IT- und Medienrecht

Erkrankung, Schadensersatzanspruch, Schadensersatz, Schmerzensgeld, Freiheitsstrafe, Berufung, Revision, Verletzung, Gewalttat, Tinnitus, Strafverfahren, Zahlung, Gesundheitsschaden, Todesfolge, psychische Erkrankung, psychische Belastung, angemessenes Schmerzensgeld

Aktenzeichen  24 U 3186/18

Datum:
31.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 58020
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 823 Abs. 1

 

Leitsatz

Der Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB reicht nicht so weit, dass ein naher Angehöriger des Opfers eines Gewaltverbrechens einen Schadensersatzanspruch gegen den Gewalttäter unter dem Gesichtspunkt des „Schockschadens“ hätte, wenn der nahe Angehörige 27 Jahre nach Kenntniserlangung von der Gewalttat erstmals eine pathologisch fassbare psychische Erkrankung dadurch erleidet, dass er anlässlich der Festnahme des später rechtskräftig verurteilten Verdächtigen sich in die Strafakten einarbeitet und mit dem Strafverfahren konfrontiert wird.

Verfahrensgang

101 O 4958/13 2018-08-02 Urt LGAUGSBURG LG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 02.08.2018, Az. 101 O 4958/13, abgeändert und die Klage abgewiesen.
II. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen zu tragen.
IV. Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Der Kläger macht gegen den Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch geltend, da dieser dafür verantwortlich sei, dass der Kläger seit September 2010 an einem linksseitigen Tinnitus sowie psychovegetativen Erschöpfungszuständen mit depressiver Tönung leide.
Die Schwester des Klägers, H., wurde im Jahr 1981 Opfer eines erpresserischen Menschenraubs. Sie wurde am 15.09.1981 vom Täter gewaltsam entführt und in einer im Erdboden vergrabenen Kiste gefangen gehalten. Sie verstarb wenige Stunden, nachdem sie eingesperrt worden war, wegen Sauerstoffmangels. Der Täter, der zunächst Lösegeldforderungen an die Familie der Entführten gerichtet hatte, brach den Kontakt ab, nachdem er den Tod des damals 11 Jahre alten Mädchens bemerkt hatte. Am 04.10.1981 wurde die vergrabene Kiste mit dem toten Mädchen entdeckt. Der Entführer konnte zunächst nicht ermittelt werden. Erst Mitte des Jahres 2008 erfolgte die Festnahme des Beklagten. Er wurde mit Urteil des Landgerichts Augsburg vom 25.03.2010 (Az. 8 Ks 200 Js 103990/07) wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg wurde vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen. Das Urteil ist seit dem 25.01.2011 rechtskräftig.
Der Kläger war 18 Jahre alt, als seine Schwester entführt wurde, und lebte – wie die Entführte – im Haushalt der Eltern. Nach eigenem Vortrag, der vom Beklagten nur hinsichtlich dessen Täterschaft bestritten wurde, hat der Kläger 1981 aufgrund der Straftat gegenüber seiner Schwester keine bleibenden Beeinträchtigungen davongetragen. Es war zwar ein Schockzustand vorhanden gewesen, aber darüber hinausgehend gab es keine Beeinträchtigungen. In der Familie hat eine sehr intensive Trauerphase stattgefunden, bis man den Tod der jüngsten Tochter bzw. der Schwester, jeder für sich, verarbeitet habe, um Frieden zu finden. Nach der Festnahme des Beklagten im Jahr 2008 entschloss sich der Kläger im Strafverfahren, das von Februar 2009 bis Anfang März 2010 beim Landgericht Augsburg geführt wurde, als Nebenkläger aufzutreten. Er hat sich bereits im Oktober 2008, also vor Prozessbeginn, in psychologische Begleitung begeben, um durch das Aktenstudium nicht in falsche Richtungen geleitet zu werden. Seit der Festnahme des Beklagten hat er eine außergewöhnliche psychische Belastung gespürt. Etwa ein halbes Jahr nach der Verkündung des Urteils des Landgerichts Augsburg ist am Ende der Sommerferien wie aus dem Nichts der Tinnitus aufgetreten. Nach Auffassung des Klägers waren das Strafverfahren und die damit verbundene Retraumatisierung die auslösenden Faktoren für den Tinnitus.
Das Landgericht hat im erstinstanzlichen Verfahren ein schriftliches neurologischpsychiatrisches Gutachten vom 12.08.2015 (Bl. 87/116 d. A.) eingeholt, das in der Verhandlung am 08.12.2016 (Protokoll Bl. 176/179 d. A.) vom Sachverständigen mündlich erläutert wurde. Nach Einschätzung des Sachverständigen waren die Festnahme des Beklagten im Jahr 2008, die Einarbeitung des Klägers in die Strafakten und die Belastung im Strafverfahren ausschlaggebend für den Tinnitus des Klägers und die psychovegetativen Erschöpfungszustände mit depressiver Tönung. Die Ereignisse um den Tod der Schwester und die Tat des Beklagten stünden in „direktem zeitlichen und kausalen Zusammenhang“ mit den Krankheitsbildern des Klägers. Es sei zu einer Retraumatisierung gekommen. Ohne die zwischenzeitliche Festnahme des Beklagten und den langwierigen Prozess 2009/2010 hätten sich die Krankheitsbilder nicht ausgebildet.
Das Landgericht hat ferner zur Klärung der Frage der Täterschaft des Beklagten Beweis erhoben durch
– Verwertung (§ 411a ZPO) eines im Strafverfahren erholten phonetischen Sachverständigengutachtens betreffend ein beim Beklagten aufgefundenes Tonbandgerät, das im Rahmen der Erpresseranrufe Verwendung gefunden haben soll,
– mündliche Anhörung der phonetischen Sachverständigen und
– Einvernahme zweier mit den damaligen Ermittlungen befasster Polizeibeamten als Zeugen.
Mit dem angegriffenen Urteil vom 02.08.2018, Az. 101 O 4958/13, dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten zugestellt am 09.08.2018, sprach das Landgericht dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 € zu und wies die (auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 20.000,00 € gerichtete) Klage im Übrigen ab. Hinsichtlich des streitgegenständlichen Sachverhalts, der vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen und des Inhalts der Entscheidung im Einzelnen wird (in Ergänzung zu den obigen Ausführungen) gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf dieses Urteil Bezug genommen.
Mit seiner am 10.09.2018, einem Montag, eingegangenen und nach fünfmaliger einverständlicher Fristverlängerung, zuletzt bis zum 25.02.2019, mit an diesem Tag eingegangenem Schrift24 U 3186/18 – Seite 4 satz begründeten Berufung verfolgt der Beklagte das Ziel einer Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung des Verfahrens an das Landgericht, hilfsweise die vollständige Klageabweisung. Hinsichtlich seines Vortrags in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsbegründung vom 25.02.2019 (Bl. 366/385 d. A.) sowie auf das Vorbringen seines Prozessbevollmächtigten in der Berufungsverhandlung vom 10.03.2020 (Seite 2 des Protokolls, Bl. 407 d. A.) verwiesen.
Der Beklagte beantragt in der Berufungsinstanz:
I. Das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 02.08.2018, Az. 101 O 4958/13, wird aufgehoben und an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen.
II. hilfsweise: Das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 02.08.2018, Az. 101 O 4958/13, wird abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Hinsichtlich des Vorbringens des Klägers in der Berufungsinstanz wird auf die am 03.07.2019 eingegangene Berufungserwiderung (Bl. 393/395 d. A.) sowie auf den Vortrag seines Prozessbevollmächtigten in der Berufungsverhandlung vom 10.03.2020 (Seiten 2 f. des Protokolls, Bl. 407 f. d. A.) Bezug genommen. Die Frist zur Berufungserwiderung war dem Kläger mit Einverständnis des Beklagten zweimal, zuletzt bis zum 03.07.2019, verlängert worden.
Zugleich mit seiner Berufungserwiderung hat der Kläger Anschlussberufung gegen das vom Beklagten angegriffene Endurteil des Landgerichts Augsburg eingelegt.
Im Wege der Anschlussberufung beantragt der Kläger:
1. Den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 5%Punkten über dem Basiszinssatz, welches nicht unter € 20.000,00 liegt, seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
2. Den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger nicht anrechenbare Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 597,74 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagtenvertreter hat in der Berufungsverhandlung die Zurückweisung der Anschlussberufung beantragt. Eine schriftsätzliche Erwiderung auf die Anschlussberufung erfolgte, trotz antragsgemäßer Fristverlängerung hierfür um fünf Wochen, nicht.
Der Senat hat mit dem Kläger und den Parteivertretern am 10.03.2020 mündlich verhandelt; Beweise wurden nicht erhoben. Hinsichtlich des Inhalts der mündlichen Verhandlung nimmt der Senat auf das Protokoll (Bl. 406/408 d. A.) Bezug.
II.
Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet. Der Beklagte ist dem Kläger nicht zur Zahlung eines Schmerzensgeldes aus § 823 Abs. 1 i. V. m. § 253 Abs. 2 BGB verpflichtet, und zwar auch dann nicht, wenn man nicht bezweifelt, dass der Beklagte den erpresserischen Menschenraub mit Todesfolge, für den er rechtskräftig zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, tatsächlich begangen hat. Grund dafür ist, dass der Schutzzweck der Schadensersatznorm (§ 823 Abs. 1 BGB) nicht so weit reicht, dass die vom Kläger erlittene mittelbare Gesundheitsbeeinträchtigung vom Beklagten auszugleichen wäre.
1. Im Ausgangspunkt ist allerdings festzuhalten, dass es nicht um eine mittelbare Schädigung des Klägers in dem Sinne geht, dass dieser gar keine eigene Verletzung der Gesundheit im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB erlitten hätte. Anders als in den Fällen der §§ 844 bis 846 BGB, in denen Hinterbliebene bzw. Angehörige eines Getöteten oder Verletzten einen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger haben, obwohl die Hinterbliebenen oder Angehörigen selbst lediglich in ihrem Vermögen, nicht aber in einem eigenen konkreten Recht bzw. Rechtsgut im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB (Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, sonstiges Recht) verletzt worden sind, geht es in Fällen wie dem vorliegenden, die dadurch gekennzeichnet sind, dass jemand anderes als das Opfer, gegen das sich eine rechtswidrige Tat richtet, einen sogenannten „Schockschaden“ erleidet, um eine eigene Gesundheitsverletzung desjenigen, der den Schock erlitten hat (vgl. zum Ganzen ausführlich und instruktiv Bick, Die Haftung für psychisch verursachte Körperverletzungen und Gesundheitsschäden im deutschen und angloamerikanischen Deliktsrecht, Diss. Freiburg 1970, Seiten 19 bis 23).
2. Mittelbar ist die vom Kläger erlittene Gesundheitsverletzung aber in zweierlei Hinsicht: Zum einen richtete sich der erpresserische Menschenraub mit Todesfolge, dessentwe24 U 3186/18 – Seite 6 gen der Beklagte strafrechtlich verurteilt worden ist, gegen die Schwester des Beklagten und beider Eltern, nicht aber gegen den Beklagten selbst. In diesem Sinne ist der Kläger (in der Terminologie des Bundessozialgerichts zu Ansprüchen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG) ein „Sekundäropfer“ (vgl. Trenk-Hinterberger, Schockschäden bei Sekundäropfern von Gewalttaten – Rechtsfortbildung in der Judikatur des 9. Senats, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, Seiten 745 bis 764 [hier: Seiten 751 bis 754 m. w. N.]). Zum anderen ist die vom Kläger erlittene Beeinträchtigung auch in dem Sinne mittelbar, dass ein Gesundheitsschaden nur insoweit entstanden sein kann, als es dem Kläger nicht gelungen ist, den gewaltsamen Tod seiner Schwester psychisch zu verarbeiten (sogenannte psychisch vermittelte Kausalität eines Gesundheitsschadens).
3. Um eine mit Blick auf solche Verletzungsfolgen potentiell uferlose Haftung des Schädigers zu vermeiden, kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die haftungsrechtliche Zurechnung des „Schockschadens“ eines Dritten zum Verhalten des Schädigers mit Blick auf die Grenzen des Schutzzwecks der Schadensersatznorm (vgl. BGH vom 17.04.2018 – VI ZR 237/17 – juris Rn. 13) nur unter eingeschränkten Voraussetzungen in Betracht, die hier nicht vorliegen.
a) Eine psychische Beeinträchtigung kann in diesen Fällen nur dann als schadensersatzfähige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar ist und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH vom 27.01.2015 – VI ZR 548/12 – juris Rn. 7; vom 10.02.2015 – VI ZR 8/14 – juris Rn. 9; vom 21.05.2019 – VI ZR 299/17 – juris Rn. 7).
Jedenfalls bei den Fällen, in denen die psychisch vermittelte Gesundheitsbeeinträchtigung vom Täter nicht gewollt war, ist eine Beschränkung auf solche Schäden erforderlich, die nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern auch nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden; deshalb müssen unter Umständen auch Beeinträchtigungen ersatzlos bleiben, die zwar medizinisch erfassbar sind, aber nicht den Charakter eines „schockartigen“ Eingriffs in die Gesundheit tragen (BGH vom 11.05.1971 – VI ZR 78/70 – juris Rn. 8). Letzteres betrifft das Erfordernis eines hinreichend engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen der rechtswidrigen Tat und der pathologisch fassbaren psychischen Beeinträchtigung des Dritten. Auch wenn der Senat nicht verkennt, dass das Opferentschädigungsgesetz Ansprüche gegen den Staat und nicht gegen den Schädiger betrifft, lässt sich in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG heranziehen, die einen Anspruch eines „Sekundäropfers“ ebenfalls an den Eintritt eines „Schocks“ anknüpft. Dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.06.2003 (B 9 VG 1/02 R – juris) lag der Fall zugrunde, dass bei der (in Trennung lebenden) Ehefrau eines Gewaltopfers – ihr Ehemann unterhielt eine außereheliche Beziehung und wurde vom Ehemann seiner Geliebten durch zwei Kopfschüsse getötet – erst etwa fünf Monate, nachdem sie vom gewaltsamen Tod ihres Ehemanns erfahren hatte, eine manifeste psychische Erkrankung auftrat. Das Bundessozialgericht hat (auch unter Rückgriff auf das zitierte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 17.05.1971) diskutiert, ob eine solch lange Latenzzeit der Annahme eines Schocks entgegenstehe und diese Frage schließlich mit der Erwägung verneint, dass in der herrschenden medizinischen Lehre die Möglichkeit einer Latenzzeit von „wenigen Wochen bis zu Monaten“ zwischen Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben werde (BSG vom 12.06.2003 – B 9 VG 1/02 R – juris Rn. 17 f.). Im Anschluss an diese Entscheidung wird in der zivilrechtlichen Literatur diskutiert, die Haftung für „Schockschäden“ auf Fälle zu begrenzen, in denen die psychische Erkrankung des Dritten spätestens sechs Monate nach Kenntniserlangung von der rechtswidrigen Tat eingetreten ist (Jahnke, Unfalltod und Schadensersatz, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 597, zit. nach Quaisser, NZV 2015, 465/468 zu Fn. 30).
Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ergibt sich, dass ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen den Beklagten nicht besteht.
aa) Stellt man auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung vom gewaltsamen Tod seiner Schwester im Jahr 1981 ab, ergibt sich auf der Grundlage der Einlassung des Klägers, dass er damals schon keine pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung erlitten hat. In der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 16.06.2016 äußerte der Kläger ausweislich des Protokolls (Seite 2, Bl. 159 d. A.): „1981 habe ich aufgrund der Straftat gegenüber meiner kleinen Schwester keine bleibenden Beeinträchtigungen davongetragen. Es war natürlich ein Schockzustand vorhanden, aber darüber hinaus gab es keine Beeinträchtigungen.“ Diese Aussage lässt (trotz des umgangssprachlich verwendeten Begriffs „Schockzustand“) nicht erkennen, dass der Kläger damals eins pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung mit Krankheitswert erlitten hätte. Eine solche mit der Kenntniserlangung von der Tat in engem zeitlichem Zusammenhang stehende Erkrankung hat der Kläger auch nicht behauptet.
Da der Kläger somit nach Kenntniserlangung von der Tat (1981) keine pathologisch fassbare psychische Erkrankung erlitten hat, kann seine damalige Reaktion auf die Kenntnisnahme vom Ereignis von vornherein kein tauglicher Anknüpfungspunkt für einen Schadensersatzanspruch sein. Da er damals keine – im haftungsrechtlichen Sinne – relevante primäre Traumatisierung erfahren hat, lässt sich insoweit auch nicht von einer Re-Traumatisierung durch die Befassung des Klägers mit dem Geschehnis nach der Festnahme des Beklagten im Jahr 2008 sprechen.
bb) Nach den Angaben des Klägers und des Sachverständigen (vgl. Seite 3 des Protokolls der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 08.12.2016, Bl. 178 d. A.) waren vielmehr (erst) die Festnahme des Beklagten, die Einarbeitung des Klägers in die Strafakten und die Belastung durch das Strafverfahren ausschlaggebend für die vom Kläger erlittenen Erkrankungen und den Tinnitus. Eine pathologisch fassbare psychische Erkrankung des Klägers ist damit erstmals etwa 27 Jahre nach Kenntniserlangung vom gewaltsamen Tod seiner Schwester eingetreten. Unabhängig davon, ob für die Anerkennung eines haftungsrechtlich relevanten Schockschadens zu fordern ist, dass dieser spätestens sechs Monate nach Kenntniserlangung von der rechtswidrigen Tat manifest geworden ist oder nicht, hat eine etwa 27 Jahre nach der Tat eingetretene psychische Erkrankung jedenfalls nicht den für die Zuerkennung eines Schadensersatzanspruchs erforderlichen Charakter eines schockartigen Eingriffs in die Gesundheit.
b) Unabhängig von diesem – einen haftungsrechtlich relevanten Schockschaden bereits allein ausschließenden – langen Latenzzeitraum scheitert die haftungsrechtliche Zurechnung der vom Kläger nach der Festnahme des Beklagten erlittenen psychischen Beeinträchtigung zur Gewalttat auch daran, dass – nach der Einlassung des Klägers selbst wie nach den Ausführungen des Sachverständigen – nicht diese Gewalttat selbst, sondern erst die Befassung des Klägers mit dem Geschehen seit der Festnahme 2008 der Auslöser war.
aa) Dabei verkennt der Senat nicht, dass das zivilrechtliche Schadensersatzrecht einen Anspruch nicht davon abhängig macht, dass ein rechtswidriges Verhalten unmittelbar eine Verletzung der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechte bzw. Rechtsgüter bewirkt. Ohne die Tat (1981) wäre es 2008 nicht zur Festnahme des Beklagten und zum anschließenden Strafverfahren gekommen, wodurch der Kläger eine pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung erlitten hat. Insofern ist die Tat selbstverständlich für die erlittene Erkrankung kausal, da die Tat nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Erkrankung entfiele. Die Tat ist damit eine notwendige Bedingung (conditio sine qua non) für die beim Kläger eingetretene Erkrankung. In diesem Sinne lässt sich die Ausführung des Sachverständigen verstehen, die Tat des Beklagten stehe „in direktem zeitlichem und kausalem Zusammenhang mit den Krankheitsbildern des Klägers“ (Seite 3 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 08.12.2016, Bl. 178 d. A.).
bb) Eine solche, gleichsam naturwissenschaftliche, Kausalität ist zwar erforderlich für einen Schadensersatzanspruch; sie genügt aber allein, wie dargelegt, für eine haftungsrechtliche Zurechnung nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gibt es insoweit neben der oben erörterten erforderlichen Qualität einer psychisch vermittelten Gesundheitsbeeinträchtigung ein weiteres einschränkendes Merkmal dahingehend, dass ein Schadensersatzanspruch nur dann besteht, wenn die rechtswidrige Tat selbst und nicht (erst) ein Geschehen nach der Tat zu der Gesundheitsbeeinträchtigung geführt hat. Dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 06.06.1989 (VI ZR 241/88 ‒ juris) lag der Fall zugrunde, dass ein Unfallgeschädigter erleben musste, wie nach Eintreffen der Polizei der Unfallgegner und die weiteren Insassen des von diesem gefahrenen Autos ihn, den Geschädigten, als Unfallverursacher beschuldigt haben, wodurch der Geschädigte einen Schlaganfall erlitt. Der Bundesgerichtshof hat die Frage eines Schadensersatzanspruchs gegen den Unfallverursacher wegen der von ihm begangenen Vorfahrtsverletzung (auch) aus § 823 Abs. 2 BGB mit der Begründung verneint, der Schutzzweck der verletzten Norm (§ 8 StVO) reiche nicht so weit, dass aufgrund ihrer Verletzung auch solche Schäden zu ersetzen wären, die erst durch ein Verhalten des Unfallgegners und seiner Begleiter nach dem Unfall sowie durch die polizeiliche Unfallaufnahme ausgelöst worden sind (juris Rn. 13 f.).
Das dieser Entscheidung zugrunde liegende Kriterium kommt auch hier zum Tragen; denn es waren erst die – zeitlich etwa 27 Jahre nach der Tat liegende – Festnahme des Beklagten und das anschließende Strafverfahren, die zur pathologisch fassbaren Beeinträchtigung des Klägers geführt haben.
c) Der Senat verkennt nicht, dass der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ein fahrlässig herbeigeführter Verkehrsunfall zugrunde lag, während der Ausgangspunkt im vorliegenden Fall ein (gegen die Schwester des Klägers und beider Eltern gerichteter) erpresserischer Menschenraub mit Todesfolge und damit eine denkbar schwere Straftat war. Vor dem Hintergrund dieses Unterschieds hat der Kläger in der Berufungsverhandlung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17.04.2018 (VI ZR 237/17 – juris) hingewiesen, welche die psychische Gesundheitsverletzung eines Polizeibeamten betraf, der unmittelbar in das Geschehen eines Amoklaufs involviert war. Der Bundesgerichtshof hat einen gegen den Amokläufer gerichteten Schadensersatzanspruch bejaht und insoweit (juris Rn. 20) ausgeführt:
„Jedenfalls bei vorsätzlichen schweren Gewaltverbrechen wie dem streitgegenständlichen Amoklauf, mit denen typischerweise Angst und Schrecken verbreitet werden sollen und verbreitet werden, besteht im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtung kein Grund, die psychischen Auswirkungen des Geschehens auf einen daran unmittelbar beteiligten Polizeibeamten von der Zurechnung an den Schädiger auszunehmen. Zwar gehört es zur Ausbildung und zum Beruf eines Polizeibeamten, sich auf derartige Belastungssituationen vorzubereiten, mit ihnen umzugehen, sie zu bewältigen und zu verarbeiten. Das Risiko, dass er aus einer solchen Belastungssituation eine psychische Gesundheitsverletzung davonträgt, ist aber jedenfalls bei Straftaten der vorliegenden Art nicht allein seiner Sphäre zuzurechnen. Das Verhalten eines Amokläufers wie hier des Beklagten zeichnet sich durch ein hohes Maß an Aggressivität gegenüber nicht nur der körperlichen, sondern auch der seelischen Unversehrtheit der Betroffenen aus. Ihm das Haftungsrisiko für die psychischen Auswirkungen seines Tuns insoweit abzuneh24 U 3186/18 – Seite 11 men, als davon Polizeibeamte betroffen sind, lässt sich bei wertender Betrachtung nicht rechtfertigen.“
Diese Passage der Entscheidung steht der Auffassung des Senats, dass im vorliegenden Fall eine Haftung zu verneinen ist, jedoch nicht entgegen, da sich die Fälle in einem auch vom Bundesgerichtshof als wesentlich erachteten Gesichtspunkt unterscheiden. So führte der Bundesgerichtshof in derselben Entscheidung (juris Rn. 10) aus:
„Erhöhte Anforderungen an das Vorliegen einer Gesundheitsverletzung, wie sie in Fällen sogenannter Schockschäden infolge des Todes oder der schweren Verletzung Dritter, namentlich naher Angehöriger, gestellt werden […] sind vorliegend nicht zu erfüllen. Der Polizeibeamte K. führt seine psychischen Beeinträchtigungen nicht mittelbar auf die Verletzung oder den Tod eines Dritten zurück, sondern darauf, dass er selbst unmittelbar dem Geschehen eines Amoklaufs ausgesetzt wurde und dieses psychisch nicht verkraften konnte.“
Diese Ausführungen implizieren, dass der Bundesgerichtshof an den dargelegten besonderen Anforderungen bei der haftungsrechtlichen Zurechnung von Schockschäden festhält; denn der Bundesgerichtshof verwirft diese besonderen Anforderungen nicht etwa, sondern erklärt, sie seien „vorliegend nicht zu erfüllen“, weil der Polizeibeamte seine psychischen Beeinträchtigungen nicht mittelbar auf die Verletzung oder den Tod eines Dritten zurückführt, sondern auf sein eigenes unmittelbares Erleben des ihm aufgezwungenen Amoklaufs.
Darin liegt aber ein entscheidender Unterschied zum hiesigen Fall, da der Kläger seine Beeinträchtigungen nicht auf ein eigenes Erleben einer schrecklichen Tat stützt. Schon zuvor hatte der Bundesgerichtshof betont, es komme dem Umstand maßgebliche Bedeutung zu, ob die Beeinträchtigungen des „Schockgeschädigten“ auf ein unmittelbares Erleben (dort: eines Unfalls) oder auf den Erhalt einer Nachricht zurückzuführen sind (BGH vom 27.01.2015 ‒ VI ZR 548/12 ‒ juris Rn. 10).
III.
Spiegelbildlich ergibt sich, dass die (zulässige) Anschlussberufung des Klägers unbegründet ist.
IV.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
2. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10 ZPO.
3. Ein Grund für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) war nicht gegeben.


Ähnliche Artikel

Unerwünschte Werbung: Rechte und Schutz

Ganz gleich, ob ein Telefonanbieter Ihnen ein Produkt am Telefon aufschwatzen möchte oder eine Krankenkasse Sie abwerben möchte – nervig können unerwünschte Werbeanrufe, -emails oder -schreiben schnell werden. Was erlaubt ist und wie Sie dagegen vorgehen können, erfahren Sie hier.
Mehr lesen

Was tun bei einer negativen Bewertung im Internet?

Kundenbewertungen bei Google sind wichtig für Unternehmen, da sich potenzielle Neukunden oft daran orientieren. Doch was, wenn man negative Bewertungen bekommt oder im schlimmsten Fall sogar falsche? Das kann schädlich für das Geschäft sein. Wir erklären Ihnen, was Sie zu dem Thema wissen sollten.
Mehr lesen

Der Influencer Vertrag

In den letzten Jahren hat sich Influencer Marketing einen starken Namen in der Werbebranche gemacht. Viele Unternehmen setzen auf platzierte Werbeanzeigen durch Influencer. Was jedoch zwischen Unternehmer und Influencer vertraglich im Vorfeld zu beachten ist, werden wir Ihnen im Folgenden erläutern.
Mehr lesen


Nach oben