Europarecht

Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung bei legaler Einreise mit einem Visum

Aktenzeichen  W 8 S 19.50578

Datum:
8.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 16496
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) 604/2013 Art. 12 Abs. 4, § 13 Abs. 2, § 22 Abs. 7
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1

 

Leitsatz

Ist keine illegale Einreise in die Hoheitsgebiete der Mitgliedsstaaten erfolgt, so ist Art. 13 Abs. 2 Dublin III-VO nicht anwendbar. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 27. Juni 2019 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 20. März 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte am 22. März 2019 ein Asylgesuch und stellte am 1. April 2019 einen förmlichen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 25. April 2019 reagierten die französischen Behörden nicht innerhalb von zwei Monaten (sondern erst am 26.6.2019 ablehnend).
Mit Bescheid vom 27. Juni 2019 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Frankreich wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf zehn Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 3. Juli 2019 erhob der Antragsteller zu Protokoll des Urkundsbeamten im Verfahren W 8 K 19.50577 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte im vorliegenden Verfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung führte der Antragsteller im Wesentlichen aus: Er sei mit einem für sechs Monate geltenden Schengen-Visum von Marokko nach Europa gekommen. Er sei der Meinung, dass nach Ablauf desselben nach Art. 12 Dublin III-VO das Land für ihn zuständig sei, in dem er sich gerade befinde, nämlich Deutschland. Das Bundesamt habe seiner Entscheidung aber Art. 13 Dublin III-VO zugrunde gelegt, was nicht richtig sei. Nach Frankreich könne er nicht zurückkehren, da er aufgrund der bereits dem Bundesamt geschilderten Fälle traumatisiert sei und aufgrund dessen auch schon Selbstmordgedanken gehabt habe. Auch sei bei einer Rückkehr nach Frankreich zu erwarten, dass man erst drei Monate auf der Straße leben müsste, bevor man eine Unterkunft zugewiesen bekomme.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 19.50577) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 27. Juni 2019 begehrt.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 27. Juni 2019 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten, so dass das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Frankreich ist für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig. Die Zuständigkeit Frankreichs ergibt sich insbesondere nicht aus dem vom Bundesamt angewendeten Art. 13 Abs. 2 Dublin III-VO (i.V.m. Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO). Der Antragsteller hat sich zwar vor der Antragstellung in Deutschland während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Monaten in Frankreich aufgehalten. Jedoch ist der Antragsteller nicht illegal in die Hoheitsgebiete der Mitgliedsstaaten eingereist, sondern auf dem Luftweg legal aufgrund des französischen Visums, welches vom 1. Juni 2017 bis 27. November 2017, 90 Tage gültig war, Der Antragsteller gab glaubhaft an, am 6. September 2017 aufgrund des Visums letztmalig Marokko verlassen zu haben – wie schon wiederholt in der Vergangenheit – und mit dem Flugzeug nach Frankreich gereist zu sein, sich dort ein halbes Jahr aufgehalten zu haben, bevor er dann über die Niederlande, Schweiz und Italien wieder zurück nach Frankreich gekommen sei, um von dort schließlich in Deutschland einzureisen und erstmalig einen Asylantrag zu stellen. Gerade aufgrund der wiederholt in der Vergangenheit erteilten französischen Visa und der wiederholten touristischen Flugreisen des Antragstellers, der beim Bodenpersonal bei einer marokkanischen Fluglinie angestellt gewesen ist, kann auch nicht zu seinen Lasten unterstellt werden kann, dass die Umstände der Einreise nicht festgestellt werden können. Der Antragsteller hat vielmehr sowohl bei seiner Anhörung beim Bundesamt als auch gegenüber der Ausländerbehörde seine legale Einreise mit dem Flugzeug am 6. September 2017 von Casablanca nach Paris und seine verschiedenen Aufenthalte in Europa wiederholt widerspruchsfrei und schlüssig vorgebracht.
Ist jedoch wie hier keine illegale Einreise in die Hoheitsgebiete der Mitgliedsstaaten erfolgt, so ist Art. 13 Abs. 2 Dublin III-VO, den die Antragsgegnerin sowohl ihrem Ersuchen an die französischen Behörden als auch dem streitgegenständlichen Bescheid zugrunde gelegt hat, nicht anwendbar. Ist die Einreise ins Gebiet der Mitgliedsstaaten legal aufgrund eines Visums erfolgt, kommen vielmehr die dafür einschlägigen Artikel der Dublin III-VO zur Anwendung (vgl. ebenso das österreichische BVwG, B.v. 24.4.2019 – W 175 2217608-1/2Z – RIS, Rechtsinformationssystem des Bundes: https://www.ris.bka.gv.at/JudikaturEntscheidung.wxe?Abfrage=Bvwg& Dokumentnummer=BVWGT_20190424_W175_2217608_1_00).
Besitzt der Antragsteller wie hier ein seit mehr als sechs Monaten abgelaufenes Visum, aufgrund dessen er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates einreisen konnte und hat er die Hoheitsgebiete der Mitgliedsstaaten nicht verlassen, so ist der Mitgliedsstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird (Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 2 Dublin III-VO). Demnach ist die Bundesrepublik Deutschland zuständig, weil der Antragsteller bei der letzten Einreise ins Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten am 6. September 2017 mit seinem gültigen Visum eingereist ist und sich zwar in verschiedenen Staaten Europas aufgehalten hat (Frankreich, Niederlande, Schweiz, Italien) aber das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten insgesamt nicht verlassen hat. Da der Kläger in den anderen Mitgliedsstaaten weder Fingerabdrücke abgegeben hat, noch einen Asylantrag gestellt hat, ist nunmehr die Bundesrepublik Deutschland zuständig, in dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.
Der Antragsteller kann sich im Rahmen seines Rechtsbehelfs gegen eine ihm gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auch auf den Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO berufen. Denn die Dublin III-VO gewährleistet, dass dem Schutzsuchenden ein wirksamer Rechtsbehelf gegen jede ihm gegenüber möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zusteht (vgl. etwa EuGH, U.v. 26.7.2017 – 10-670/16 – juris).
Nach alledem war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben