IT- und Medienrecht

Heilung eines rechtswidrigen Gebührenbescheides

Aktenzeichen  AN 1 K 19.221, (AN 1 K 13.730)

Datum:
14.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 32079
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayKAG Art. 8, Art. 13 Abs. 1 Nr. 5b dd
AO § 37 Abs. 2, § 218 Abs. 2 S. 2, § 236 Abs. 1
BV Art. 3 Abs. 1 S. 1
BayGO Art. 24 Abs. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Die Heilung eines ohne gültige Gebührensatzung erlassenen Gebührenbescheids setzt den rückwirkenden Erlass einer Gebührensatzung für den Abrechnungszeitraum voraus. (Rn. 127) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) ist verletzt, wenn eine gemeindliche Satzung gemäß Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 GO zur Beseitigung des Niederschlagswassers den Anschluss an eine gemeindliche Entwässerungseinrichtung und deren Benutzung anordnet, ohne dass hierfür hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls ersichtlich sind. (Rn. 134) (redaktioneller Leitsatz)
3. Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge nach § 236 Abs. 1 AO (i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) BayKAG) entstehen erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung bzw. des Widerspruchsbescheides, die den zu verzinsenden Erstattungsanspruch begründen. (Rn. 157) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Abschlagsbescheid des Beklagten vom 27. Juni 2012 (PK-Nr. …*) über die Erhebung von Abwassergebühren, der Bescheid des Beklagten vom 10. Januar 2013 über die Erhebung von Wasser- und Kanalgebühren für den Abrechnungszeitraum vom 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2012 sowie der Widerspruchsbescheid des Landratsamts … vom 14. März 2013 (Az. …*) werden aufhoben.
2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 82.185,85 EUR nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB jährlich
aus 10.350,00 EUR seit 1. September 2012,
aus 27.100,00 EUR seit 1. Oktober 2012,
aus 37.500,00 EUR seit 1. Dezember 2012,
aus 6.850,00 EUR seit 1. Mai 2013 und aus 250,00 EUR seit 1. Mai 2013 zu zahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
5. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 6.000.- EUR vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist zulässig, auch soweit sie die Aufhebung des Abschlagsbescheides über Abwassergebühren vom 27. Juni 2012 betrifft.
Zwar ist am 10. Januar 2013 der endgültige Bescheid über die Abrechnung der Abwassergebühren für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2012 erlassen worden, der ebenfalls Gegenstand der vorliegend erhobenen Anfechtungsklage ist.
Der Erlass des endgültigen Abrechnungsbescheides führt jedoch nicht zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für die Anfechtung des Bescheides vom 27. Juni 2012.
Denn im Falle einer Aufhebung des Bescheides vom 27. Juni 2012 hat die Klägerin jedenfalls bis zum Erlass des endgültigen Gebührenbescheides einen Verzinsungsanspruch nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) KAG in Verbindung mit § 236 AO. Von der Festsetzung der Vorauszahlungen geht somit bis zum Erlass des endgültigen Gebührenbescheides noch eine Steuerungswirkung aus. Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 27. Juni 2012 nach wie vor beschwert, weil der von ihr geltend gemachte Verzinsungsanspruch nach § 236 AO die Kassation des genannten Bescheides voraussetzt (vgl. BayVGH, U.v. 1.3.2012 – 20 B 11.1723 – juris Rn. 15; anders wohl BayVGH, U.v. 3.7.2006 – 6 B 03.2544 – juris, mit dem Hinweis darauf, dass Nebenfolgen keine Beschwer begründeten).
Keine rechtlichen Bedenken bestehen auch hinsichtlich der Zulässigkeit der erstmals mit Schriftsatz vom 28. Mai 2019 erfolgten Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 b) KAG i.V.m. § 37 Abs. 2 AO.
Zwar setzt die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs im Sinne des § 37 Abs. 2 AO grundsätzlich voraus, dass darüber durch einen vorherigen Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 Satz 2 AO entschieden worden ist. Allerdings ist die Abgabenordnung vorliegend nur über Art. 13 Abs. 1 KAG als Landesrecht anwendbar. Demgegenüber hat die bundesrechtliche Vorschrift des § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO Vorrang. Danach ist es zulässig, einen Folgenbeseitigungsanspruch zusammen mit der Anfechtungsklage zu kombinieren, ohne dass insoweit ein Verwaltungsverfahren stattgefunden haben muss. Es handelt sich um einen bundesrechtlich geregelten Fall der Stufenklage, die leerlaufen würde, wenn die Rückerstattung von zu Unrecht gezahlten Benutzungsgebühren von einem vorherigen Verwaltungsverfahren abhängig gemacht würde (vgl. OVG für das Land Mecklenburg-Vorpommern, U.v. 15.12.2009 – 1 L 167/08 – juris Rn. 30). Hierfür sprechen auch Gründe der Prozessökonomie (BVerwG, U.v. 17.2.2000 – 3 C 11/99 – juris Rn. 11).
Aus dem gleichen Grund kann die Klägerin auch Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) KAG i.V.m. § 236 AO unmittelbar gerichtlich geltend machen, ohne dass es der vorherigen Festsetzung durch einen Abgabenbescheid nach § 239 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 155 und 157 AO bedürfte (BVerwG, U.v. 17.2.2000, a.a.O., juris Rn. 10).
Die Klage ist überwiegend begründet.
Die Gebührenbescheide des Beklagten vom 27. Juni 2012 und vom 10. Januar 2013 sowie der Widerspruchsbescheid des Landratsamtes … vom 14. März 2013 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO; hierzu nachfolgend unter 1.).
Der Klägerin steht deshalb auch der geltend gemachte Rückzahlungsanspruch als Folgenbeseitigungsanspruch nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu (hierzu nachfolgend unter 2.).
Allerdings besteht der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) KAG i.V.m. § 236 AO) nicht im vollen Umfang (hierzu nachfolgend unter 3.).
1. Soweit es die Festsetzung von Entwässerungsgebühren betrifft, finden die streitgegenständlichen Gebührenbescheide des Beklagten in Art. 8 Abs. 1 KAG in Verbindung mit den Bestimmungen der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung (BGS-EWS) des Beklagten vom 13. Dezember 2018 keine Rechtsgrundlage.
Nach Art. 8 Abs. 1 KAG können Gemeinden, Landkreise und Bezirke für die Benutzung ihrer öffentlichen Einrichtungen und ihres Eigentums Benutzungsgebühren erheben. Benutzungsgebühren sollen erhoben werden, wenn und soweit eine Einrichtung überwiegend dem Vorteil einzelner Personen oder Personengruppen dient, sofern nicht ein privatrechtliches Entgelt gefordert wird.
Der Beklagte, der eine öffentliche Einrichtung zur Abwasserbeseitigung betreibt (§ 1 der Satzung für die öffentliche Entwässerungseinrichtung des Beklagten vom 18.9.2012), hat von dieser Ermächtigungsgrundlage Gebrauch gemacht und die Beitrags- und Gebührensatzung zu Entwässerungssatzung vom 13. Oktober 2018 erlassen.
Die streitgegenständlichen Gebührenbescheide können jedoch nicht auf die gebührenrechtlichen Bestimmungen dieser Satzung gestützt werden, da diese gemäß § 17 BGS-EWS rückwirkend erst am 24. März 2015, also nach dem hier streitgegenständlichen Abrechnungszeitraum (vom 1.1.2012 bis 31.12.2012), in Kraft getreten ist.
Anders als bei Beiträgen (vgl. BayVGH, U.v. 29.4.2010 – 20 BV 09.2108 – juris) setzt die Heilung eines ohne gültige Gebührensatzung erlassenen Gebührenbescheids den rückwirkenden Erlass einer Gebührensatzung für den Abrechnungszeitraum voraus (BVerwG, B.v. 26.1.1995 – 8 B 193/94 – Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 273; BayVGH, U.v. 6.7.2010 – 20 B 10.124 – juris; OVG Münster, B.v. 3.6.2008 – 9 A 2762/03 – BeckRS 2008, 35697). Der rückwirkende Erlass ist erforderlich, um den durch eine nichtige Satzung entstandenen, rechtsleeren Raum zu überbrücken (BayVGH, B.v. 4.11.2011 – 20 ZB 11.716 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Entgegen der Auffassung des Beklagten können die streitgegenständlichen Gebührenbescheide auch nicht auf frühere Beitrags- und Gebührensatzungen zu Entwässerungssatzung des Beklagten gestützt werden.
Die BGS-EWS vom 23. März 2015 ist im Gebührenteil nichtig, da infolge eines Kostenanteils für die Oberflächenentwässerung von ca. 29% zwingend eine gesonderte Niederschlagswassergebühr hätte eingeführt werden müssen (BayVGH, U.v. 27.9.2018 – 20 N 16.1422 – juris).
Dies betrifft ebenso die Beitrags- und Gebührensatzungen zur Entwässerungssatzung vom 27. März 2012 und vom 12. September 2008, da hier der Anteil der Kosten für die Oberflächenentwässerung ebenfalls über 12% lag (zu dieser Obergrenze vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2013 – 20 CS 13.766 – juris).
Die beiden Satzungen vom 27. März 2012 und 12. September 2008 sind zudem auch aus einem weiteren Grund sowohl im Beitrags- als auch im Gebührenteil nichtig.
Die Entwässerungssatzung des Beklagten vom 12. September 2008 beinhaltete einen Anschluss- und Benutzungszwang auch für Niederschlagswasser (§ 5 EWS i.V.m. § 3 EWS).
Erst in der Entwässerungssatzung vom 18. September 2012 wurde eine Bestimmung getroffen, wonach im Falle einer ordnungsgemäßen Versickerung oder anderweitigen Beseitigung kein Anschluss- und Benutzungszwang für Niederschlagswasser besteht (§ 4 Abs. 5 und § 5 Abs. 6 EWS 2012). Die Satzung trat gemäß § 23 Abs. 1 eine Woche nach ihrer Bekanntgabe in Kraft.
Die Pflicht zur Einleitung von Niederschlagswasser in eine öffentliche Entwässerungsanlage bedarf – namentlich auch wegen der Möglichkeit der Durchsetzung des Anschluss- und Benutzungszwangs gegen den Willen betroffener Grundstückseigentümer – einer besonderen Rechtfertigung (BayVerfGH v. 10.11.2008 – Vf. 4-VII-06 – juris Rn. 43). Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) ist verletzt, wenn eine gemeindliche Satzung gemäß Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 GO zur Beseitigung des Niederschlagswassers den Anschluss an eine gemeindliche Entwässerungseinrichtung und deren Benutzung anordnet, ohne dass hierfür hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls ersichtlich sind (BayVerfGH v. 10.11.2008, a.a.O.; BayVGH, U.v. 24.11.2011 – 20 B 11.515 – juris Rn. 17).
Bei dem Beklagten handelt es sich um eine 23,16 km² große Flächengemeinde, bestehend aus 10 Ortsteilen.
Dass bei Erlass der Entwässerungssatzung vom 12. September 2008 gleichwohl hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls für die Anordnung eines Anschluss- und Benutzungszwangs für Niederschlagswasser auch in Bezug auf diejenigen Grundstücke vorlagen, bei denen eine ordnungsgemäße Versickerung oder anderweitige Beseitigung des Niederschlagswassers möglich war, wurde seitens des Beklagten nicht belegt.
Dies hat zur Folge, dass die während der Geltung der Entwässerungssatzung vom 12. September 2008 erlassenen Beitrags- und Gebührensatzungen zu Entwässerungssatzung vom 12. September 2008 und vom 27. März 2012 im Beitrags- und Gebührenteil nichtig sind (BayVGH, B.v. 4.10.2011 – 20 ZB 11.716 – und v. 24.11.2011 – 20 B 11.518 -, jeweils in juris).
Soweit es die Festsetzung einer Gebühr für den Bezug von Wasser in dem Bescheid vom 10. Januar 2013 betrifft, wurden Bedenken hinsichtlich der formellen und materiellen Wirksamkeit der dem Bescheid zu Grunde liegenden Beitrags- und Gebührensatzung zur Wasserabgabesatzung des Beklagten vom 1. Februar 2010 seitens der Klägerin nicht geltend gemacht. Solche sind auch nicht ersichtlich.
Der Beklagte war jedoch nicht befugt, die Klägerin für die im Jahr 2012 auf Veranlassung der Firma … – wohl anlässlich eines Wasserrohrbruchs auf einem der im Tatbestand bezeichneten Grundstücke der Klägerin – erfolgte Lieferung von 190 m³ Wasser als Gebührenschuldner zu veranlagen.
Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass das für die Autobahn-Raststätte … … und … benötigte Frischwasser nicht von dem Beklagten, sondern von der Stadt … … … … bezogen wird. Zwischen der Klägerin und dem Beklagten besteht insoweit kein öffentlich-rechtliches Benutzungsverhältnis in Form eines Anschluss- und Benutzungszwangs für die Klägerin gemäß § 5 ihrer Satzung für die öffentliche Wasserversorgungseinrichtung (WAS) vom 1. Februar 1991, das Grundlage für die Heranziehung der Klägerin als Grundstückseigentümerin durch einen Gebührenbescheid nach § 12 Abs. 1 der Beitrags- und Gebührensatzung zur Wasserabgabesatzung (BGS/WAS) vom 1. Februar 2012 sein könnte.
Die auf Veranlassung der Firma …, einem Installationsbetrieb, durch den Beklagten erfolgte vorübergehende Lieferung von Trinkwasser im Umfang von insgesamt 190 m³ fand nicht im Vollzug eines für die Klägerin bestehenden Benutzungszwangs der öffentlichen Wasserversorgungseinrichtung des Beklagten statt. Es handelte sich vielmehr um einen – von der Klägerin selbst nicht in Auftrag gegebenen – vorübergehenden Wasserbezug auf Grundlage des § 17 WAS.
Im Vollzug des § 17 WAS kann der Beklagte eine Wasserabnahme weder erzwingen noch hat der jeweilige Antragsteller einen satzungsrechtlichen Anspruch auf eine Wasserlieferung. Der Beklagte hat folglich auch nicht die Befugnis, auf der Grundlage des § 12 Abs. 1 BGS/WAS den Grundstückseigentümer als Gebührenschuldner in Anspruch zu nehmen, sofern dieser nicht selbst den Antrag auf vorübergehenden Wasserbezug nach § 17 WAS gestellt hat. Der Beklagten obliegt insoweit die Nachweispflicht (vgl. VGH Mannheim, U.v. 24.11.1994 – 2 S 2210/93 – juris Rn. 20; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 4 Rn. 22). Dieser Nachweis wurde vorliegend nicht erbracht.
2. Erweisen sich somit die angefochtenen Gebührenbescheide vom 27. Juni 2012 und vom 10. Januar 2013 als rechtswidrig, sind diese nach § 113 Abs. 1 Satz 1 aufzuheben, womit der Klägerin ein Erstattungsanspruch nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO, Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 b) KAG i.V.m. § 37 Abs. 2 AO zusteht, der – wie bereits ausgeführt – im Rahmen der Anfechtungsklage geltend gemacht werden kann. Die Klägerin hat diesen Anspruch betragsmäßig beschränkt, da sie die öffentliche Entwässerungseinrichtung des Beklagten im Abrechnungszeitraum tatsächlich in Anspruch genommen hat.
3. Der von der Klägerin geltend gemachte und auf Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) KAG i.V.m. § 236 Abs. 1 AO gestützte Anspruch auf Erstattungszinsen besteht jedoch nicht in voller Höhe.
Nach § 236 Abs. 1 AO ist der zu erstattende oder zu vergütende Betrag vorbehaltlich des Absatzes 3 vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt wird. Ist der zu erstattende Betrag erst nach Eintritt der Rechtshängigkeit entrichtet worden, so beginnt die Verzinsung mit dem Tag der Zahlung.
Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) KAG modifiziert § 236 Abs. 1 AO dahingehend, dass in Absatz 1 nach den Worten ‘durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung’ die Worte ‘oder eine bestandskräftige Widerspruchsentscheidung’, nach den Worten ‘vorbehaltlich des Absatzes 3 vom’ die Worte ‘Tag der Einlegung des Widerspruchs, oder wenn ein Widerspruchsverfahren nicht vorausgegangen ist, vom’ und nach den Worten ‘der zu erstattende Betrag erst’ die Worte ‘nach Einlegung des Widerspruchs, wenn ein Widerspruchsverfahren nicht vorausgegangen ist’ einzufügen sind.
Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG i.V.m. § 238 Abs. 2 AO bestimmt für die Berechnung der Zinsen, dass der zu verzinsende Betrag jeder Steuerart auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag abgerundet wird.
Die Klägerin hat in Umsetzung der genannten Bestimmungen die geltend gemachten (reduzierten) Erstattungsbeträge im Einzelnen bezeichnet und den Beginn der Verzinsung korrekt wie folgt ermittelt:
Zinsen auf Kanalgebühren:
Zeitraum
gezahlter Gebührenbetrag in EUR
Zahlungszeitpunkt
in EUR
abzüglich in EUR
verbleiben als Rückzahlungsanspruch
Zu verzinsender Betrag und Zinsbeginn
01.01.-31.12.2012
115.397,96
15.05.2012
10.373,00
10.373,00
15.08.2012
10.373,00
10.373,00
10.350,00 EUR seit 01.09.2012
20.09.2012
27.141,00
27.141,00
27.100,00 seit 01.10.2012
05.11.2012
37.514,00
37.514,00
37.500.00 EUR seit 01.12.2012
09.04.2013
29.996,95
23.103,40
6.893,56
6.850,00 seit 01.05.2013
115.397,96
33.476,40
81.921,56
Zinsen auf Wassergebühren:
Die Zahlung in Höhe von 264,29 EUR erfolgte am 9. April 2013. Hieraus ergibt sich ein zu verzinsender Betrag in Höhe von 250,00 EUR ab dem 1. Mai 2013.
Der Klägerin stehen demnach Erstattungszinsen aus 10.350,00 EUR seit 1. September 2012, aus 27.100,00 EUR seit 1. Oktober 2012, aus 37.500,00 EUR seit 1. Dezember 2012, aus 6.850,00 EUR seit 1. Mai 2013 und aus 250,00 EUR seit 1. Mai 2013 zu.
Allerdings ergibt sich die Zinshöhe der geltend gemachten Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge nicht aus Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG in der bis zum 31. März 2014 gültigen Fassung, wonach § 238 Abs. 1 AO Anwendung fand. Danach betrugen die Zinsen für jeden Monat einhalb Prozent.
Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG wurde jedoch durch § 1 Nr. 9 b) bb) bbb) des Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom 11. März 2014, GVBl. S. 69, dahingehend geändert, dass die Höhe der Zinsen abweichend von § 238 Abs. 1 Satz 1 AO zwei Prozentpunkte über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB jährlich beträgt.
In der Gesetzesbegründung (LTDrs. 17/370 vom 13.01.2014, S. 10) wird hierzu u.a. ausgeführt, der bisherige Zinssatz von sechs Prozent, der – je nach Fallkonstellation – vom Bürger oder der Kommune zu leisten sei, erscheine angesichts einer seit Jahren andauernden Niedrigzinsphase nicht gerechtfertigt. Es biete sich an, den statischen Zinssatz durch eine gängige dynamische Größe zu ersetzen, die eine stets sachgerechte dynamische Abbildung des jeweils abschöpfungsfähigen Liquiditätsvorteils ermögliche. Als Bezugsgröße werde der Basiszinssatz nach § 247 BGB gewählt, der halbjährlich jeweils zum 1.1. und 1.7. eines Jahres von der Deutschen Bundesbank im Bundesanzeiger veröffentlicht werde.
Obwohl die geänderte Fassung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG erst zum 1. April 2014 in Kraft getreten ist, richtet sich die Höhe der von dem Beklagten an die Klägerin zu zahlenden Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge für die bereits ab dem 1. September 2012 geltend gemachten Erstattungsansprüche von Beginn an nach dem neuen Recht.
Während bei Prozesszinsen nach § 291 Satz 1 BGB der Anspruch im Regelfall bereits mit der Rechtshängigkeit des zu verzinsenden Anspruchs entsteht (vgl. BGH, U.v. 25.01.2013 – V ZR 118/11 – NJW-RR 2013, 825 Rn. 23; BVerwG, U.v. 18.5.1973 – 7 C 21.72 – Buchholz 451.80 Nr. 19 S. 55), entstehen Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge nach § 236 Abs. 1 AO (i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) KAG) erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung bzw. des Widerspruchsbescheides, die den zu verzinsenden Erstattungsanspruch begründen (BVerwG, U.v. 23.03.2017 – 9 C 1/16 – juris Rn. 15; Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanz-gerichtsordnung, 156. Lieferung 04.2019, Rn. 27 zu § 236 AO; Gosch, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, Stand: 01.05.2003, Rn. 36 zu § 236 AO).
Die Regelung des § 236 AO ist auf die Situation der Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage zugeschnitten und findet ihre sachliche Rechtfertigung in dem Umstand, dass in diesen Fällen die rechtskräftige Aufhebung des Verwaltungsakts bzw. die rechtskräftige Verpflichtung zu dessen Erlass für das Entstehen des (Rück-)Zahlungsanspruchs konstitutiv ist. Insofern ist es folgerichtig, auch die Entstehung des Nebenanspruchs an die Rechtskraft zu knüpfen und lediglich den Beginn des zu verzinsenden Zeitraums aus Billigkeitsgründen auf den Tag der Rechtshängigkeit vorzuverlegen (vgl. BFH, U.v. 29.06.1971 – VII K 31/67 – BFHE 103, 28 ; BVerwG, U.v. 17.02.2000, a.a.O., Rn. 19; U.v. 23.3.2017, a.a.O., Rn. 16).
Zwar beginnt vorliegend der Verzinsungszeitraum am 1. September 2012, also vor Inkrafttreten der Änderung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG am 1. April 2014.
Darauf kommt es aber nicht an, da – wie bereits ausgeführt – der Verzinsungsanspruch nicht mit Rechtshängigkeit, sondern mit der rechtskräftigen Entscheidung entsteht. Da zu dem hiernach maßgeblichen Zeitpunkt die neugefasste Verzinsungsregelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG anwendbar war, umfasst sie den gesamten Rechtshängigkeitszeitraum (vgl. Wuttig/Thi-met, Gemeindliches Satzungs- und Unternehmensrecht, Teil III, Frage 16, Erl. 4.5; BFH, U.v. 26.04.1985 – III R 24/82 – BStBl II 1985 S. 546; BVerwG, U.v. 17.02.2000 – 3 C 11/99 -, a.a.O., juris Rn. 19).
Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten der Klägerin ergibt sich aus den Grundsätzen des intertemporalen Rechts keine andere rechtliche Bewertung. Art. 170 und Art. 232 § 1 EGBGB lässt sich die allgemeine intertemporale Grundregel entnehmen, dass ein Rechtsverhältnis dem im Zeitpunkt seiner Entstehung gültigem Recht unterfällt („tempus regit actum“, vgl. BAG U.v. 14.12.1995 – 8 AZR 878/94 – AP AGB-DDR § 267 Nr. 1; U.v. 27.11.2003 – 2 AZR 177/03 – juris Rn. 16; BFH, U.v. 08.11.2006 – X R 45/02 – juris Rn. 22; BGH U.v. 27.05.1999 – VII ZR 245/97 – NZG 1999, 1179, 1181; U.v. 18.10.1965 – II ZR 36/64 – BGHZ 44, 192, 194; v. 11.11.1953 – II ZR 181/52 – BGHZ 10, 391, 394; BVerwG, U.v. 25.10.2017 – 1 C 21/16 – juris Rn. 18).
Auch der Bayerische Landesgesetzgeber geht davon aus, dass die Neuregelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG lediglich auf bereits bestandskräftig abgeschlossene Verfahren keine Anwendung findet (LTDrs. 17/370 vom 13.01.2014, S. 10).
Wie bereits ausgeführt, entsteht der Anspruch der Klägerin auf Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge erst mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils der Kammer vom 14. November 2019. Es handelt sich deshalb auch um keine Fallgestaltung vergleichbar einem bedingten oder betagten Rechtsgeschäft, das nach früherem Recht vorgenommen worden ist, und bei welchem das frühere Recht auch dann maßgeblich bleibt, wenn die Bedingung oder Befristung erst nach Inkrafttreten des neuen Rechts eintritt (vgl. hierzu die von den Bevollmächtigten der Klägerin zitierten Kommentierungen im Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2010, Rn. 4 zu Art. 170 EGBGB und in Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Rn. 8 zu Art. 170 EGBGB).
Die Kammer teilt auch nicht die Auffassung der Bevollmächtigten der Klägerin, bei der Anknüpfung an die Rechtslage zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft des Urteils werde von den Gerichten etwas rechtlich Unmögliches verlangt, da diese die in dem genannten Zeitpunkt bestehende Rechtslage nicht vorhersehen könnten.
Die Zinshöhe nach § 247 BGB ist eine dynamische Größe und ergibt sich bei der erst nach Eintritt der Rechtskraft vorzunehmenden Berechnung der Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge aus der von der Deutschen Bundesbank veröffentlichten jeweiligen Höhe des Basiszinssatzes.
Die der Klägerin zustehenden Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge können somit problemlos berechnet werden.
Sollte es im Zeitraum nach der Entscheidung der Kammer vom 14. November 2019 bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils zu einer erneuten Änderung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG kommen, wofür keinerlei Anhaltspunkte bestehen, kann dies im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Berufung bzw. in einem bereits anhängigen Berufungsverfahren geltend gemacht und dort berücksichtigt werden.
Die Klage war deshalb abzuweisen, soweit Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge in einer Höhe geltend gemacht wurden, die die durch § 247 BGB bestimmte, jeweils maßgebliche Zinshöhe übersteigen. Die von der Kammer im Urteil vom 25. Juli 2017 – AN 1 K 15.01781 – (ohne nähere Begründung) vertretene abweichende Auffassung wird nicht mehr aufrechterhalten.
Da die von der Klägerin geltend gemachten Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge als Nebenforderung gemäß § 43 Abs. 1 GKG nicht streitwerterhöhend berücksichtigt wurden (vgl. Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Auflage 2017, Rn. 12 zu § 43 GKG) und die Klägerin in der Hauptsache voll obsiegt hat, werden dem Beklagten gemäß §§ 161 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO die Kosten des Verfahrens in vollem Umfang auferlegt.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
Gründe, die Berufung nach § 124a Abs. 1 VwGO zuzulassen, liegen nicht vor.


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In den letzten Jahren hat sich Influencer Marketing einen starken Namen in der Werbebranche gemacht. Viele Unternehmen setzen auf platzierte Werbeanzeigen durch Influencer. Was jedoch zwischen Unternehmer und Influencer vertraglich im Vorfeld zu beachten ist, werden wir Ihnen im Folgenden erläutern.
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