Familienrecht

Keine Gerichtsstandsbestimmung ohne Bekanntgabe der widersprüchlicher Beschlüsse zur Unzuständigkeit

Aktenzeichen  1 AR 68/20

Datum:
6.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 19245
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6

 

Leitsatz

1. Eine Bestimmung des zuständigen Gerichts im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO setzt voraus, dass sich verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das erfordert, dass die entsprechenden Entscheidungen durch Bekanntgabe wirksam geworden und somit nicht lediglich gerichtsinterne Vorgänge geblieben sind. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Die Voraussetzungen für die Bestimmung des zuständigen Gerichts liegen nicht vor.

Gründe

I.
Der im Bezirk des Amtsgerichts Weiden i.d. OPf. wohnhafte Antragsteller ist gemäß rechtskräftigem Versäumnisurteil des Amtsgerichts Wunsiedel vom 22. Mai 2003 zur Zahlung von Unterhalt für seinen am 23. Januar 1999 geborenen Sohn, den Antragsgegner, in Höhe von 100% des Regelunterhalts der jeweiligen Altersstufe verpflichtet.
Mit Anwaltsschriftsatz vom 19. Dezember 2019 wandte er sich an das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. mit den Anträgen, das Versäumnisurteil abzuändern und festzustellen, dass er dem Antragsgegner keinen Unterhalt mehr schulde, sowie den Antragsgegner zu verurteilen, die vollstreckbare Ausfertigung des Versäumnisurteils an ihn, den Antragsteller, herauszugeben. Er behauptete, beim Antragsgegner bestehe kein Unterhaltsbedarf mehr. Der Antragsgegner habe seine Schulausbildung im Juli 2019 abgeschlossen und sei verpflichtet, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Zudem befinde sich der Antragsgegner nach Kenntnis des Antragstellers in einer Klinik für junge Drogenabhängige im Bezirk des angegangenen Gerichts; dort werde er vollumfänglich versorgt. Die titulierten Ansprüche seien verwirkt, denn nach der Einstellung der monatlichen Unterhaltszahlungen zum Januar 2017 habe der Antragsgegner erstmals mit Anwaltsschreiben vom September/Oktober 2019 Zahlung rückständigen Unterhalts verlangt. Zur Verhinderung einer Vollstreckung aus dem Unterhaltstitel sei dieser herauszugeben.
Der sachbearbeitende Richter ließ den Antrag an den im Antragsschriftsatz bezeichneten Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners zustellen und erteilte mit Verfügung vom 20. Februar 2020 den Hinweis, dass das angegangene Gericht örtlich nicht zuständig sei. Der Antragsgegner sei bereits im Zeitpunkt des Antragseingangs bei Gericht in die im Bezirk des Familiengerichts Nördlingen liegende Justizvollzugsanstalt Niederschönenfeld verlegt worden, weshalb dieses Gericht zuständig sein dürfte. Es fragte an, ob Verweisungsantrag gestellt werde.
Die dem Antragsgegner gesetzte Frist zur Stellungnahme auf die Antragsschrift verlängerte das Gericht auf dessen Ersuchen bis zum 14. April 2020, verbunden mit dem Zusatz, es werde „aber um Beantwortung von Ziffer 4 der Verfügung v. 20.02.20“ – dies betrifft den gerichtlichen Hinweis zur Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts – gebeten. Hierauf antwortete der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners mit Schriftsatz vom 23. März 2020, es liege offensichtlich ein Versehen vor, denn sein Mandant sei der Antragsgegner.
Mit Beschluss vom 30. März 2020 hat sich das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren auf den Verweisungsantrag des Antragstellers vom 27. März 2020 an das Amtsgericht Nördlingen – Familiengericht – verwiesen. Die Entscheidung beruhe auf §§ 112 Nr. 1, 113, 231 Abs. 1, 232 Abs. 3 FamFG, §§ 12 ff, 281 Abs. 1 ZPO. Die Zuständigkeit bestimme sich in dieser Sache nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung mit der Maßgabe, dass der allgemeine Gerichtsstand des Antragsgegners am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts bestehe. Dieser liege im Bezirk desjenigen Familiengerichts, an welches das Verfahren verwiesen werde.
Der Beschluss ist den Verfahrensbeteiligten mitgeteilt worden, dem Antragsgegner unter gleichzeitiger Übersendung einer Abschrift des Verweisungsantrags vom 27. März 2020.
Das Amtsgericht Nördlingen hat durch telefonische Rückfrage bei der Justizvollzugsanstalt in Erfahrung gebracht, dass der Antragsgegner dort eine Vollzugsstrafe verbüßt, voraussichtlich noch bis Juli 2021, und behördlich mit seinem Wohnsitz in der Justizvollzugsanstalt gemeldet ist. Mit Verfügung vom 16. April 2020 hat es die gerichtliche Akte unter Ablehnung der Verfahrensübernahme an das verweisende Gericht zurückgesandt mit dem Bemerken, der unfreiwillige Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt begründe regelmäßig keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Dies gelte vorliegend umso mehr, als der Antragsgegner – gemäß seiner Einlassung in dem an das Amtsgericht Nördlingen gerichteten Anwaltsschriftsatz vom 14. April 2020 – eine zeitnahe Rückstellung des Strafvollzugs und die Fortführung der Therapie außerhalb des Gerichtsbezirks des Amtsgerichts Nördlingen anstrebe.
Das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. hat die Akte mit Verfügung vom 27. April 2020 zurückgesandt mit dem Bemerken, der Verweisungsbeschluss entfalte Bindungswirkung. Zwar sei zutreffend, dass die Verbüßung einer Haftstrafe nicht in jedem Fall einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründe; möglich sei dies aber schon. Ein Rechtsirrtum lasse die Bindungswirkung nicht entfallen. Der gewöhnliche Aufenthaltsort des Antragsgegners liege erst recht nicht im Zuständigkeitsbezirk des Amtsgerichts Neumarkt i.d. OPf.
Das Amtsgericht Nördlingen hat diese Stellungnahme dahingehend gewertet, dem verweisenden Gericht sei offensichtlich bekannt, dass nur unter bestimmten Umständen, die hier weder vorgetragen noch sonst aus dem Akteninhalt ersichtlich seien, ein gewöhnlicher Aufenthalt am Haftort begründet werde. Die Verweisung sei daher willkürlich erfolgt und binde nicht. Die eigene Unzuständigkeit des angegangenen Gerichts erlaube keine Verweisung ohne vorherige Ermittlung des zuständigen Gerichts.
Diese die Aktenversendungen begleitenden gerichtlichen Verfügungen sind den Verfahrensbeteiligten nicht mitgeteilt worden.
Mit Verfügung vom 19. Mai 2020 hat das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. das Verfahren (über das Oberlandesgericht Nürnberg) dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Äußerung erhalten, hiervon jedoch keinen Gebrauch gemacht.
II.
Die Voraussetzungen für die Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen nicht vor.
1. Das Bayerische Oberste Landesgericht wäre zwar für die Bestimmungsentscheidung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO zuständig, weil die am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte in den Bezirken unterschiedlicher bayerischer Oberlandesgerichte (Nürnberg und München) liegen, so dass das gemeinschaftliche im Rechtszug zunächst höhere Gericht der Bundesgerichtshof ist.
Die genannten Vorschriften sind gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG in Familienstreitsachen entsprechend anzuwenden. Zu diesen gehören gemäß § 112 Nr. 1 FamFG Unterhaltssachen nach § 231 Abs. 1 FamFG, also Verfahren, die – wie das vorliegende – die durch Verwandtschaft begründete gesetzliche Unterhaltspflicht nach §§ 1601 ff. BGB betreffen (§ 231 Abs. 1 Nr. 1 FamFG) und auf Abänderung des gerichtlichen Unterhaltstitels (§ 238 FamFG) bzw. auf Herausgabe des Unterhaltstitels (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2014, XII ZB 284/13, NJW 2015, 251 Rn. 6 mit Anmerkungen Fritzsche, NJW 2015, 586 [unter II.] und Toussaint, FDZVR 2014, 363394; Weber in Keidel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 111 Rn. 15) gerichtet sind.
2. Einer Gerichtsstandsbestimmung steht jedoch entgegen, dass jedenfalls die Verfügungen des Amtsgerichts Nördlingen betreffend die Ablehnung der Verfahrensübernahme den Parteien nicht bekannt gegeben worden sind.
Eine Bestimmung des zuständigen Gerichts im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO setzt nach dem Gesetzeswortlaut voraus, dass sich verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, „rechtskräftig“ für unzuständig erklärt haben.
Das erfordert, dass die entsprechenden Entscheidungen durch Bekanntgabe wirksam geworden und somit nicht lediglich gerichtsinterne Vorgänge geblieben sind (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juni 1997, XII ARZ 13/97, NJW-RR 1997, 1161 [juris Rn. 4]; Beschluss vom 19. Juni 1996, XII ARZ 5/96, NJW-RR 1996, 1217 [juris Rn. 1]; Beschluss vom 13. Mai 1992, XII ARZ 9/92, juris Rn. 1; BayObLG, Beschluss vom 19. Mai 2020, 1 AR 28/20, juris Rn. 20; OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. November 2019, 1 W 82/19, juris Rn. 10; Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 36 Rn. 35).
Die Rückgabeverfügungen des Amtsgerichts Nördlingen, mit denen es eine Übernahme des Verfahrens abgelehnt hat, sind mangels Mitteilung an die Parteien gerichtsinterne Entschließungen geblieben und können nicht als Unzuständigkeitserklärung im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO angesehen werden.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:
Die örtliche Zuständigkeit bedarf weiterer Abklärung, die dem Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. obliegt.
a) Eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nördlingen folgt nicht schon aus dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Neumarkt i.d. OPf. vom 30. März 2020, weil dieser Beschluss ausnahmsweise nicht bindet.
aa) Allerdings sind im Interesse der Prozessökonomie und zur Vermeidung von Zuständigkeitsstreitigkeiten und dadurch bewirkten Verzögerungen und Verteuerungen des Verfahrens Verweisungsbeschlüsse gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO unanfechtbar und für das Gericht, an welches verwiesen wird, grundsätzlich bindend. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung. Jedoch entfällt die Bindungswirkung dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; BayObLG, Beschluss vom 5. März 2020, 1 AR 144/19, juris Rn. 84; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16 f.; jeweils m. w. N.).
bb) Bei Anlegung dieses Maßstabs entfaltet der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Neumarkt i.d. OPf. keine Bindungswirkung, denn der Beschluss ist unter Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs ergangen.
Das Amtsgericht hat die Verweisung ausgesprochen, bevor der Verweisungsantrag dem Antragsgegner mitgeteilt worden war und ohne dessen Stellungnahme zum Verweisungsantrag einzuholen. Der Antragsgegner hatte auch nicht auf andere Weise hinreichend Gelegenheit erhalten, zu einer Verweisungsabsicht des Gerichts und einem möglichen Verweisungsantrag vorab Stellung zu nehmen. Ihm war neben der zur Erwiderung auf den Antragsschriftsatz gesetzten und bis zum 14. April 2020 verlängerten Frist keine gesonderte, gegebenenfalls kürzere, Frist für eine Stellungnahme zur örtlichen Zuständigkeit gesetzt worden. Sollte die zweiwöchige Frist zur Stellungnahme, die das Gericht mit dem ausdrücklich an den Antragsteller adressierten Hinweis zur örtlichen Unzuständigkeit des angegangenen Gerichts verbunden hat, auch an den Antragsgegner gerichtet gewesen sein, so ist dies im Wortlaut nicht zum Ausdruck gekommen und vom Antragsgegner ausweislich des Schriftsatzes vom 23. März 2020 offenkundig so auch nicht aufgefasst worden.
Mit der bereits am 30. März 2020 und somit vor Fristablauf sowie ohne vorherige Mitteilung des Verweisungsantrags ergangenen Entscheidung hat das Gericht deshalb das grundrechtsgleiche Recht des Antragsgegners auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2019, VI ZR 215/19, NJW-RR 2020, 248 Rn. 4; Beschluss vom 15. Mai 2018, VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 8; BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 1961, 2 BvR 402/60, BVerfGE 12, 110 Leitsatz). Dem Antragsgegner ist durch die verfrühte Entscheidung die Gelegenheit genommen worden, vor dem Erlass eines Verweisungsbeschlusses die in erster Linie ihm bekannten tatsächlichen Umstände vorzutragen, die in rechtlicher Hinsicht für die Beurteilung der Frage seines gewöhnlichen Aufenthalts relevant sind.
b) Für eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nördlingen können diejenigen Umstände sprechen, die das Amtsgericht Nördlingen durch eigene Erkundigungen eruiert und in einem Aktenvermerk festgehalten hat. Allerdings bedarf es zur Feststellung des örtlich zuständigen Gerichts weiterer und aktueller Aufklärung.
Weil die auf Abänderung und Herausgabe des Unterhaltstitels gerichteten Anträge vorliegend nicht die Unterhaltspflicht für ein Kind betreffen, das nach § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB einem minderjährigen Kind gleichgestellt ist, kommt ein ausschließlicher Gerichtsstand nach § 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG nicht in Betracht. Der deshalb gemäß § 232 Abs. 3 FamFG i. V. m. §§ 12, 13 ZPO maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt des Antragsgegners befindet sich an seinem tatsächlichen Lebensmittelpunkt.
Als tatsächlicher Mittelpunkt des Lebens einer Person gilt regelmäßig der Ort, an dem sich die Person überwiegend aufhält. Er wird von einer auf längere Dauer angelegten sozialen Eingliederung gekennzeichnet und ist vorrangig von der tatsächlichen Situation und deshalb durch objektive Elemente geprägt. Dennoch können auch subjektive Elemente Bedeutung erlangen, denn der Aufenthalt und seine Dauer müssen grundsätzlich freiwillig sein. Allerdings hindert ein entgegenstehender Wille die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts dann nicht, wenn der tatsächliche Aufenthalt längere Zeit andauert, kein anderer Daseinsmittelpunkt vorliegt und keine Rückkehrmöglichkeit ersichtlich ist. Auch der Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt oder eine Heimunterbringung können daher bei längerer Dauer einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, insbesondere wenn die Rückkehrmöglichkeit schwindet und die Beziehungen zu den vorigen Aufenthaltsorten abgebrochen werden. Ein lediglich vorübergehender Aufenthaltswechsel lässt den andernorts bestehenden gewöhnlichen Aufenthalt nicht entfallen. In Zweifelsfällen sind in einer Gesamtschau die Dauer des Aufenthalts, die sozialen Bezüge und der Wille zur Begründung eines neuen Daseinsmittelpunkts sowie die Rückkehrmöglichkeiten heranzuziehen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Mai 2019, 20 AR 1/19, juris Rn. 11; BayObLG, Beschluss vom 9. Januar 2003, 3Z AR 47/02, juris Rn. 5 in einer Betreuungssache; Weber in BeckOK FamFG, 35. Ed. Stand: 1. Juli 2020, § 122 Rn. 4; Lugani in Münchener Kommentar zum FamFG, 3. Aufl. 2018, § 122 Rn. 10 ff.; Borth/Grandel in Musielak/Borth, FamFG, 6. Aufl. 2018, § 122 Rn. 5; Weber in Keidel, FamFG, § 232 Rn. 8 und § 122 Rn. 3; Sternal in Keidel, FamFG, § 3 Rn. 9 f.; Helms in Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 122 Rn. 5).
Die Aufklärung der tatsächlichen Umstände obliegt dem mit dem Antrag befassten Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf., denn die eigene Unzuständigkeit entbindet das Gericht nicht davon, das örtlich zuständige Gericht zu ermitteln, um den Rechtsstreit an dieses nach § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. § 281 Abs. 1 ZPO zu verweisen.
c) Diese Ausführungen zur örtlichen Zuständigkeit geltend gleichermaßen für den Antrag auf Abänderung und denjenigen auf Herausgabe des Vollstreckungstitels. Obwohl die Herausgabe des Vollstreckungstitels in die Zwangsvollstreckung eingreift (vgl. Raebel in Schuschke/Walker/Kessen/Thole, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, 7. Aufl. 2020, Anhang zu § 767 ZPO Rn. 6), besteht für den isoliert erhobenen Antrag auf Titelherausgabe – anders als für einen Vollstreckungsabwehrantrag gemäß § 120 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 767 Abs. 1, § 802 ZPO – keine ausschließliche örtliche Zuständigkeit des Verfahrensgerichts (hier noch: Prozessgerichts) des ersten Rechtszugs.
Mit dem Antrag auf Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung eines Unterhaltstitels wird ein materiellrechtlicher Herausgabeanspruch analog § 371 BGB geltend gemacht (vgl. BGH, Urt. v. 9. Oktober 2013, XII ZR 59/12, NJW-RR 2014, 195 Rn. 19; Urt. v. 5. März 2009, IX ZR 141/07, NJW 2009, 1671 Rn. 16; Urt. v. 22. September 1994, IX ZR 165/93, BGHZ 127, 146 [148 f., juris Rn. 7 f.]; OLG München, Urt. v. 23. August 2007, 19 U 2703/07, juris Rn. 12; Herget in Zöller, ZPO, § 767 Rn. 2.6; Schmidt/Brinkmann in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 767 Rn. 20). Der Besitz der vollstreckbaren Ausfertigung sichert den Vollstreckungsschuldner gegen eine, gegebenenfalls nochmalige, Inanspruchnahme durch den Titelgläubiger. In ihrer Wirkung geht die analoge Anwendung des § 371 BGB über die Wirkung eines erfolgreichen Vollstreckungsabwehrantrags nach § 120 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 767 ZPO hinaus. Während der Antrag nach § 120 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 767 ZPO als rein prozessrechtlicher Antrag darauf gerichtet ist, dem Vollstreckungstitel durch rechtsgestaltende Entscheidung die Vollstreckbarkeit zu nehmen und dadurch über § 775 Abs. 1 ZPO die Einstellung der Zwangsvollstreckung herbeizuführen (vgl. BGHZ 127, 146 [149, juris Rn. 8 und 10]; Schmitz in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 10 Verfahrensrecht Rn. 295), bewirkt ein auf materiellrechtlicher Grundlage (§ 371 BGB entsprechend) zuerkannter Anspruch auf Titelherausgabe, dass dem Titelgläubiger jede Möglichkeit genommen wird, die Vollstreckung zu betreiben (BGHZ 127, 146 [149, juris Rn. 8]).
Mit Blick auf diese weiterreichende Wirkung werden ein Rechtsschutzbedürfnis für die isolierte Verfolgung eines behaupteten Herausgabeanspruchs und die Statthaftigkeit einer entsprechenden Klage auf Titelherausgabe bejaht, wenn eine Umgehung der Bestimmungen für die Vollstreckungsgegenklage dadurch nicht zu befürchten ist (vgl. BGHZ 127, 146 [juris Rn. 7]). Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine isolierte Klage auf Herausgabe des Vollstreckungstitels deshalb zulässig, wenn über eine Vollstreckungsgegenklage rechtskräftig zu Gunsten des Herausgabeklägers entschieden worden ist und die Erfüllung der dem Titel zu Grunde liegenden Forderung zwischen den Parteien unstreitig ist oder vom Titelschuldner zur Überzeugung des Gerichts bewiesen wird (BGH, NJW-RR 2014, 195 Rn. 19; NJW 2009, 1671 Rn. 16; auch BGH, Urt. v. 19. Dezember 2014, V ZR 82/13, NJW 2015, 1181 Rn. 23). Außerdem kann die Klage auf Titelherausgabe mit einer prozessualen Gestaltungsklage nach § 767 ZPO verbunden werden, wobei der Herausgabeantrag wegen der grundsätzlichen Vorrangigkeit der Vollstreckungsabwehrklage als „uneigentlicher“ Hilfsantrag verfolgt werden kann (vgl. Schmidt/Brinkmann in Münchener Kommentar zur ZPO, § 767 Rn. 20; BeckerEberhard in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 260 Rn. 16).
Daraus folgt allerdings nicht, dass für den isoliert auf die Herausgabe eines vollstreckbar ausgefertigten Unterhaltstitels gerichteten Antrag – wie für den Vollstreckungsgegenantrag – nach § 120 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 767 Abs. 1, § 802 ZPO ausschließlich das Verfahrensgericht (hier noch: Prozessgericht) des ersten Rechtszugs zuständig wäre. Der auf Herausgabe des Vollstreckungstitels gerichtete Antrag wird von dieser gesetzlichen Zuständigkeitsregelung nicht erfasst. Der vollstreckungsrechtliche Zusammenhang erlaubt auch keine entsprechende Anwendung für den Herausgabeantrag. Vielmehr hat es mangels Spezialvorschrift bei den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen sein Bewenden. Zwar darf eine isolierte Klage auf Herausgabe des Titels nicht dazu führen, dass die einschränkenden Bestimmungen für Vollstreckungsgegenklagen umgangen werden. Zu diesen gehören der Einwendungsausschluss des § 767 Abs. 2 ZPO, der an den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung im Vorprozess bzw. im Fall eines dort ergangenen Versäumnisurteils an den Zeitpunkt anknüpft, zu dem Einwendungen noch mit dem Einspruch gegen das Versäumnisurteil hätten geltend gemacht werden können (vgl. Raebel in Schuschke/Walker/Kessen/Thole, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, § 767 ZPO Rn. 34), sowie der Konzentrationsgrundsatz des § 767 Abs. 3 ZPO. Einwendungen gegen den durch Urteil titulierten Anspruch sind gemäß § 767 Abs. 1, § 802 ZPO ausschließlich bei dem Prozessgericht des ersten Rechtszugs geltend zu machen, denn dieses hat hinsichtlich aller den titulierten Anspruch selbst betreffenden Fragen regelmäßig die größte Sachkompetenz (Raebel in Schuschke/Walker/Kessen/Thole, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, § 767 ZPO Rn. 1 und 14). Der Gefahr einer Umgehung dieser Bestimmungen über eine isolierte Klage auf Titelherausgabe wird allerdings nach ständiger Rechtsprechung durch die beschriebenen engen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines isolierten Herausgabeantrags begegnet. Auch der sachliche Grund für die Bestimmung des Prozessgerichts des ersten Rechtszugs als ausschließlich zuständiges Gericht für Vollstreckungsabwehrklagen besteht deshalb für isolierte Klagen auf Titelherausgabe nicht.
Die örtliche Zuständigkeit für den Antrag auf Herausgabe des Vollstreckungstitels, mit dem ein (behaupteter) materiellrechtlicher Anspruch verfolgt wird, richtet sich deshalb nach § 232 Abs. 3 FamFG. Insoweit gilt nichts anderes als für einen isolierten Antrag auf Rückzahlung zu Unrecht vollstreckter Zahlungen im Wege der sog. „verlängerten“ Vollstreckungsgegenklage (hierzu: BayObLG, Beschluss vom 23. Juli 2020, 1 AR 54/20, juris Rn. 44 unter Hinweis auf OLG Karlsruhe, Urt. v. 27. April 2016, 7 U 92/15, juris Rn. 9; Lackmann in Musielak/Voit, ZPO, § 767 Rn. 15; Schmidt/Brinkmann in Münchener Kommentar zur ZPO, § 767 Rn. 21).


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