Familienrecht

Anspruch auf Differenzkindergeld

Aktenzeichen  5 K 1367/18

Datum:
8.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 32837
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 3
AO § 218 Abs. 2
VO Nr. 883/2004 Art. 68 Abs. 2
EStG a.F. § 66 Abs. 3

 

Leitsatz

1. § 66 Abs. 3 EStG a.F. betrifft das Festsetzungs- und nicht das Erhebungsverfahren (vgl. BFH BStBl II 2020, 704 = DStR 2020, 1717; BFH BStBl II 2020, 707 = DStRE 2020, 1044; BFH/NV 2020, 1062 = BeckRS 2020, 17456 und BFH/NV 2021, 350 = BeckRS 2020, 37131). Die Zuordnung zum Festsetzungsverfahren ergibt sich bei Beachtung der maßgeblichen Grundsätze für die Auslegung von Rechtsnormen. (Rn. 54 – 55) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der Rechtsprechung des BFH kommt es im Abrechnungsverfahren allein auf die formelle Bescheidlage an (BFH/NV 2010, 1412 = BeckRS 2010, 25016218 Rn. 7; BFH/NV 2010, 2237 = BeckRS 2010, 25016521 Rnrn. 14 f.). (Rn. 82) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Kindergeldbescheid vom 27.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.09.2018 wird für die Monate Januar 2017 bis einschließlich September 2017 dahin geändert, dass für die Kinder I und D Differenzkindergeld in Höhe von 173,99 € pro Kind und Monat, somit insgesamt 3.131,82 € ausgezahlt wird.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
I. Der Bescheid über die Ablehnung der Auszahlung des Kindergeldes in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. Der Kläger wendet sich mit seiner Anfechtungsklage i.S.d. § 40 Abs. 1 Alt. 1 FGO gegen den Abrechnungsteil des Bescheids über die Ablehnung einer Auszahlung vom 27.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.09.2018. Er begehrt die Entscheidung des Gerichts dazu, dass die Familienkasse das Kindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrages als nicht auszahlbar angesehen und eine entsprechende Verpflichtung verneint hat.
Der angegriffene Bescheid enthält neben dem Festsetzungsteil auch einen Absatz, in dem verfügt wird, für welchen Zeitraum nach Auffassung der Familienkasse ein Anspruch auf Auszahlung besteht und für welchen nicht. In dem fettgedruckten fünften Absatz wird zur Nachzahlung unter Hinweis auf § 66 Abs. 3 EStG ausgeführt, dass ein nach dem 31.12.2017 eingegangener Antrag nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Monate vor dem Eingang des Antrags führt. Die Berechnung des Betrages sei der Anlage zum Bescheid zu entnehmen. Damit traf die Beklagte mit der Verfügung über eine Nichtauszahlung eine Entscheidung über eine Streitigkeit i.S.d. § 218 Abs. 2 AO. Es ist nicht erforderlich, dass die Beklagte ausdrücklich die Bezeichnung Abrechnungsbescheid (BFH-Urteil vom 07.08.1990 VII R 120/89, BFH/NV 1991, 569) oder Bescheid nach § 218 Abs. 2 AO verwendet (vgl. BFH-Urteil vom 19.02.2020 II R 26/19, BFH/NV 2020, 1062).
Durch den dagegen gerichteten Einspruch entstand auch eine Streitigkeit zwischen der Familienkasse und dem Kläger, über welche die Familienkasse durch die Einspruchsentscheidung vom 05.09.2018 entschied. Unerheblich ist dabei, dass die Familienkasse ihre Entscheidung nicht ausdrücklich als Abrechnungsbescheid oder als Bescheid nach § 218 Abs. 2 AO bezeichnete (BFH-Urteil vom 07.08.1990 VII R 120/89, BFH/NV 1991, 569, unter II.2.a). Denn aus der Begründung der Einspruchsentscheidung ergibt sich, dass die Familienkasse nicht über die Festsetzung, sondern über den Auszahlungsanspruch entschieden hat, wenn es dort heißt: „Mit Bescheid vom 27.06.2018 wurde dem Antrag des Einspruchsführers auf Kindergeld für seine Kinder l und D entsprochen. Kindergeld wurde für die Kinder l und D ab dem Monat März 2016 unter Anrechnung rumänischer Familienleistungen festgesetzt. (…) Eine Auszahlung des Kindergeldes konnte aufgrund der Auszahlungsbeschränkung des § 66 Abs. 3 EStG erst ab November 2017 erfolgen. Hiergegen richtet sich der Einspruch.“
2. Dem Kläger steht für die streitigen Monate Januar 2017 bis einschließlich September 2017 ein Anspruch auf Auszahlung von Kindergeld in Höhe von 173,99 € pro Kind und Monat zu. Im streitbefangenen Kindergeldbescheid vom 27.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.09.2018 hat die Beklagte Kindergeld für die Kinder I und D für die Monate Januar 2017 bis September 2017 in Höhe des Unterschiedsbetrages bestandskräftig festgesetzt. Der Bescheid ist nicht insgesamt nichtig gem. § 125 Abs. 1 AO i.V.m. § 124 Abs. 3 AO, sondern dahin auszulegen, dass pro Kind und Monat Differenzkindergeld in Höhe von 173,99 € festgesetzt worden ist.
2.1 Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG, weil er in Deutschland im Jahr 2017 einen Wohnsitz bzw. zumindest einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und Vater zweier Söhne ist, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union haben und noch keine 18 Jahre alt sind.
Der Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger. Der sachliche und persönliche Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1, im Folgenden: VO Nr. 883/2004) ist eröffnet. Die Kindergeldberechtigung richtet sich nach §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004. Diese Prioritätsregel ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig. Hiernach hat an erster Stelle der durch die Beschäftigung des Klägers in Deutschland ausgelöste Anspruch Vorrang. Dem Kläger steht ein Anspruch auf den Unterschiedsbetrag gem. Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2204 zwischen den höheren Leistungen nach den deutschen Rechtsvorschriften (§ 66 Abs. 1 EStG) und den rumänischen Familienleistungen zu.
Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
2.2 Nach § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz – StUmgBG -, im Folgenden: § 66 Abs. 3 EStG a.F.) vom 23.06.2017 (BGBl I 2017, 1682) wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats „gezahlt“, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Neuregelung ist am 01.01.2018 in Kraft getreten (Art. 11 Abs. 2 StUmgBG) und gemäß § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG i.d.F. des Art. 7 Nr. 6 Buchst. c StUmgBG nur auf Anträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 eingehen.
Die Regelung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist im Streitfall anwendbar, da der Vordruck E 411 RO des Klägers am 23.04.2018 bei dem Träger des Wohnorts der Ehefrau des Klägers in Rumänien eingegangen ist. Gem. Art. 81 der VO 883/204 gilt der 23.04.2018 als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde, so dass der Antrag daher nach dem 31.12.2017 bei der Familienkasse eingegangen ist.
§ 66 Abs. 3 EStG a.F. betrifft das Festsetzungs- und nicht das Erhebungsverfahren (vgl. die Urteile des BFH vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704; III R 70/18, BStBl II 2020, 707; III R 26/19, BFH/NV 2020, 1062, und III R 33/19, BFH/NV 2021, 350).
Die Zuordnung zum Festsetzungsverfahren ergibt sich bei Beachtung der maßgeblichen Grundsätze für die Auslegung von Rechtsnormen.
Der Wortlaut der Vorschrift und die Verwendung des Wortes „gezahlt“ lässt keine klare Zuordnung zum Erhebungsverfahren zu, wie dies von den Familienkassen vertreten wurde, weil er vom Gesetzgeber sowohl innerhalb derselben Norm (§ 66 Abs. 2 EStG) als auch innerhalb der §§ 64 und 65 EStG in Regelungszusammenhängen verwendet wird, die eindeutig dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen sind. Demgegenüber verwendet der Gesetzgeber üblicherweise die Begriffe „ausgezahlt“ oder „Auszahlung“, wenn er den dem Erhebungsverfahren zuzuordnenden Auszahlungsvorgang beschreiben will, so etwa in § 70 Abs. 1, § 72 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 4 EStG. Entsprechend hat der Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (SozialMissbrG) vom 11.07.2019 (BGBl I 2019, 1066) die Formulierung in dem an die Stelle des § 66 Abs. 3 EStG a.F. getretenen neuen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG dahingehend geändert, dass „Die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld“ rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats erfolgt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist (BTDrucks 19/8691, S. 67; vgl. hierzu BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 70/18, BStBl II 2020, 707, Rn. 20).
Für eine Zuordnung zum Festsetzungsverfahren spricht dagegen die systematische Verortung der Regelung in § 66 EStG. Die Vorschriften der §§ 62 bis 69 EStG befassen sich mit den materiellen Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs und Fragen der Festsetzung desselben. In den §§ 70 und 72 EStG erfolgt der Übergang vom Festsetzungsin das Erhebungsverfahren, während die §§ 74 bis 76 EStG ausschließlich Fragen der Erhebung betreffen. Diese Sichtweise wird auch dadurch bestätigt, dass der Gesetzgeber im Rahmen des SozialMissbrG die Auszahlungsbeschränkung von § 66 Abs. 3 EStG a.F. nach § 70 Abs. 1 EStG verschoben hat. Zur Begründung führte er u.a. an, dass die Regelung sich nunmehr in § 70 EStG „Festsetzung und Zahlung von Kindergeld“ befinde und die Auszahlungsbeschränkung somit nicht mehr im Bereich der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld (§§ 62 bis 66 EStG) enthalten sei (BTDrucks 19/8691, S. 67).
Nach Auffassung des BFH in seinen Urteilen vom 19.02.2020 bringt auch die Entwurfsbegründung zum StUmgBG (BTDrucks 18/12127) vom 26.04.2017 keinen eindeutigen Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck und spricht eher für eine materiell-rechtliche, im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigende Wirkung der Ausschlussfrist (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 26/19, BFH/NV 2020, 1062, Rn. 19-22).
Für die Auffassung einer Zuordnung zum Erhebungsverfahren lässt sich auch nicht die erst in der nachfolgenden Legislaturperiode abgegebene Begründung zum Entwurf des SozialMissbrG (BTDrucks 19/8691, S. 65) vom 25.03.2019 anführen. Vielmehr wird die dortige Aussage, dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht das Festsetzungsverfahren betreffe, sondern im Erhebungsverfahren anzuwenden sein sollte, durch die Gesetzesänderung widerlegt. Denn dadurch hat der Gesetzgeber selbst bestätigt, dass ein derartiger gesetzgeberischer Wille aufgrund des bisherigen Wortlauts und des systematischen Standorts der Vorschrift im Gesetz keinen hinreichenden Niederschlag gefunden hat. Diese inhaltlichen Änderungen des Gesetzes können auch nicht deshalb außer Betracht bleiben, weil die Begründung des Gesetzentwurfs die Gesetzesänderung in den Mantel einer Klarstellung gekleidet hat (vgl. BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 18/19, BFH/NV 2020, 1060, Rn. 23).
Eine Zuordnung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. zum Festsetzungsverfahren widerspricht auch nicht dem Sinn und Zweck der Norm. Denn die Vorschrift kann ihre Wirkung, den Anspruchsteller zu einer zeitnahen Stellung seines Kindergeldantrags zu bewegen und der Familienkasse dadurch die notwendige Aufklärung des Sachverhalts zu ermöglichen, auch dann entfalten, wenn bei verspäteter Antragstellung bereits die Festsetzung über den Sechsmonatszeitraum hinaus abgelehnt wird. Damit entfällt auch die darüber hinausgehende Auszahlung des Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten (vgl. BFH-Urteil vom 22.04.2020 III R 33/19, BFH/NV 2021, 350, Rn. 24).
Eine materiell-rechtliche, im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigende Wirkung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. wird auch von der überwiegenden Meinung im Fachschrifttum vertreten (Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 66 Rz 18; Hildesheim in Bordewin/Brandt, EStG, 435. Lieferung 03.2021, § 66 EStG Rz 41; Avvento in Kirchhof, EStG, 18. Aufl., § 66 Rz 7; Blümich/Selder, EStG/KStG/GewStG, 156. Lieferung 03.2021, § 66 EStG Rz 36; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 66 EStG Rz 20; a.A. Bauhaus in Korn, EStG, 127. Lieferung 03.2021, § 66 EStG Rz 13; offengelassen in Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 38. Aufl., § 66 Rz 6).
2.3 Die Beklagte hat mit Bescheid vom 27.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.09.2018 rückwirkend Kindergeld für die noch im Streit befindlichen Monate Januar 2017 bis einschließlich September 2017 in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem zustehenden Kindergeld und dem Bruttobetrag der ausländischen Leistungen (Differenzkindergeld) festgesetzt.
2.3.1 In dem Bescheid vom 27.06.2018 wurde für die noch streitbefangenen Monate Januar 2017 bis September 2017 Kindergeld in Höhe des Differenzkindergeldes in Höhe von 173,99 € pro Kind und Monat festgesetzt.
Die Festsetzung von Kindergeld beinhaltet die Entscheidung über Grund und Höhe des Kindergeldanspruchs (Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 70 EStG, Rn. 6). Gem. § 155 Abs. 5 AO finden auf das Kindergeld als Steuervergütung (vgl. § 37 Abs. 1 AO, § 31 S. 3 EStG) die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften der §§ 155 – 177 AO sinngemäß Anwendung; ergänzend gelten die §§ 119 ff. AO.
Die Festsetzung von Kindergeld hat für jedes Kind oder für mehrere zusammengefasst durch schriftlichen Bescheid zu erfolgen (§ 70 Abs. 1 EStG i.V.m. § 157 Abs. 1 AO). Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt, d.h. der Regelungsinhalt muss eindeutig zu entnehmen sein (BFH-Urteil vom 22.08.2007 II R 44/05, BStBl II 2009, 754). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung der Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Entscheidend sind der erklärte Wille der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. BFH-Urteile vom 18.02.1997 VII R 96/95, BStBl II 1997, 339; vom 11.07.2006 VIII R 10/05, BStBl II 2007, 96; vom 09.04.2008 II R 31/06, BFH/NV 2008, 1435). Bei der Auslegung ist nicht allein auf den Tenor des Bescheids abzustellen, sondern auch auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der für den Bescheid gegebenen Begründung (BFH-Urteil vom 26.11.2009 III R 87/07, BStBl II 2010, 429, m.w.N.).
Bei Anwendung dieser Grundsätze wurde Differenzkindergeld festgesetzt, da nach dem Wortlaut des Bescheides eine Festsetzung in Höhe des Unterschiedsbetrages erfolgt.
Die Familienkasse führt im vierten Absatz erster Satz des streitbefangenen Bescheids aus, dass der Bruttobetrag der ausländischen Leistungen niedriger ist als das dem Kläger zustehende Kindergeld. Im folgenden Satz setzt die Beklagte den „sich daraus ergebenden Unterschiedsbetrag“, d.h. die Differenz zwischen dem Kindergeldbetrag nach dem EStG und den ausländischen Leistungen von März 2016 bis Dezember 2017 endgültig fest. Eine Einschränkung auf bestimmte Monate nimmt die Familienkasse dabei ausdrücklich nicht vor. Erst – und nur – ab Januar 2018 erfolgte die Festsetzung des Differenzkindergeldes vorläufig; seine Höhe sollte nach Vorliegen einer Bescheinigung über die in Rumänien ab Januar 2018 zustehenden Kindergeldleistungen überprüft werden.
In der Begründung des Bescheides, die sich (auch) aus der Einspruchsentscheidung ergibt oder dort selbst noch nachgeholt werden könnte (vgl. § 126 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AO), ist der Regelungswille klar formuliert, dass Kindergeld in Höhe des Differenzkindergeldes für den streitigen Zeitraum endgültig festgesetzt worden ist. Die Formulierung in der Einspruchsentscheidung, dass dem Antrag „entsprochen“ wurde, lässt aus Empfängersicht keinen Zweifel daran, dass Kindergeld positiv festgesetzt worden ist.
So formuliert die Familienkasse in der Einspruchsentscheidung klar und eindeutig, dass dem Kindergeldanspruch entsprochen sowie Kindergeld unter Anrechnung rumänischer Familienleistungen festgesetzt worden ist und im Einspruchsverfahren nur die Auszahlung des Kindergeldes im Streit ist. Die Familienkasse bezeichnet § 66 Abs. 3 EStG a.F. als Auszahlungsbeschränkung. Daher ergab sich eine Auszahlung erst ab November 2017, da die Beklagte bei der Berechnung der Sechs-Monats-Frist in der Einspruchsentscheidung noch von dem in Deutschland bei der Familienkasse am 29.05.2018 eingegangenen Antrag ausging.
2.3.2 Der streitbefangene Bescheid ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nichtig gem. § 125 Abs. 1 AO. Er leidet nicht an einem besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler mit der Begründung, dass der Bescheid hinsichtlich der Höhe des festgesetzten Differenzkindergeldes inhaltlich unbestimmt ist.
An einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet ein Verwaltungsakt dann, wenn er inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist (§ 119 Abs. 1 AO). Das sind alle Verwaltungsakte, die in wesentlichen Punkten unklar, widersprüchlich, unsinnig oder unverständlich sind, etwa, weil ihnen nicht entnommen werden kann, was von wem für welche Zeit verlangt wird, wem was gewährt bzw. versagt wird oder gegenüber wem die Finanzbehörde was feststellt. Wann ein Verwaltungsakt hinreichend klar, eindeutig, vollständig und widerspruchsfrei ist, bestimmt sich vom Standpunkt eines verständigen Adressaten. Etwaige Zweifel an der Bestimmtheit dürfen dabei nicht bereits im Wege der Auslegung behoben werden können (Rozek in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 261. Lieferung 02.2021, § 125 AO, Rn. 53).
Die Nichtigkeit aufgrund inhaltlicher Unbestimmtheit kann entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht mit der Begründung bejaht werden, dass bezüglich der Monate Januar 2017 bis September 2017 im Textteil des Bescheides zwar Differenzkindergeld festgesetzt wird, aber weder im Bescheid selbst ein positiver Euro-Betrag, der Differenzbetrag, genannt wird noch sich aus der Anlage für die streitbefangenen Monate ein positiver Euro-Betrag als Differenz aus Kindergeld nach deutschem Recht (Minuend) abzüglich der in Euro umgerechneten rumänischen Familienleistung (Subtrahend) ergibt, sondern in der Anlage für die drei Rechengrößen jeweils 0,00 € genannt ist.
Der Kindergeldbescheid vom 27.06.2018 ist aus mehreren Gründen auslegungsbedürftig: Die Höhe des festgesetzten Differenzkindergeldes ist weder in dem Tenor des Bescheides betragsmäßig beziffert noch ist eine entsprechende Tabelle zur Höhe des festgesetzten Betrages im Bescheid selbst eingefügt. Im Absatz zur Festsetzung des Differenzkindergeldes wird auch nicht auf eine entsprechende anliegende Tabelle Bezug genommen, in der die Höhe des festgesetzten Betrages berechnet wird. Auf die Anlage zum Bescheid vom 27.06.2018 wird vielmehr im 6. Absatz des Bescheides im Zusammenhang mit der „Berechnung“ des erst ab November 2017 auszuzahlenden Nachzahlungsbetrages für das Jahr 2017 verwiesen. Aufgrund der Bezugnahme im Zusammenhang mit der Auszahlung geht aus der Anlage nicht klar und eindeutig hervor, in welcher Höhe die Festsetzung des Differenzkindergeldes für den Zeitraum bis Januar 2017 bis Oktober 2017 erfolgte. Das Datum des Bescheides selbst („27.06.2018“) sowie das in der Anlage genannte Datum des Bescheides, auf den sich die Anlage bezieht („Anlage zum Bescheid vom 02.07.2018“), weichen voneinander ab, so dass sich auch hieraus eine Auslegungsbedürftigkeit ergibt.
Der Kindergeldbescheid vom 27.06.2018 ist entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht nichtig, sondern einer Auslegung zugänglich.
Der erklärte Wille der Behörde, der auch in der Einspruchsentscheidung mit dem Satz, dass dem Antrag entsprochen wurde, zum Ausdruck kommt, spricht für eine Auslegung dahin, dass für alle Monate ein positiver Euro-Betrag festgesetzt wurde. Nach Auffassung des Gerichts ist der Bescheid aus Sicht des verständigen Adressaten hinsichtlich der Höhe des festgesetzten Betrages dahin auszulegen, dass das Differenzkindergeld nicht nur für November und Dezember 2017, sondern auch für die Monate Januar 2017 bis Oktober 2017 pro Monat und Kind auf einen Betrag von 173,99 € festgesetzt worden ist. Der Kindergeldbescheid setzt zwar das Differenzkindergeld im Text nicht betragsmäßig fest, stellt aber den Rechenweg für die Berechnung des Differenzkindergelds dar und lässt im Festsetzungsteil des Bescheides keine Unterschiede für die einzelnen Monate erkennen. Laut Bescheid vom 27.06.2018 ist der Unterschiedsbetrag aus dem Kläger zustehendem Kindergeld und dem Bruttobetrag der ausländischen Leistungen zu ermitteln. Für die Auslegung des Kindergeldbescheides, der für keinen der Monate von März 2016 bis Juni 2018 im Textteil das Differenzkindergeld in Höhe eines bestimmten Betrages festsetzt, ist die Anlage heranzuziehen, die der Berechnung der Nachzahlungsbeträge dient (vgl. 6. Absatz des Bescheides vom 27.06.2018).
Nach Auffassung des Gerichts ist bei der Auslegung nach dem objektiven Erklärungsinhalt zu berücksichtigen, dass die Rechengrößen für die durchzuführende Subtraktion zur Berechnung des Differenzkindergeldes gesetzlich bestimmt sind. Sowohl die Höhe des Kindergeldes nach dem deutschen Einkommensteuergesetz als auch der rumänischen Familienleistung sind im Gesetz kodifiziert. So sind die Kindergeldbeträge in § 66 Abs. 1 EStG festgelegt. Sie betrugen vom 01.01.2017 bis 31.12.2017 für alle Monate unverändert 192 € für das erste und zweite Kind (vgl. § 66 Abs. 1 EStG in der Fassung vom 20.12.2016). Die rumänische Familienleistung wurde gemäß dem rumänischem Gesetz Nr. 61/1993 monatlich gezahlt. Sie betrug nach den Änderungen für den Streitzeitraum zuletzt durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 65/2014 sowie das Gesetz Nr. 132/2011 im Jahr 2017 84 RON für Kinder von 3 – 18 Jahren ohne Behinderung.
Der betroffene Kläger und Empfänger des Bescheides musste nach den ihm bekannten Umständen die Formulierung „Festsetzung von Differenzkindergeld“ für die Monate Januar 2017 bis September 2017 nach dem objektiven erkennbaren Erklärungsinhalt unter Berücksichtigung des dargestellten Rechenweges im 4. Absatz des Bescheides und der Anlage zur Berechnung der Nachzahlungsbeträge dahin auslegen, dass 173,99 € pro Kind und Monat festgesetzt worden ist.
Der Kläger selbst wusste, dass rumänische Familienleistungen von 84 RON pro Kind und Monat gezahlt wurden. Dies ergab sich auch aus der mit dem Antrag vom 24.05.2018 vorgelegten Anlage E 411 RO, in welcher der Anspruch auf und die Zahlung von monatlichen Familienleistungen in Höhe von 168 RON für die Kinder I und D (vgl. Feld 6.2 und 6.3) im gesamten Jahr 2017 bestätigt worden ist. Der Kläger konnte aus den ihm bekannten Umständen nach Treu und Glauben erkennen, dass die rumänische Familienleistung in den streitbefangenen Monaten von 0,00 € als Subtrahend in der Anlage zur den Nachzahlungsbeträgen nicht gleichbedeutend sein konnte mit dem Subtrahend bei der Berechnung des festgesetzten Differenzkindergeldes, da seine Ehefrau C – wie auch bestätigt und der Familienkasse vorliegend – den laut Gesetz monatlich zustehenden Betrag von 84 RON pro Kind tatsächlich erhalten hatte.
Aus dem Kindergeldbescheid samt der Anlage zur Berechnung der Nachzahlungen war hinsichtlich des Kurses für die Umrechnung der rumänischen Währung Lei in Euro der objektive Erklärungsinhalt erkennbar, sämtliche Beträge der rumänischen Familienleistungen vom März 2016 bis Juni 2018 mit einem Umrechnungskurs von 4,665 in Euro umzurechnen, so dass der Kindergeldbescheid vom 27.06.2018 für die nicht streitbefangenen Monate dahin auszulegen ist, dass der Umrechnungskurs auch für die streitbefangenen Monate Anwendung finden sollte. Der Umrechnungskurs in der Anlage zur Berechnung des Nachzahlungsbetrages setzt denklogisch auch seine Anwendung im Bereich der Festsetzung voraus, da die Auszahlung eines positiven Euro-Betrages eine Festsetzung in gleicher Höhe voraussetzt.
Nachdem die Rechengrößen für die Berechnung der Differenz für die Monate Januar 2017 bis September 2017 in gleicher Höhe galten wie für November 2017 und Dezember 2017 ist der Bescheid vom 27.06.2018 nach seinem objektiven Erklärungsinhalt und mit dem Wissen des Klägers dahin auszulegen, dass für alle Monate im Jahr 2017 in gleicher Höhe auf 173,99 € pro Kind und Monat festgesetzt worden ist. Aus der Bezugnahme im 5. Absatz auf § 66 Abs. 2 EStG a.F. ist für den kundigen Empfänger nach Treu und Glauben zu erkennen, dass sich die Berechnung von 0,00 € ausschließlich auf die Auszahlung des Kindergeldes bestimmt. Ein Widerspruch oder eine Unbestimmtheit ist nach Auffassung des Gerichts nicht zu erkennen und führt daher nicht zur Nichtigkeit des Bescheides.
3. Der Klage ist daher vollumfänglich stattzugeben und der Bescheid dahin zu ändern, dass das festgesetzte Differenzkindergeld in Höhe von 173,99 € pro Kind und Monat auszuzahlen ist.
Es war rechtswidrig die Auszahlung des streitbefangenen Differenzkindergeldes abzulehnen, da es nach der Auffassung des BFH in seinen maßgeblichen, neueren Urteilen vom 19.02.2020 streitentscheidend ist, dass Kindergeld für I und D für die Monate Januar 2017 bis September 2017 wirksam festgesetzt worden ist, obwohl diese mehr als sechs Monate vor der Antragstellung am 23.04.2018 liegen. Nach der Rechtsprechung des BFH kommt es im Abrechnungsverfahren allein auf die formelle Bescheidlage an (BFH-Urteile vom 30.03.2010 VII R 17/09, BFH/NV 2010, 1412, Rz 7; vom 15.07.2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237, Rz 14 f.). Die Festsetzung auf monatlich 173,99 € pro Kind und Monat wirkt konstitutiv und bindet infolge der eingetretenen Bestandskraft auch die Familienkasse.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz beruht auf § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 und Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.


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