IT- und Medienrecht

Nachforderung von Krankenhausvergütung

Aktenzeichen  L 4 KR 226/18

Datum:
27.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41286
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 109
OPS 8-98f
BGB § 242
GG Art. 3 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Zur Verwirkung von Nachforderungen eines Krankenhauses. (Rn. 41 – 44)
2. Hier: Kein ins Auge springender Korrekturbedarf von Krankenhausabrechnungen. (Rn. 45 – 50)
3. Krankenhäuser können sich nicht auf Grundrechte (einschl. Art. 3 Abs. 1 GG) berufen, wenn sie sich mehrheitlich oder vollständig in öffentlicher Trägerschaft befinden. (Rn. 51)
4. Hier: Kein Verstoß der Krankenkasse gegen das Willkürverbot oder den Grundsatz von Treu und Glauben. (Rn. 52 – 53)

Verfahrensgang

S 39 KR 848/17 2018-04-11 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 11. April 2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 59.670,20 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich mit Schreiben vom 30.04.2020 und vom 03.05.2020 hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen; sie ist als Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) zulässig, aber nicht begründet.
Der Senat weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurück und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG). Zusätzlich ist – unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten im Berufungsverfahren und aktueller Rechtsprechung – Folgendes auszuführen:
1. Aus der von der Klägerin angeführten Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 23.05.2017, B 1 KR 27/16 R, Rn. 15; bestätigend Urteil vom 19.11.2019, B 1 KR 10/19 R, Rn. 22) kann nicht abgeleitet werden, dass die vom BSG angenommene Verwirkung nach dem auf die Rechnungstellung folgenden Kalenderjahr auf Kodierfragen nicht anzuwenden sei und dass hier eine solche Kodierfrage vorliege.
Der vom BSG beschriebene hypothetische Fall („Anders läge es, …“) ist dadurch gekennzeichnet, dass zunächst ein Rechtsstreit über die sachlich-rechnerische Richtigkeit einer Vergütung besteht. Ein solcher hat seinen Ausgangspunkt regelmäßig darin, dass die Krankenkasse den MDK mit einer Prüfung beauftragt und auf der Basis des Prüfungsergebnisses eine Kodierung geltend macht, die zu einer geringeren als der zunächst in Rechnung gestellten Vergütung führt. So lag es auch in dem Fall, der dem vom BSG (a.a.O.) in Bezug genommenen Urteil vom 23.06.2015 (B 1 KR 13/14 R = SozR 4-5560 § 17b Nr. 6) zu Grunde lag. Wenn das Krankenhaus im Verlauf eines solchen Rechtsstreits seinerseits eine andere als die ursprüngliche Kodierung geltend macht, kann sich die Krankenkasse nicht auf Vertrauensschutz berufen (BSG, Urteil vom 23.05.2017, B 1 KR 27/16 R, Rn. 15; bestätigend Urteil vom 19.11.2019, B 1 KR 10/19 R, Rn. 22).
Der vorliegende Fall ist wesentlich anders gelagert. Die Klägerin macht nicht im Verlauf eines Rechtsstreits, der seinen Ausgangspunkt in einer von der Beklagten veranlassten Prüfung hat, eine abweichende Kodierung geltend, sondern sie beginnt von sich aus einen Rechtsstreit, indem sie eine abweichende Kodierung geltend macht, deren Berücksichtigung zu einer höheren Vergütung führen würde.
Daher ist in der vorliegenden Konstellation das Vertrauen der Beklagten in die sachlich-rechnerische Richtigkeit und Vollständigkeit der Schlussrechnung nicht erschüttert. Dies gilt nämlich selbst dann, wenn auf Grund einer von der Krankenkasse veranlassten Prüfung ein Rechtsstreit über die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsdauer geführt wird (BSG, a.a.O.). Es muss erst recht gelten, wenn – wie vorliegend – ein Rechtsstreit vollständig ohne Veranlassung durch die Krankenkasse geführt wird.
2. Ein ins Auge springender Korrekturbedarf lag nicht vor. Das BSG hat in seinem Urteil vom 19.11.2019 (B 1 KR 10/19 R) hierzu Maßstäbe formuliert, die auch der Senat seiner Entscheidung zu Grunde legt.
In Rn. 18 hat das BSG ausgeführt:
„Die Rspr des erkennenden 1. Senats darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass es Aufgabe der die Krankenhausrechnung prüfenden KK ist, systematisch zugunsten des Krankenhauses ein Medizincontrolling vorzunehmen. Es bleibt der KK im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben überlassen, welche Abrechnung sie in welcher Prüftiefe kontrolliert. Die Abrechnungsprüfung der KK dient dem sparsamen Umgang mit den Mitteln der Beitragszahler: Die KK darf nur berechtigte Forderungen begleichen. Weder das Recht des Krankenhauses, eine Schlussrechnung zu erstellen noch seine Pflicht, der KK die Abrechnungsdaten zu übermitteln (vgl § 301 SGB V), begründen eine Pflicht der KK zu einer Abrechnungsprüfung im Interesse des Krankenhauses. Die von der KK gewählte Prüftiefe der Krankenhausabrechnung bestimmt, welche Erkenntnisquellen für die Beantwortung der Frage heranzuziehen sind, ob für die KK ein offensichtlicher, ins Auge springender Korrekturbedarf der Abrechnung besteht. Prüft die KK lediglich die Schlussrechnung, ohne sie mit den übermittelten Abrechnungsdaten (vgl § 301 SGB V) näher abzugleichen, kann sich ein ins Auge springender Korrekturbedarf nur allein aus der Schlussrechnung ergeben. Bezieht die KK in die Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit die übermittelten Abrechnungsdaten (vgl § 301 SGB V) ein, kann sich der Korrekturbedarf aus der Gesamtschau der Rechnung und der Abrechnungsdaten ergeben. Beauftragt die KK den MDK mit der Überprüfung einer Auffälligkeit und informiert der MDK die KK über einen ins Auge springenden Korrekturbedarf, muss die KK diese Information einbeziehen. …
In Rn. 20 heißt es:
„… Nicht jede Diskrepanz zwischen Abrechnung und den hierzu übermittelten Daten bewirkt einen Wegfall des Vertrauenstatbestandes. Der Korrekturbedarf muss vielmehr so offensichtlich sein („ins Auge springen“), dass er auch bei flüchtigem Lesen wahrgenommen wird und keine weitergehenden Überlegungen zu dem Abrechnungsvorgang voraussetzt. … Können die KKn einen Korrekturbedarf nur mithilfe weiterer, über die in der Abrechnung und Datenübermittlung enthaltenen Angaben hinausgehender Kenntnisse oder Informationen erkennen, fehlt es regelmäßig an einer offensichtlich unschlüssigen Rechnung.“
Nach diesem Maßstab liegt hier kein ins Auge springender Fehler vor. Ein solcher ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass im Krankenhaus der Klägerin die strukturellen Voraussetzungen für die Abrechnung des OPS 8-98f im Jahr 2015 vorlagen – wobei der Senat offen lässt, ob dies ab 01.02.2015, 01.04.2015 oder einem anderen Datum galt – und dass dies der Beklagten als Institution bekannt war.
Zum einen macht das Vorliegen der strukturellen Voraussetzungen für die Abrechnung des OPS 8-98f die Kodierung des OPS 8-980 im Einzelfall nicht so offensichtlich unzutreffend, dass der Fehler auch bei flüchtigem Lesen wahrgenommen wird. Zum anderen entscheidet die Beklagte darüber, mit welcher Prüftiefe sie eine Abrechnung kontrolliert. Sie ist nicht einmal verpflichtet, die Rechnung eines Krankenhauses mit den übermittelten Abrechnungsdaten (vgl. § 301 SGB V) näher abzugleichen (BSG, a.a.O., Rn. 18). Der von der Klägerin geltend gemachte Korrekturbedarf konnte außerdem nur mithilfe weiterer, über die in der Abrechnung und Datenübermittlung enthaltenen Angaben hinausgehender Kenntnisse oder Informationen – nämlich des Schriftverkehrs hinsichtlich des Vorliegens der strukturellen Voraussetzungen – erkannt werden. Nach der zitierten Rechtsprechung des BSG war jedoch die Beklagte nicht verpflichtet, diesen Schriftverkehr bei der Prüfung der Rechnung heranzuziehen (BSG, a.a.O., Rn. 20). Auf eine institutionelle Kenntnis kommt es nach der zitierten BSG-Rechtsprechung nicht an.
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der Zeitpunkt der Abrechnungsprüfung. Diese wurde jeweils 2015 zeitnah nach Vorlage der Abrechnung des Krankenhauses durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt konnte dem zuständigen Personal der Beklagten nicht geläufig sein, dass die Klägerin von einer größeren Zahl von Fällen ausging, in denen irrtümlich OPS 8-980 statt 8-98f kodiert worden sei. Denn die entsprechenden Rechnungskorrekturen wurden nach Angabe der Klägerin erst 2016 vorgenommen.
3. Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 26.11.2018 (1 BvR 318/17 u.a., Rn. 23-27) ausgeführt, dass sich Krankenhäuser nicht auf Grundrechte (einschl. Art. 3 Abs. 1 GG) berufen können, wenn sie sich mehrheitlich oder vollständig in öffentlicher Trägerschaft befinden. So liegt der Fall hier. Das Klinikum A-Stadt ist Teil des Kommunalunternehmens „Kreisklinik A-Stadt und Seniorenheim J.“. Das Kommunalunternehmen ist ein selbstständiges Unternehmen des Landkreises A-Stadt in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts. Damit befindet sich das Krankenhaus der Klägerin vollständig in öffentlicher Trägerschaft. Es gelten also lediglich das Willkürverbot und die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Diese sind vorliegend nicht verletzt. Auf die Ausführungen des SG in dem angefochtenen Urteil zum Willkürverbot wird verwiesen.
4. Ein Verstoß der Beklagten gegen das Willkürverbot oder gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ergibt sich nicht daraus, dass die Beklagte nach Mitteilung der Klägerin 2016 eine größere Zahl von Nachforderungen in ähnlich gelagerten Fällen akzeptiert hat. Denn zwischen Nachforderungen, die vor Ablauf der vom BSG angenommenen Verwirkungsfrist erhoben werden, und solchen, die erst nach Ablauf dieser Frist erhoben werden, besteht ein wesentlicher Unterschied, der die ungleiche Behandlung rechtfertigt. Auch hat die Beklagte durch ihr Verhalten kein schützenswertes Vertrauen dahingehend begründet, dass sie auch Nachforderungen begleichen werde, die nach Ablauf der Verwirkungsfrist erhoben werden.
5. Ein Verstoß der Beklagten gegen das Willkürverbot oder gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ergibt sich schließlich nicht daraus, dass die Beklagte auch drei erst 2017 gestellte Nachforderungen in ähnlich gelagerten Fällen beglichen hat. Der Senat zweifelt nicht daran, dass es sich dabei – wie von der Beklagten angegeben – um ein Versehen gehandelt hat. Es fehlte bei dem Personal der Beklagten also bereits an dem Bewusstsein, eine nach der Rechtsprechung des BSG schon verwirkte Forderung zu begleichen. Eine willkürliche Ungleichbehandlung liegt damit nicht vor. Und allein aus der äußeren Tatsache, dass Nachforderungen in ähnlich gelagerten Fällen beglichen wurden, lässt sich kein Anspruch auf Begleichung auch der streitgegenständlichen Forderungen ableiten. Dies ergibt sich schon daraus, dass Gleichbehandlung im Unrecht grundsätzlich nicht beansprucht werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.10.2000, 1 BvR 1627/95, Rn. 52 m.w.N.).
6. Die mit Wirkung ab 01.01.2019 neu eingeführte Vorschrift des § 109 Abs. 5 SGB V macht die Rechtsprechung des BSG zur Verwirkung von Nachforderungen nicht obsolet. Das BSG selbst hat mit Urteil vom 19.11.2019 (B 1 KR 10/19 R) in Kenntnis der Neuregelung ausdrücklich an dieser Rechtsprechung festgehalten. Dem schließt sich der Senat an.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG, § 154 Abs. 2 VwGO.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Insbesondere sieht der Senat keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Die wesentlichen Rechtsfragen betreffen nicht mehr geltendes Recht. Seit 01.01.2020 bestimmt § 17c Abs. 2a Satz 1 KHG (in der Fassung durch Art. 3 Nr. 2 Buchstabe c des MDK-Reformgesetzes vom 14.12.2019, BGBl I 2789), dass nach Übermittlung der Abrechnung an die Krankenkasse eine Korrektur dieser Abrechnung durch das Krankenhaus ausgeschlossen ist, es sei denn, dass die Korrektur zur Umsetzung eines Prüfergebnisses des Medizinischen Dienstes oder eines rechtskräftigen Urteils erforderlich ist. Danach wäre die vorliegende Klage von vornherein unbegründet, ohne dass auf die hier noch umstrittene Frage der Verwirkung und ihrer Grenzen einzugehen wäre. Es ist nicht ersichtlich, dass noch eine erhebliche Zahl ähnlich gelagerter Fälle zu entscheiden wäre (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 160a Rn. 14f).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 GKG.


Ähnliche Artikel

Unerwünschte Werbung: Rechte und Schutz

Ganz gleich, ob ein Telefonanbieter Ihnen ein Produkt am Telefon aufschwatzen möchte oder eine Krankenkasse Sie abwerben möchte – nervig können unerwünschte Werbeanrufe, -emails oder -schreiben schnell werden. Was erlaubt ist und wie Sie dagegen vorgehen können, erfahren Sie hier.
Mehr lesen

Was tun bei einer negativen Bewertung im Internet?

Kundenbewertungen bei Google sind wichtig für Unternehmen, da sich potenzielle Neukunden oft daran orientieren. Doch was, wenn man negative Bewertungen bekommt oder im schlimmsten Fall sogar falsche? Das kann schädlich für das Geschäft sein. Wir erklären Ihnen, was Sie zu dem Thema wissen sollten.
Mehr lesen

Der Influencer Vertrag

In den letzten Jahren hat sich Influencer Marketing einen starken Namen in der Werbebranche gemacht. Viele Unternehmen setzen auf platzierte Werbeanzeigen durch Influencer. Was jedoch zwischen Unternehmer und Influencer vertraglich im Vorfeld zu beachten ist, werden wir Ihnen im Folgenden erläutern.
Mehr lesen


Nach oben