Familienrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Unterlassene Anhörung der Betroffenen im Betreuungsverfahren verletzt Anspruch auf rechtliches Gehör – hier: Anordnung einer Begutachtung im Betreuungsverfahren sowie Vorführungsanordnung ohne Gewährung rechtlichen Gehörs

Aktenzeichen  1 BvR 2538/10

Datum:
12.1.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
Normen:
Art 103 Abs 1 GG
§§ 1896ff BGB
§ 1896 BGB
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 283 Abs 1 S 2 FamFG
§ 283 Abs 2 FamFG
§ 283 Abs 3 FamFG
§ 34 Abs 1 FamFG
§ 44 Abs 1 S 2 FamFG
Spruchkörper:
1. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend AG Wetzlar, 2. Juli 2010, Az: 63 XVII 723/09 K, Beschlussvorgehend AG Wetzlar, 11. Mai 2010, Az: 63 XVII 723/09 K, Beschlussvorgehend AG Wetzlar, 2. Februar 2010, Az: 63 XVII 723/09 K, Beschlussvorgehend BVerfG, 26. Oktober 2010, Az: 1 BvR 2538/10, Einstweilige Anordnung

Tenor

1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Wetzlar vom 2. Februar und 11. Mai 2010 in der Gestalt des Beschlusses vom 2. Juli 2010 – 63 XVII 723/09 K – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht Wetzlar zurückverwiesen.
2. …
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen verschiedene Beschlüsse, die im Zusammenhang mit ihrem Betreuungsverfahren stehen.

I.
2
1. a) Die Kinder der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes (des Beschwerdeführers im Verfahren 1 BvR 2539/10) regten mit
Schreiben vom 19. Oktober 2009 an das Amtsgericht Wetzlar, Betreuungsgericht, an, ihre Eltern unter Betreuung zu stellen.
Hintergrund war eine Auseinandersetzung um ein Hausgrundstück in der V.-Straße, das im Eigentum der Kinder stand, aber von
der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann bewohnt wurde. Die Kinder wollten das Hausgrundstück verkaufen, um Verbindlichkeiten
tilgen zu können, und forderten ihre Eltern auf, das Haus zu räumen. Als die Eltern dies ablehnten, wurde auf Veranlassung
der Kinder im Juni 2009 die Versorgung des Hauses mit Strom, Wasser und Gas eingestellt.

3
Auf Anregung der Kinder suchten Mitarbeiter der Betreuungsbehörde des L.-Kreises am 14. Oktober 2009 die Beschwerdeführerin
und ihren Ehemann auf. Nach dem Bericht der Betreuungsbehörde befand sich das Haus in einem ordentlichen Zustand, wenn es
auch angesichts der eingestellten Gaslieferung nicht beheizt wurde und daher sehr kalt gewesen sei. Das gut gekleidete Ehepaar
habe ein Zimmer im Obergeschoss des Hauses bewohnt, das mit einem Schrank, Bett und Tisch ausgestattet gewesen sei. Auf dem
Tisch hätten Kuchen und eine Thermoskanne gestanden. Der Ehemann der Beschwerdeführerin habe erklärt, gegen die Kälte könne
man sich durch Bekleidung schützen, im Übrigen seien sie ausreichend versorgt. Ein weiteres Gespräch sei aufgrund der wechselseitigen
Vorwürfe zwischen den ebenfalls anwesenden Kindern und Eltern nicht möglich gewesen.

4
Am 15. Oktober 2009 suchten die Mitarbeiter der Betreuungsbehörde das Ehepaar in Abwesenheit der Kinder auf. Auffallend sei
nach Auffassung der Mitarbeiter der Betreuungsbehörde gewesen, dass die Beschwerdeführerin sich wiederum nicht habe äußern
dürfen. Vielmehr habe ihr der Ehemann das Wort abgeschnitten oder durch eine Handbewegung deutlich gemacht, dass sie zu schweigen
habe. Er habe außerdem überraschend mitgeteilt, dass er nichts sagen könne. Er arbeite für eine Initiative zu Sicherheits-
und Umweltfragen. Man habe bereits versucht, ihn umzubringen. Die Mitarbeiter der Betreuungsbehörde hätten daraufhin erklärt,
seine Ideen seien wahnhaft, es liege wohl eine psychische Erkrankung vor und eine Betreuung sei anzuraten. Dies habe der Ehemann
gelassen aufgenommen und die Mitarbeiter wie am Vortag sehr höflich verabschiedet.

5
Mit Schreiben vom 8. November 2009 nahmen die Kinder ihre “Betreuungsanträge” für ihre Eltern zurück. Zur Begründung gaben
sie an, die Eltern hätten inzwischen das Haus verlassen und hielten sich bei Bekannten, der Familie H.-A., in “geregelten
Verhältnissen” auf. Sie seien bereit, konstruktiv zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse beizutragen. Damit bestehe keine
Selbstgefährdung mehr und die Einleitung eines Betreuungsverfahrens sei nicht mehr erforderlich. Der zuständige Amtsrichter
antwortete unter dem 13. November 2009, dass die Betreuungsbedürftigkeit der Eltern von Amts wegen zu prüfen sei.

6
b) Mit Beschluss vom 2. Februar 2010 entschied das Amtsgericht Wetzlar, das Gericht habe zu prüfen, ob und inwieweit für die
Beschwerdeführerin und ihren Ehemann ein Betreuer zu bestellen sei. Die Sachverständige P. solle nach persönlicher Untersuchung
ein Gutachten erstatten. Unter dem 25. Februar 2010 widersprach der Ehemann der Beschwerdeführerin sinngemäß der Einrichtung
einer Betreuung für sich und seine Frau und verlangte eine Erklärung, warum das Verfahren trotz des Schreibens der Kinder
weitergeführt werde. Ein von der Gutachterin P. angesetzter Begutachtungstermin wurde von der Beschwerdeführerin und ihrem
Mann nicht wahrgenommen.

7
Unter dem 6. April 2010 teilte der Amtsrichter schriftlich mit, er entnehme dem Schreiben des Ehemannes, dass das Paar nicht
bereit sei, sich untersuchen zu lassen. Er müsse die Beschwerdeführerin daher darauf hinweisen, dass das Gericht die zwangsweise
Vorführung zur Untersuchung und auch eine geschlossene Unterbringung anordnen werde, wenn das Ehepaar auch einem weiteren
Termin unentschuldigt fernbleibe. Die Gutachterin setzte daraufhin einen neuen Termin auf den 21. April 2010 fest, bei dem
die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann ebenfalls nicht anwesend waren.

8
c) Mit Beschluss vom 11. Mai 2010 ordnete das Amtsgericht Wetzlar jeweils die Vorführung zur Untersuchung der Beschwerdeführerin
an. Weiter wurde die Betreuungsbehörde ermächtigt, bei Widerstand Gewalt anzuwenden, ohne Einwilligung die Wohnung der Beschwerdeführerin
zu betreten und sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Zur Begründung führte das Gericht aus, das Betreuungsverfahren habe
mangels Mitwirkung nicht gefördert werden können. Da damit zu rechnen sei, dass die Beschwerdeführerin die Tür nicht öffnen
und Widerstand leisten würde, sei die Befugnis zur Gewaltanwendung gemäß § 283 Abs. 2 FamFG und eine Ermächtigung zum Betreten
der Wohnung gemäß § 283 Abs. 3 FamFG notwendig.

9
Der Beschluss wurde an die Adresse V.-Straße zugestellt. Die Zustellung schlug fehl, da das Hausgrundstück inzwischen veräußert
worden war. Die Betreuungsbehörde ermittelte daraufhin, dass sich das Ehepaar weiterhin bei Familie H.-A. aufhielt. Mit Beschluss
vom 2. Juli 2010 wurde der Beschluss vom 11. Mai 2010 im Hinblick auf die Adresse der Beschwerdeführerin bei Familie H.-A.
abgeändert. Aus der nebenstehenden Verfügung ergibt sich, dass von diesem Beschluss eine Abschrift zu den Akten genommen und
eine Ausfertigung an die Betreuungsbehörde zur weiteren Veranlassung geschickt werden sollte. Außerdem sollte ein gleichlautender
Beschluss für das Verfahren des Ehemannes gefertigt werden. Ein Hinweis auf eine förmliche oder formlose Zustellung des Beschlusses
vom 2. Juli 2010 mit dem Beschluss vom 11. Mai 2010 an die Beschwerdeführerin ist den Akten nicht zu entnehmen.

10
Unter dem 26. Mai 2010 beantragte die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin und ihres Mannes erstmals Akteneinsicht.
Nach mehrmaliger Nachfrage erhielt die Verfahrensbevollmächtigte die Betreuungsakte unter dem 5. August 2010 schließlich zur
Einsicht.

11
Am 20. August 2010 erhob die Verfahrensbevollmächtigte Beschwerde gegen die Beschlüsse vom 2. Februar, 11. Mai und 2. Juli
2010 und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Beschlüsse entbehrten nach der Rücknahme des Antrags der Kinder
jeder Grundlage und seien damit willkürlich. Der Beschluss vom 11. Mai 2010 sei nicht zugestellt worden. Auch sei die Beschwerdeführerin
nicht angehört worden. Gleiches gelte für den Beschluss vom 2. Juli 2010.

12
Mit Beschluss vom 24. August 2010 wurde der Beschwerde nicht abgeholfen. Rechtliches Gehör sei durch Übersendung der gerichtlichen
Verfügungen gewährt worden. Die Reaktionen des Ehemannes der Beschwerdeführerin belegten den Zugang.

13
d) Mit Beschluss des Landgerichts vom 15. September 2010 – 7 T 152/10, 7 T 153/10, 7 T 154/10 – wurde die Beschwerde verworfen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehe ins Leere, da keine gesetzliche Frist ersichtlich sei, an deren
Einhaltung die Beschwerdeführerin unverschuldet gehindert gewesen sein könne. Für eine Entscheidung nach § 44 FamFG sei das
Landgericht nicht zuständig, sondern das Amtsgericht.

14
Im Übrigen seien die Beschwerden nicht statthaft und damit unzulässig. Gemäß § 58 Abs. 1 FamFG anfechtbare Endentscheidungen
lägen nicht vor. Die Beschwerden seien auch nicht wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs statthaft. Dies könne der
Fall sein, wenn die getroffenen Entscheidungen objektiv willkürlich seien und insbesondere mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG
und Art. 103 Abs. 1 GG nicht mehr verständlich erschienen. Dies sei nicht der Fall. Die Beschwerdeführerin sei durch das Amtsgericht
über die Einleitung des Betreuungsverfahrens einschließlich der Beauftragung der Sachverständigen sowie über die Möglichkeit
einer zwangsweisen Vorführung schriftlich in Kenntnis gesetzt worden. Dass das Ehepaar die entsprechenden Schreiben vom 2.
Februar 2010 und 6. April 2010 erhalten habe, zeigten die vom Ehemann verfassten Schreiben. Eine förmliche Zustellung sei
nicht erforderlich. Das Amtsgericht sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Beschwerdeführerin vor Erlass der Vorführungsanordnung
gemäß § 283 Abs. 1 Satz 2 FamFG persönlich anzuhören. Die Beschwerdeführerin habe deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie
eine Untersuchung ablehne. Ein Betroffener, der sich beharrlich weigere, mit dem Sachverständigen Kontakt aufzunehmen, werde
im Zweifel auch einen gerichtlichen Termin zur persönlichen Anordnung über die Gründe seiner Weigerung nicht wahrnehmen. Da
die Anhörung gemäß § 283 Abs. 1 Satz 2 FamFG in erster Linie den Sinn habe, dem Betroffenen die Konsequenzen seines Verhaltens
vor Augen zu führen, genüge bei ernsthaft verweigerter Kontaktaufnahme auch die schriftliche Anhörung des Betroffenen, in
der er unter Gewährung einer Stellungnahmemöglichkeit über die Folgen seines Verhaltens belehrt werde.

15
2. Mit Schreiben vom 30. September 2010, eingegangen am 4. Oktober 2010, hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde
erhoben. Die angegriffenen Beschlüsse seien willkürlich, abgesehen vom Beschluss des Landgerichts, nicht zugestellt und rechtliches
Gehör nicht gewährt worden. Hätte das Gericht die Beschwerdeführerin persönlich angehört, hätte es erkennen müssen, dass die
Einrichtung einer Betreuung angesichts ihres Aufenthalts bei Familie H.-A. nicht erforderlich sei. Insbesondere vor der Vorführungsanordnung
hätte die Beschwerdeführerin persönlich angehört werden müssen. Das Gericht habe auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen
es nach der Rücknahme des Antrags durch die Kinder an der Prüfung der Betreuung festhalte. Eine Selbstgefährdung der Beschwerdeführerin
sei nicht ersichtlich, so dass die Einrichtung einer Betreuung nicht in Betracht komme.

16
3. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 26. Oktober 2010 eine einstweilige
Anordnung erlassen. Darin ist die Wirksamkeit der Beschlüsse vom 2. Februar und 11. Mai 2010 in der Gestalt des Beschlusses
vom 2. Juli 2010 einstweilen bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens für sechs Monate, ausgesetzt worden. Die Verfassungsbeschwerde
ist insoweit nicht zur Entscheidung angenommen worden, als sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts Limburg vom 15. September
2010 – 7 T 152/10, 7 T 153/10, 7 T 154/10 – gerichtet hat.

17
4. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Die Regierung des Landes Hessen hatte Gelegenheit
zur Stellungnahme, in der sie erklärt hat, der Verfassungsbeschwerde sei der Erfolg nicht zu versagen.

II.
18
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin
geboten ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich
begründet ist, § 93c Abs. 1 BVerfGG.

19
Die angefochtenen Beschlüsse des Amtsgerichts vom 2. Februar und 11. Mai 2010 in der Gestalt des Beschlusses vom 2. Juli 2010
verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

20
2. a) Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie hinreichend substantiiert.

21
b) Die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 BVerfGG sind ebenfalls erfüllt.

22
aa) Zunächst muss der Bürger gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG die behauptete Grundrechtsverletzung durch das Einlegen von
Rechtsbehelfen vor den Fachgerichten abzuwenden versuchen (BVerfGE 68, 376 ; 70, 180, ), wie es die Beschwerdeführerin
durch Einlegung einer Beschwerde bereits angestrebt hat. Die Beauftragung des Gutachters und die Anordnung der Untersuchung
und Vorführung sind als nicht instanzabschließende Zwischenentscheidungen jedoch grundsätzlich nicht anfechtbar.

23
bb) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Beschwerdeführerin nicht ausdrücklich eine Anhörungsrüge
gemäß § 44 FamFG erhoben hat. Es kann hier dahinstehen, ob es sich bei der Vorführungsanordnung um eine – bei verfassungskonformer
Auslegung von § 44 Abs. 1 Satz 2 FamFG – einer Anhörungsrüge zugängliche Zwischenentscheidung handelt. Denn die Beschwerdeführerin
hat ihr Vorbringen gegen den Beschluss vom 11. Mai 2010 ausdrücklich auch auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützt.
Das Amtsgericht hat in seinem Nichtabhilfebeschluss erklärt, eine Gehörsverletzung habe nicht vorgelegen. Damit ist der Intention
des Gesetzgebers bei Aufnahme von § 44 FamFG entsprochen worden, dass bei unanfechtbaren Entscheidungen das die Entscheidung
erlassende Gericht über eine etwaige Verletzung des rechtlichen Gehörs befinden soll.

24
3. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.

25
Die Beschwerdeführerin wurde in ihrem Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

26
a) Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, vor dem Erlass einer Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten
rechtliches Gehör gewährt wurde (BVerfGE 36, 85 ). Die Anhörung der Beteiligten ist Voraussetzung einer richtigen Entscheidung
(BVerfGE 9, 89 ). Zudem ermöglicht die Anhörung dem Verfahrensbeteiligten, die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen
(BVerfGE 22, 114 ; 49, 212 ; 94, 166 ). Da die Einrichtung einer Betreuung einen erheblichen Grundrechtseingriff
bedeutet, der nur zulässig ist, wenn der Betroffene seinen Willen nicht frei bestimmen kann und infolgedessen sich oder andere
gefährdet (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 2. Juli 2010 – 1 BvR 2579/08 -, NJW 2010, S. 3360 ), kommt
in einem Betreuungsverfahren dem Recht des Betroffenen, auf die Sachverhaltsermittlung und Entscheidungsfindung des zuständigen
Betreuungsgerichts in Anhörungen und Stellungnahmen einwirken zu können, besondere Bedeutung zu.

27
b) Diesen Voraussetzungen genügen die Beschlüsse vom 2. Februar und 11. Mai 2010 in der Gestalt des Beschlusses vom 2. Juli
2010 nicht. Die Beschwerdeführerin wurde weder persönlich noch schriftlich angehört.

28
aa) Vor dem Beschluss vom 2. Februar 2010, mit dem die Gutachterin P. mit der Untersuchung der Beschwerdeführerin beauftragt
wurde, ist die Beschwerdeführerin weder schriftlich noch mündlich von der beabsichtigten Prüfung der Einrichtung einer Betreuung
informiert worden. Sie hat sich dementsprechend auch nicht äußern können. Allerdings ergibt sich aus den schriftlichen Stellungnahmen
des Ehemannes der Beschwerdeführerin, dass diese den Beschluss vom 2. Februar 2010 erhalten hat.

29
Gegen eine Verletzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 103 Abs. 1 GG durch das Fehlen einer Gelegenheit zur
Stellungnahme vor der Beauftragung der Gutachterin spricht auch nicht, dass im Beschluss vom 2. Februar 2010 zunächst noch
keine zwangsweise Untersuchung und Vorführung angeordnet worden ist. Der Bundesgerichtshof hat zu §§ 19, 68b FGG a.F. zwar
ausgeführt, dass ein Beschluss, der sich darauf beschränkt, einen Sachverständigen mit der Erstellung eines medizinischen
Gutachtens über die Betreuungsbedürftigkeit eines Betroffenen zu beauftragen, den Betroffenen aber nicht verpflichtet, sich
zum Zwecke der Begutachtung untersuchen zu lassen, nicht anfechtbar ist, weil es sich nicht um eine Endentscheidung handele,
die in die Rechte des Betroffenen eingreife. Zwar setze ein solcher Beschluss eine Untersuchung voraus, das bedeute jedoch
nicht, dass der Betroffene zur Mitwirkung verpflichtet werde (BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 – XII ZB 209/06 -, FamRZ
2008, S. 774 ).

30
Dass der Beweisbeschluss zunächst noch keine Zwangsmittel vorgesehen hat, um die Begutachtung de Beschwerdeführerin gegebenenfalls
auch gegen ihren Willen durchsetzen zu können, bedeutet jedoch nicht, dass ihr keine Gelegenheit zur Stellungnahme hätte eingeräumt
werden müssen. Aus dem Beschluss des Amtsgerichts Wetzlar hat sich nicht ausdrücklich ergeben, dass die Mitwirkung an der
Erstellung des Gutachtens freiwillig erfolgt. Ein rechtsunkundiger Bürger wird, wenn eine solche Beauftragung im Wege des
Beschlusses erfolgt, meist davon ausgehen, dass er zu einer Mitwirkung verpflichtet ist. Bei einer Verweigerung der freiwilligen
Untersuchung muss ein Betroffener auch damit rechnen, aufgrund eines erneuten Beschlusses zwangsweise vorgeführt und untersucht
zu werden. Im Übrigen hat bereits die Beauftragung eines Gutachters zur Prüfung einer möglichen Betreuungsbedürftigkeit eine
stigmatisierende Wirkung, wenn Dritte von ihr Kenntnis erlangen. Nach geltendem Recht, das vorliegend nicht verfassungsrechtlich
zu prüfen ist, ist ein Rechtsmittel gegen die Beauftragung des Gutachters nicht vorgesehen. Insofern erhält die vor der Beauftragung
zu erfolgende Anhörung des Betroffenen zum Schutz seiner Rechte besondere Bedeutung (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten
Senats vom 7. Dezember 2010 – 1 BvR 2157/10 – juris, Rn. 31).

31
Es hätte schon deshalb nahegelegen, dem Erlass des Beweisbeschlusses ein Schreiben mit einer Aufforderung zur Stellungnahme
oder eine persönliche Anhörung vorausgehen zu lassen, weil der Grund für die ursprüngliche Anregung der Einrichtung einer
Betreuung mit dem Umzug der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes zur Familie H.-A. entfallen war und dem Betreuungsgericht
die Information vorgelegen hat, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann in ihrer neuen Bleibe, wo sie nach Angaben der
Kinder in “geregelten Verhältnissen” leben, ausreichend versorgt sind. Insofern hat Anlass bestanden, die Betreuungsbedürftigkeit
erneut zu überprüfen.

32
Im Gegensatz zu ihrem Ehemann hat die Beschwerdeführerin zudem kein Verhalten gezeigt, dass Anlass geben würde, von einer
psychischen Erkrankung auszugehen. Vielmehr ist ihr von ihrem Ehemann verboten worden, sich gegenüber Dritten zu äußern. Dass
sich die Beschwerdeführerin den Wünschen ihres Ehemannes unterordnet, kann allein noch keinen Anlass geben, eine psychische
Erkrankung und Betreuungsbedürftigkeit anzunehmen. Anstatt einen Beweisbeschluss zu erlassen, hätte es deshalb nahegelegen,
die Beschwerdeführerin persönlich, gegebenenfalls in Abwesenheit ihres Mannes, anzuhören. Jedenfalls hätte überprüft werden
müssen, ob in der neuen Wohnsituation der Beschwerdeführerin unter Obhut der befreundeten Familie überhaupt noch Anhaltspunkte
für die Prüfung der Einrichtung einer Betreuung bestanden.

33
Die Gehörsverletzung ist auch nicht im späteren Verfahren geheilt worden. Zwar hat sich der Ehemann der Beschwerdeführerin
schriftlich geäußert und zum Ausdruck gebracht, dass er angesichts des Umzuges die Einrichtung einer Betreuung nicht für erforderlich
gehalten hat. Jedoch hat sich das Amtsgericht mit diesem Vorbringen erkennbar nicht auseinandergesetzt. Vielmehr ist der Beschwerdeführerin
und ihrem Ehemann lediglich mitgeteilt worden, dass sie bei einer weiteren Weigerung, mit der Gutachterin zusammenzuarbeiten,
zwangsweise vorgeführt würden.

34
bb) Auch der Beschluss vom 11. Mai 2010 in der Gestalt des Beschlusses vom 2. Juli 2010 verletzt die Beschwerdeführerin in
ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Eine persönliche Anhörung, wie sie § 283 Abs. 1 Satz 2 FamFG als Sollvorschrift vorsieht,
ist wiederum nicht erfolgt.

35
Eine persönliche Anhörung ist vorliegend auch nicht entbehrlich gewesen. Die Auffassung des Landgerichts Limburg, bei einer
beharrlichen Weigerung des Betroffenen, mit dem Gutachter zusammenzuarbeiten, sei eine persönliche Anhörung nicht erforderlich,
weil davon ausgegangen werden könne, dass er auch zur Anhörung nicht erscheinen werde, wird der hohen Bedeutung des rechtlichen
Gehörs im Betreuungsverfahren nicht gerecht. Verweigert der Betroffene die Zusammenarbeit mit dem Gutachter nicht, so ist
schon der Erlass eines Vorführungs- und Untersuchungsbeschlusses unverhältnismäßig, mit dem die Untersuchung des Betroffenen,
soweit erforderlich unter Anwendung von Gewalt, und die zwangsweise Öffnung seiner Wohnung angeordnet wird. Ist er dagegen
zur Zusammenarbeit mit dem Gutachter nicht bereit, lässt dies allein die Notwendigkeit der im Gesetz vorgesehenen Anhörung
nicht entfallen. Vielmehr ist es gerade in diesem Fall angezeigt, mittels der Anhörung die Gründe zu erkunden, die den Betroffenen
zu seiner Verweigerungshaltung bringen. Allein aus der mangelnden Bereitschaft, sich begutachten zu lassen, kann nicht geschlossen
werden, dass der Betroffene auch nicht zur Anhörung kommen will. Da trotz des Eingriffs in die Grundrechte des Betroffenen,
die eine Anordnung der zwangsweisen Vorführung und gewaltsamen Öffnung der Wohnungstür mit sich bringt, dagegen kein Rechtsmittel
vorgesehen ist, kommt der persönlichen Anhörung des Betroffenen vor Anordnung einer solchen Maßnahme besondere Bedeutung zu.

36
Entbehrlich ist die Anhörung jedenfalls dann nicht, wenn sie wie hier im bisherigen Verfahren auch ansonsten in völlig unzureichender
Weise stattgefunden hat. Die Beschwerdeführerin hat sich weder geäußert, noch sind Versuche unternommen worden, ihre Sicht
der Dinge in Erfahrung zu bringen. Allein aus dem Verhalten der Beschwerdeführerin gegenüber ihrem Ehemann auf eine psychische
Erkrankung zu schließen, entbehrt schon einer tragfähigen Faktengrundlage. Dies gilt umso mehr für eine darauf gestützte Annahme,
bei der Beschwerdeführerin könne eine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegen.

37
Die Entscheidungen vom 11. Mai und 2. Juli 2010 haben damit die Gehörsverletzung vertieft. Beide Beschlüsse hat die Beschwerdeführerin
im Übrigen offensichtlich nicht erhalten.

38
cc) Die Beschlüsse des Amtsgerichts Wetzlar beruhen auch auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführerin
trägt vor, die Einrichtung einer Betreuung sei nicht erforderlich, da nach dem Umzug zur Familie H.-A. keine Selbstgefährdung
vorliege und sie ihre Angelegenheiten selbst regeln könne. Bei einer persönlichen Anhörung hätte dies möglicherweise festgestellt
und vom weiteren Betreuungsverfahren abgesehen werden können.

39
c) Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.

40
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.


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