Europarecht

Zweites Wiederaufnahmeverfahren mit Frankreich nach zweiter Einreise des Asylbewerbers nach Deutschland und erfolglosem Asylverfahren in Frankreich, Keine Zuständigkeitsänderungen mehr nach der Dublin III-VO nach einmal festgelegter Zuständigkeit, Keine Zuständigkeitsprüfung nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO im Wiederaufnahmeverfahren, Asylantragstellung nach abgelaufenem Visum, (Wohl) keine Notwendigkeit der erneuten Unzulässigkeitsfeststellung, wenn diese durch ein ersten Wiederaufnahmeverfahren bereits feststeht, keine Rechtsverletzung bei einer dennoch getroffenen Unzulässigkeitsfeststellung, keine Unklarheit des Bundesamtsbescheids durch Nennung mehrerer Tatbestände nach § 29 Abs. 1 AsylG in den Bescheidsgründen

Aktenzeichen  AN 17 S 21.50055

Datum:
6.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31530
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 34a
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 4 Satz 2, 18 Abs. 1 Buchst. d)

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), mit dem zum zweiten Mal ihre Abschiebung nach Frankreich angeordnet wurde, weil sie dort ein Asylverfahren durchlaufen hatte.
Die 1992 geborene Antragstellerin ist dschibutische Staatsangehörige somalischer Volkszugehörigkeit. Nach ihren Angaben vor dem Bundesamt hat sie bis 2014 in Somalia gelebt und ist über Dschibuti und Äthiopien am 10. Juli 2015 mit einem von der französischen Botschaft in … ausgestellten Schengenvisum nach Frankreich gereist, wo sie fünf Jahre gelebt hat. Am 16. April 2020 stellte sie erstmals einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland und gab im Rahmen einer schriftlichen Anhörung an, am 11. März 2020 von Frankreich nach Deutschland eingereist zu sein.
Eurodac-Datenbank-Abfragen durch das Bundesamt ergaben für Frankreich Asylantragstellungen für 16. März 2018, 28. März 2019 und 17. Oktober 2019. Auf das Übernahmegesuch des Bundesamtes vom 24. April 2020 erklärte Frankreich mit Schreiben vom 27. April 2020, dass die Rückübernahme der Antragstellerin gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO akzeptiert werde.
Mit Bescheid vom 28. April 2020, der Antragstellerin am 14. Mai 2020 zugestellt, lehnte das Bundesamt daraufhin den Antrag als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst d) Dublin III-VO ab und ordnete unter Ablehnung von Abschiebungsverboten und Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes von zehn Monaten die Abschiebung der Antragstellerin nach Frankreich an.
Am 3. Juni 2020 teilte das Bundesamt der Antragstellerin mit, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise gem. § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO unter dem Vorbehalt des Widerrufs mit der Wirkung der Unterbrechung der Überstellungsfrist ausgesetzt werde. Mit gleichem Datum teilte das Bundesamt die Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO auch dem französischen Innenministerium mit. Am 26. Juni 2021 widerrief das Bundesamt die Aussetzung.
Am 17. September 2020 wurde die Antragstellerin nach Frankreich überstellt.
Am 20. Januar 2021 stellte sie in Deutschland einen weiteren Asylantrag und gab an, am 11. Dezember 2020 erneut nach Deutschland eingereist zu sein. Sie habe in Frankreich in … bei Verwandten gelebt. 2018 habe sie einen Asylantrag gestellt, der aber abgelehnt worden sei. Sie habe auch erfolglos geklagt und vor dem Richter viele Fragen beantworten müssen. Sie sei in Frankreich im Gefängnis gewesen und auf die Straße gesetzt worden, damit sie in ihr Heimatland zurückkehre. Ihre Asylgründe seien immer noch die gleichen; sie sei von ihrem Vater mit dem Mann ihrer verstorbenen Schwester zwangsverheiratet worden. Sie habe eine Tierhaarallergie und werde manchmal ohnmächtig.
Auf ein erneutes Übernahmeersuchen vom 21. Januar 2021 hin akzeptierte Frankreich mit Schreiben vom 3. Februar 2021 die Rückübernahme der Antragstellerin nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 8. Februar 2021, der Antragstellerin zugestellt am 11. Februar 2021, lehnte das Bundesamt ihren Antrag erneut als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Frankreich (Ziffer 3) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete dieses auf 30 Monate ab der Abschiebung (Ziffer 4).
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass Frankreich gemäß Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei und es auch bei der Unzulässigkeit des Antrags bleibe, falls sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstelle, dass internationaler Schutz in einem anderen Staat gewährt worden sei oder ein erfolgloses früheres Verfahren im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG vorliege und das Verfahren nicht wiederaufzunehmen sei.
Hiergegen erhob die Antragstellerin zur Niederschrift der Rechtsantragstelle am 17. Februar 2021 Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach und beantragte gemäß § 80 Abs. 5 VwGO,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 22. Februar 2021, den Antrag abzulehnen.
Mit Schriftsatz vom 1. März 2021 beantragte die Antragstellerin über ihre Prozessbevollmächtigte zudem Prozesskostenhilfe und Beiordnung der bevollmächtigten Kanzlei.
Mit Schriftsatz vom 16. März 2021 berief sich die Antragstellerseite darauf, dass unklar sei, nach welcher Vorschrift die Unzulässigkeit des Antrags festgestellt worden sei. Eine „Wahlfeststellung“ zwischen § 29 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 sei nicht möglich. Eine Abschiebung der Antragstellerin sei wegen ihrer speziellen Erkrankung durch plötzliche Ohnmachtsanfälle bzw. ohne diesbezügliche Aufklärung nicht zulässig. Es sei auch unklar, ob die Antragstellerin in Frankreich tatsächlich vor Gericht gewesen sei. Sie habe in Frankreich keine Verwandte, so dass ihr dort Obdachlosigkeit drohe.
Die Beklagte teilte am 3. August 2021 mit, dass Frankreich auf die Anfragen, welchen Status das Asylverfahren der Antragstellerin dort habe, nicht reagiert habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der so auszulegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheids vom 8.2.2021) nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) ist zulässig, insbesondere fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt, aber unbegründet, weil die gerichtliche Interessensabwägung ein Überwiegen des Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin ergibt.
Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Ermessensentscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gegeneinander abzuwägen (Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 85 ff.). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben wird; ergibt eine vorläufige Überprüfung der Hauptsacheklage dagegen, dass diese offensichtlich erfolgreich sein wird, so überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 93).
Nach dieser Maßgabe erweist sich die in Ziffer 3 des Bescheids vom 8. Februar 2021 erlassene Abschiebungsanordnung nach Frankreich voraussichtlich als rechtmäßig.
1. Rechtsgrundlage für die Anordnung der Abschiebung nach Frankreich ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass die Abschiebung dorthin durchgeführt werden kann.
Daran, dass Frankreich für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin zuständig ist, bestehen keine ernsthaften Zweifel (a). Spätestens durch die von den französischen Behörden tatsächlich getroffene inhaltliche Asylentscheidung ist das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen europäischen Staates jedenfalls zu Gunsten einer Festlegung auf Frankreich abgeschlossen und nicht mehr änderbar (b). Im hier vorliegenden Fall eines Wiederaufnahmeverfahren ist überdies die Zuständigkeit nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO nicht zu prüfen (c). Systemische Mängel im Asylverfahren oder unmenschliche Lebensverhältnisse für Asylbewerber bestehen in Frankreich nicht (d), ebenso wenig ergeben sich formelle Hinderungsgründe für eine Rückführung nach Frankreich (e).
a) Frankreich ist der für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin zuständige Staat, weil die Antragstellerin im März 2020 mit einem (von Frankreich) ausgestellten Visum in den Dublin-Raum eingereist ist und dort auch zuerst einen Asylantrag gestellt hat. Dieser Sachverhalt ergibt sich aus den Äußerungen der Antragstellerin selbst, aus der VIS-Datenbank-Auskunft und aus den Treffern in der Eurodac-Datei; danach hat die Antragstellerin in Frankreich drei Asylanträge gestellt, den ersten am 16. März 2018. Frankreich ist damit jedenfalls nach Art. 12 Abs. 4 UAbs. 2 Dublin III-VO zuständig. Danach hat derjenige Mitgliedstaat über einen Asylantrag zu entscheiden, in dem der Antragsteller seinen ersten Asylantrag stellt, wenn ein Einreise-Visum für den Dublin-Raum zum Antragszeitpunkt mehr als sechs Monate abgelaufen war. Falls die Asylantragstellung schon vor Ablauf dieser Frist erfolgt sein sollte, was nach dem Auszug aus der Eurodac-Datei aber nicht anzunehmen ist, ergäbe sich die Zuständigkeit Frankreichs aus Art. 12 Abs. 4 UAbs. 1 oder Abs. 2 Dublin III-VO, weil Frankreich das Visum erteilt hat.
b) Über den Asylantrag der Antragstellerin hat Frankreich in der Sache auch bereits abschließend negativ entschieden, was sich aus der von Frankreich in den Schreiben vom 27. April 2020 und 3. Februar 2021 genannten Übernahmevorschrift des Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO ergibt und auch der Aussage der Antragstellerin entspricht, dass ihr Asylbegehren in Frankreich sogar gerichtlich überprüft worden und erfolglos geblieben ist. Liegt bereits eine inhaltliche Asylentscheidung vor, ist das Zuständigkeitsverfahren abgeschlossen und kein Raum mehr für eine erneute, abändernde Zuständigkeitsbestimmung. Das abgeschlossene Dublin-Verfahren kann nicht neu aufgerollt werden; die Zuständigkeit steht vielmehr bindend fest, selbst dann, wenn die Zuständigkeit zu Unrecht angenommen worden sein sollte (vgl. hierzu VG Ansbach, B.v. 9.9.2021 – AN 17 S 21.50195 – juris).
Diese Rechtsfolge ist in der Dublin III-VO zwar nicht ausdrücklich bzw. mit Allgemeingültigkeit geregelt, sie ergibt sich aber aus der Zielsetzung der Dublin III-VO, aus verschiedenen Einzelregelungen in der Dublin III-VO und ist allgemein anerkannt. Grundlegendes Ziel der Dublin III-VO ist es, eine schnelle, praktikabel, klare und unveränderliche Zuständigkeit festzulegen (vgl. insbesondere Erwägungen 4 und 5 zur Dublin III-VO). Aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO ergibt sich, dass ein Asylantrag nur von einem einzigen Staat inhaltlich geprüft wird. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO legt fest, dass die Zuständigkeit in Bezug auf den Zeitpunkt des ersten Asylantrags zu ermitteln ist (Versteinerungsklausel) und spätere Änderungen keine Rolle mehr spielen. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO gewährleistet damit materiell-rechtlich, dass die Bestimmung der Zuständigkeit objektiv und grundsätzlich unveränderlich erfolgt. Aus Art. 7 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO ergeben sich hierzu in engen Grenzen zwar Ausnahmen; insoweit ist aber festgelegt, dass bestimmte Aspekten längstens bis zu einer „Erstentscheidung in der Sache“ Berücksichtigung finden können. Für die Ermessensvorschrift des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist ebenfalls klar geregelt, dass ein Selbsteintritt eines Staates nur solange erfolgen kann, als ein anderer Staat noch keine Erstentscheidung in der Sache getroffen hat. Die von der französischen Asylbehörde getroffene und gerichtlich bestätigte Entscheidung über die Asylgründe hat die Zuständigkeit Frankreichs damit prinzipiell unveränderlich – außer aus dem Fristenregime der Dublin III-VO ergäbe sich zwischenzeitlich etwas anderes (siehe hierzu unten e) oder es lägen systemische Mängel vor (siehe d) – festgelegt (vgl. bereits VG Ansbach, B.v. 9.9.2021 – AN 17 S 21.50195 – juris).
c) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof (EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17 und C-583/17 – juris) ist es im Fall eines – hier vorliegenden – Wiederaufnahmeantrags nach Art. 23, Art. 24 Dublin III-VO anders bei einem Aufnahmeantrag nach Art. 21, Art. 22 Dublin III-VO überdies nicht erforderlich, dass die Zuständigkeit des angefragten Staates nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO geklärt ist (EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – juris Rn. 54 ff., VG Ansbach, B.v. 10.5.2021 – AN 17 S 21.50090 – juris, U.v. 28.6.2021 – AN 17 K 19.50954 – juris; VG München, B.v. 27.11.2020 – M 1 S 20.50531 – juris Rn. 20). Die Überstellung in den Staat, in den der Asylbewerber seinen Asylantrag zuerst gestellt hat, ist auch zulässig und die Übernahme für den ersuchten Staat verpflichtend, wenn die Zuständigkeit dieses Staates noch nicht feststeht. Die zugrundeliegende Entscheidung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist zwar für einen Fall eines im ersten Mitgliedstaat aufgrund zurückgenommenen Asylantrags abgeschlossenen Verfahrens ergangen (Fall nach Art. 20 Abs. 5 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. c Dublin III-VO), sie ist nach den Darlegungen des EuGH aber gleichermaßen und erst recht in den Fällen eines im ersten Mitgliedstaat noch offenen oder negativ geschlossenen Verfahrens einschlägig (VG Ansbach, B.v. 9.9.2021 – AN 17 S 21.50195 – juris).
d) Umstände nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO, die einer Rückkehr nach Frankreich auch bei bestehender Zuständigkeit entgegenstünden, liegen nicht vor.
Nach dem System der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996, 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 31.12.2011, C-411/10 und C-433/10 – NVwZ 2012, 417) gilt die Vermutung, dass die Behandlung von Asylbewerbern in jedem Mitgliedsland der Europäischen Union (EU) den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) entspricht. Diese Vermutung ist jedoch dann widerlegt, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedsland systemische Mängel aufweisen, die zu der Gefahr für den Asylbewerber führen, bei Rückführung in den Mitgliedsstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
Derartige systemische Mängel sind für Frankreich nicht gegeben. Die Lage dort stellt sich für rückkehrende Asylbewerber wie folgt dar:
aa) In Frankreich besteht ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Frankreich, Stand 29.1.2018, S. 4; sehr detailliert zum Verfahren Asylum Information Database [AIDA], Country Report: France, Update 2020, S. 31 ff.). Asylanträge von Dublin-Rückkehrern werden wie jeder andere Asylantrag behandelt. Sie haben denselben Zugang zur Unterbringung wie normale Asylbewerber. Im Falle von vulnerablen Dublin-Rückkehrern müssen die französischen Behörden vom jeweiligen Mitgliedstaat mindestens einen Monat vor Überstellung informiert werden, um die nötigen Vorkehrungen treffen zu können (BFA a.a.O., S. 5). Sobald ein Dublin-Rückkehrer in Frankreich ankommt, wird ihm von der Polizei ein Schreiben ausgehändigt, in dem die für den Antragsteller zuständige Präfektur, im Großraum Paris treten an deren Stelle die sog. Orientierungsplattformen, benannt ist (BFA a.a.O., S. 5). Dorthin muss der Asylbewerber allerdings eigenständig gelangen, will er sein Verfahren weiter betreiben (BFA a.a.O.). Im Übrigen wird hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit des Asylverfahrens gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die zutreffende Darstellung in den Gründen des Bescheids vom 8. Februar 2021 verwiesen.
bb) Was die humanitäre Lage für Dublin-Rückkehrer anbelangt, so werden diese hinsichtlich Unterkunft und Versorgung gleich normalen Asylbewerbern behandelt. Frankreich verfügte Stand 2017 über 303 Unterbringungszentren für Asylbewerber mit rund 34.000 Plätzen, einem speziellen Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylbewerber, zwei Transitzentren mit 600 Plätzen, 262 Notunterbringungen mit rund 18.000 Plätzen sowie eine nicht näher genannte Zahl an privaten Unterbringungsplätzen, insgesamt 56.000 Unterbringungsplätze (BFA a.a.O., S. 9). Mittlerweile, Stand Ende 2020, hat sich die Zahl der Unterbringungsplätze dank verstärkter Bemühungen des französischen Staates als Reaktion auf die zu geringen Kapazitäten auf 98.564 erhöht; weitere 4.500 Plätze sind für 2021 geplant. (AIDA a.a.O, S. 101 ff.). Zwar wird auch berichtet, dass nur 51% der Asylbewerber, die Anspruch auf eine Unterbringung haben, auch untergebracht waren und komplementär hierzu größere informelle Camps insbesondere in Paris und Calais entstanden sind sowie Asylbewerber etwa in Nantes, Grande Synthe und Metz auf der Straße leben (AIDA a.a.O., S. 104 ff.). Hinsichtlich des Verhältnisses von (Erst-)Asylbewerbern und zur Verfügung stehenden Plätzen wurde jedoch 2020 die Situation erreicht, dass mehr Unterbringungsplätze als Bewerber zur Verfügung stehen; Ende 2020 waren 4% der Unterbringungsplätze frei (AIDA a.a.O., S. 102 f.). Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen keine Erkenntnisse für eine Einschränkung des Platzangebots in den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen oder hinsichtlich Schwierigkeiten beim Registrierungsprozess in Folge der Corona-Pandemie mehr vor, die letzten derartigen Angaben stammen von Mai 2020 (AIDA a.a.O., S. 96).
Selbst wenn der Antragstellerin als abgelehnter Asylbewerberin kein Platz mehr in einer Unterkunft zustehen sollte, droht ihr keine Obdachlosigkeit. Sie hat möglicherweise mit Abschiebehaft zur Rückführung in ihr Herkunftsland zu rechnen, wobei rechtstaatliche Bedenken an einer Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber, die sich der Abschiebung durch Weiterreise in ein anderes Land entziehen, nicht bestehen. Sollte es nicht zu einer Abschiebehaft kommen und der Antragstellerin auch vorübergehend keine Asyl- oder Obdachlosenunterkunft zugewiesen werden – wofür nach der Erkenntnislage aber keine ernsthaften Anhaltspunkte bestehen -, so kann davon ausgegangen werden, dass sie bis zu ihrer Ausreise wie in den vorherigen Jahren ihres Aufenthalts in Frankreich bei Verwandten in … unterkommt und nicht auf der Straße übernachten muss.
Dublin-Rückkehrer haben wie reguläre Asylbewerber auch Zugang zum finanziellen Beihilfeprogramm für Asylbewerber (ADA – Allocation pour demandeurs d’asile). Dessen Höhe ist von verschiedenen Faktoren wie der Art der Unterkunft, dem Alter, der Anzahl der Kinder usw. abhängig. In der Regel erhalten untergebrachte Asylbewerber monatlich eine finanzielle Unterstützung von 204,00 EUR. Sind sie nicht staatlich untergebracht, erhöht sich der Betrag auf 426,00 EUR pro Monat (AIDA a.a.O., S. 97; BFA a.a.O., S. 8 f.). Zum Erhalt des Geldes ist nicht zwingend die Eröffnung eines Bankkontos nötig, Asylbewerbern wird eine Karte ausgestellt, mit der die Leistungen bezogen werden können, allerdings nur dergestalt, dass damit in Läden oder Online-Shops bezahlt, aber das Geld nicht am Geldautomaten abgehoben werden kann (AIDA a.a.O., S. 97 ff.). Ob abgelehnten Asylbewerbern der Zugang zum französischen Arbeitsmarkt offensteht, kann dahinstehen, da sich hieraus für ausreisepflichtige Ausländer jedenfalls kein rechtstaatlicher Mangel ergibt.
Was die medizinische Versorgung anbelangt, so können Asylbewerber (und somit auch Dublin-Rückkehrer) den allgemeinen Krankenversicherungsschutz in Anspruch nehmen, sobald sie die Bestätigung über ihr laufendes Asylverfahren erhalten haben. Einkommensschwachen Personen steht darüber hinaus ein allgemeiner Zusatzkrankenschutz zu, der die Kostenübernahme hinsichtlich im Basisschutz nicht enthaltener Leistungen abdeckt. Nach drei Monaten Aufenthalt besteht schließlich auch Anspruch auf die sogenannte staatliche medizinische Hilfe (BFA a.a.O., S. 10 ff.). Anderen Quellen zufolge besteht zwar nunmehr das Erfordernis eines dreimonatigen Aufenthalts, bevor der Zugang zum allgemeinen und zusätzlichen Krankenversicherungsschutz eröffnet wird (AIDA a.a.O., S. 111). Wenn der Zugang zu diesen Sicherungssystemen nicht gegeben ist, können Asylbewerber aber jedenfalls die in den Krankenhäusern eingerichteten Bereitschaftsdienste zur ärztlichen Versorgung der Bedürftigsten in Anspruch nehmen. Für die Antragstellerin ist aber von einer notwendigen Behandlung schon nicht auszugehen. Für das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Erkrankung ist nichts glaubhaft gemacht, auch nichts dafür, dass eine solche in der Vergangenheit in Frankreich nicht möglich gewesen wäre.
Zusammenfassend sind systemische Schwachstellen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen, im französischen Asylsystem für Dublin-Rückkehrer nicht ersichtlich (so auch VG Karlsruhe, B.v. 27.1.2021 – A 8 K 1948/20 – juris; VG Ansbach, U.v. 17.8.2020 – AN 17 K 19.51230 – juris; VG München, U.v. 22.7.2020 – M 2 K 19.50619 – BeckRS 2020, 18796; VG Würzburg, B.v. 15.6.2020 – W 8 S 20.50166 – juris; B.v. 2.3.2020 – W 8 S 20.50081 – juris, sogar für eine Mutter eines knapp drei Monate alten Säuglings).
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in Frankreich. Aus den Zahlen der Johns-Hopkins-Universität vom 4. Oktober 2021 lässt sich seit einem erneuten Hoch Mitte August ein deutlich fallender Trend bei Neuinfektionen und Todesfällen bei einer gleichzeitig steigenden Zahl an Impfungen für Frankreich ablesen (https:// coronavirus.jhu.edu/map.html, abgerufen am 4.10.2021). Insofern ist keine Überlastung staatlicher Strukturen insbesondere im Bereich der Unterkünfte und des Gesundheitssystems zu befürchten.
Darauf, ob Asylbewerbern nach einer Anerkennung als international Schutzberechtigte in Frankreich eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, was nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bereits im Dublin-Verfahren zu berücksichtigen ist (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 87 ff.), kommt es im vorliegend Fall einer abgelehnten Asylbewerberin nicht. Dies wäre ebenfalls zu verneinen (vgl. VG Ansbach, B.v. 9.9.2021 – AN 17 S 21.50195 – juris).
e) Schließlich ergeben sich auch keine formellen Hinderungsgründe für eine Rücküberführung nach Frankreich. Das Bundesamt hat nach der erneuten Einreise der Antragstellerin nach Deutschland ein neues Wiederaufnahmeverfahren mit Frankreich eingeleitet (zur Notwendigkeit EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-360/18 – juris). Das Gesuch erging dabei fristgerecht innerhalb der 2-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO und wurde von Frankreich ebenso fristgerecht innerhalb von zwei Wochen, Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO, beantwortet.
Die Antragstellerin ist nach dem ersten Wiederaufnahmeverfahren zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Frankreich im Jahr 2020 innerhalb der regulären 6-monatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO, gerechnet ab der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Frankreich am 27. April 2020, am 17. September 2020 nach Frankreich rücküberstellt worden, so dass ein Zuständigkeitsübergang auf Deutschland durch Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO damals nicht stattgefunden hat. Auf die Frage, ob eine behördliche Aussetzung wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Überstellungsfrist dabei unterbricht (vgl. hierzu Vorlage des BVerwG an den EuGH v. 26.1.2021, 1 C 52/20 – juris), kommt es hier nicht an.
Offenbleiben kann auch, ob eine erneute Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes (Ziffer 1 des Bescheides vom 8.2.2021) notwendig war oder unter Ablehnung eines Wiederaufgreifens dieser Entscheidung auch auf die Unzulässigkeitsentscheidung im Bescheid vom 28. April 2020 hätte zugriffen werden können. Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und Neuentscheiden über die Zulässigkeit des Asylantrags verletzt die Antragstellerin jedenfalls nicht in ihren Rechten, kann deshalb nicht zum Erfolg der Klage führen und ist dementsprechend auch im Eilverfahren unerheblich.
Dass es sich erneut um eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG handelt, ergibt sich aus der Begründung des Bescheids eindeutig, wenngleich die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG nicht ausdrücklich genannt wird. Durch die Nennung von „Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO“ und die Ausführungen auf S. 2, insbesondere Absatz 3 des Bescheides, wird dies eindeutig klar. § 29 Abs. 1 Nr. 2 und § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG werden zwar rechtlich schwer nachvollziehbar zusätzlich, aber eindeutig nur subsidiär bzw. hilfsweise genannt, so dass sich hieraus keine Unklarheit des Bescheids und auch kein Rechtsfehler, der sich auswirkt, ergibt.
f) Nachdem auch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG für die Antragstellerin in Bezug auf Frankreich nicht ersichtlich ist, erweist sich die Abschiebungsanordnung im Ergebnis aller Voraussicht nach als rechtmäßig. Hinsichtlich eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK stellen sich keine anderen oder zusätzlichen rechtlichen Fragen. Auf die obigen Darstellungen wird verwiesen.
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG – eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit – sind im Hinblick auf die allgemeine humanitäre Lage erst recht nicht erfüllt (vgl. rechtlich hierzu BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris). Eine solche Gefahr ergibt auch nicht aus gesundheitlichen Umständen. Eine lebensbedrohliche bzw. gravierende Erkrankung hat die Antragstellerin nicht konkret und ausreichend dargelegt, auch nicht, dass diese gegebenenfalls in Frankreich, wo sie sich fünf Jahre lang aufgehalten hat, nicht behandelbar wäre.
g) Mit der Zustimmung Frankreichs zur Wiederaufnahme der Antragstellerin steht auch die tatsächliche Durchführbarkeit der Abschiebung i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest. Etwaige inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse, die im Rahmen der Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG anders als bei der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt zu prüfen sind (Pietzsch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 28. Ed. 1.10.2020, § 34a AsylG Rn. 9 ff.), sind nicht ersichtlich.
2. Die Kostenentscheidung des damit erfolglosen Antrags ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
3. Aus den dargelegten Gründen kam dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten zu und wird deshalb auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung unabhängig von den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Antragstellerin abgelehnt, § 166, §§ 114 ff. ZPO.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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