Qualität der Wirkung könne gewertet werden, sie können nützlich, belanglos oder schädlich ausfallen.
Eine in diesem Sinne verstandene pharmakologische Wirkung entspricht jedoch nicht der Definition eines Funktionsarzneimittels im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG, wonach eine pharmakologischen Wirkung die physiologischen Funktionen wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen muss. Die menschlichen physiologischen Funktionen sind die normalen Lebensvorgänge, die im menschlichen Körper ablaufen. Diese müssen durch die Anwendung des Mittels wiederhergestellt, korrigiert oder beeinflusst werden. Damit soll nicht jede beliebige und noch so geringfügige Veränderung, die sich innerhalb der Spannweite des Normalen abspielt, erfasst sein. Die Wiederherstellung der physiologischen Funktionen setzt voraus, dass die normalen Lebensvorgänge nicht mehr ordnungsgemäß ablaufen. Auch von einer Korrektur kann nur bei einer Abweichung vom normgemäßen – normalen – Funktionieren des Organismus die Rede sein. Da die Beeinflussung der physiologischen Funktionen diesen beiden Vorgängen ergänzend hinzugefügt und damit gleichgestellt wird, muss auch sie zu einer Veränderung führen, die außerhalb der normalen im menschlichen Körper ablaufenden Lebensvorgänge liegt. Es genügt mithin nicht, dass die Einnahme eines Stoffes Einfluss auf die menschliche Physiologie hat. Das geschieht mit jeder Nahrungsaufnahme. Verlangt wird vielmehr eine wirkliche Veränderung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und eine nennenswerte Auswirkung auf den Stoffwechsel (BVerwG, U.v. 25. Juli 2007 – 3 C 23/06, juris Rn. 20 m.w.N.; OVG Lüneburg, U.v. 2.11.2017 – 13 LB 31/14, juris Rn. 40 m.w.N.).
Die erhebliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und das Vorliegen erheblicher pharmakologischer Wirkungen müssen durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt sein (BVerwG, U.v. 25. Juli 2007 – 3 C 23/06, juris Rn. 22). Das ist hier nicht der Fall. Das Gericht folgt der Beurteilung des Gutachters, dass das Vorliegen einer Ursache-Wirkungs-Beziehung im vorliegenden Fall für den Nachweis einer pharmakologischen Wirkung, die über die physiologische Funktion hinausreicht und einen nennenswerte Wirksamkeitsintensität erreicht, nicht ausreichend ist.
Selbst bei Annahme einer pharmakologischen Wirkung in diesem Sinne überschreiten die streitgegenständlichen Produkte jedenfalls nicht die Erheblichkeitsschwelle.
Stoffe, die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, sich aber nicht nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken und somit dessen Funktionsbedingungen nicht wirklich beeinflussen, dürfen nicht als Funktionsarzneimittel eingestuft werden Der Begriff des Funktionsarzneimittels soll nur diejenigen Erzeugnisse erfassen, deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Enthält ein Erzeugnis im Wesentlichen einen Stoff, der auch in einem Lebensmittel in dessen natürlichem Zustand vorhanden ist, so gehen von ihm keine nennenswerten Auswirkungen auf den Stoffwechsel aus, wenn bei einem normalen Gebrauch des fraglichen Erzeugnisses seine Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann (st. Rspr; BGH, U.v. 14.1.2010 – I ZR 67/07, juris Rn. 15, OVG Lüneburg, U.v. 2.11.2017 – 13 LB 31/14, juris Rn. 59ff. m.w.N.; grundlegend: EuGH, U.v. 15.11.2007 – C-319/05 – juris).
Irrelevant ist insoweit, ob die Aufnahme der Stoffe zu den normalen Ernährungsgewohnheiten gehört. Maßgeblich ist vielmehr, dass die Aufnahme einer solchen Menge des Lebensmittels dieselbe physiologische Wirkung erzielt, wie durch das betreffende Mittel und dass es sich dabei noch um eine für den Verzehr als Lebensmittel angemessene Menge handelt (BGH, U.v. 14.1.2010 – I ZR 67/07, juris Rn. 18).
Durch die in das Verfahren eingeführten Gutachten wurde hinreichend belegt, dass eine Aufnahme von 1 mg Melatonin auch durch den Verzehr einer angemessenen Menge von Lebensmitteln erreicht werden kann.
Der durch das Landgericht München I im Verfahren 33 O 5198/14 bestellte Gutachter Prof. Dr. med. H. H. führt in seinem Gutachten vom 14. August 2015 aus, dass durch die gezielte Aufnahme von 5 g Pistazien am Tag eine Tagesdosis von 1 mg Melatonin erreichbar wäre und eine solche Aufnahme gesundheitlich unbedenklich sei. Pistazien würden jedoch nicht zu den in Deutschland üblichen und in größeren Mengen verzehrten Lebensmitteln gehören; der tägliche Durchschnittsverzehr liege rechnerisch deutlich unter 1 Gramm pro Person. Als Ergebnis hielt der Gutachter daher fest, dass eine Melatoninzufuhr von 1 mg pro Tag mit einer ausgewogenen, gesundheitsförderlichen Ernährungsweise mit Lebensmitteln des in Deutschland üblichen Verzehrs nicht zu erreichen sei. Eine solche weitgehende Einschränkung in Bezug auf die Vergleichbarkeit der Stoffaufnahme durch Lebensmittel ist jedoch nicht gerechtfertigt. Ausreichend ist, dass die Aufnahme durch Lebensmittel ohne Gesundheitsbedenken möglich ist.
Der Gutachter Dr. W. H. führt in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29. September 2017 aus, dass die Aufnahme von 1 mg Melatonin durch die streitgegenständlichen Produkte nicht nennenswert über eine Aufnahme bei einem Verzehr einer angemessenen Menge melatoninhaltiger Lebensmittel hinausgeht. Beispielhaft könnten 1 mg Melatonin mit einer Pfifferlingsmahlzeit aus rund 270 g Frischpilz – was einer üblichen Verzehrmenge entspräche – aufgenommen werden; andere Lebensmittel könnten aufgrund kleinerer Gehalte für zusätzliche Zufuhrmengen sorgen.
Zur Überzeugung des Gerichts steht daher fest, dass zumindest die Erheblichkeitsschwelle durch die streitgegenständlichen Produkte nicht überschritten wird. Auch von Beklagtenseite wurden die gutachterlichen Ausführungen insoweit nicht angezweifelt.
Da somit nicht nachgewiesen ist, dass es sich bei den streitgegenständlichen Produkten um Arzneimittel handelt, sind die Untersagungsverfügungen im Bescheid vom 2. Oktober 2015 rechtswidrig.
Ebenso ist die Untersagung der Bewerbung der streitgegenständlichen Produkte rechtswidrig, da auch insoweit das Vorliegen eines Arzneimittels Tatbestandsvoraussetzungen ist, vgl. § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG i.v.m. § 64 Abs. 3 AMG § 3a Satz 1 HWG.
Der Bescheid vom 2. Oktober 2015 war daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Kostenausspruchs beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben