IT- und Medienrecht

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Zu den Anforderungen des Art 5 Abs 1 S 1 GG an die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des “Verbreitens” im Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs 2 Nr 1 Buchst a StGB) – hier: Weitergabe einer Schrift iSd § 130 Abs 5, Abs 2 Nr 1 Buchst a StGB an einzelnen bestimmten Dritten ohne Anhaltspunkte für Weiterverbreitung – Gegenstandswertfestsetzung auf 8000 Euro

Aktenzeichen  1 BvR 461/08

Datum:
9.11.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20111109.1bvr046108
Normen:
Art 5 Abs 1 S 1 GG
Art 5 Abs 2 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 14 Abs 1 RVG
§ 37 Abs 2 S 2 RVG
§ 130 Abs 2 Nr 1 Buchst a StGB
§ 130 Abs 3 StGB
§ 130 Abs 5 StGB
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend Thüringer Oberlandesgericht, 11. Februar 2008, Az: 1 Ss 249/07 (243), Beschlussvorgehend Thüringer Oberlandesgericht, 14. Januar 2008, Az: 1 Ss 249/07 (243), Beschlussvorgehend LG Mühlhausen, 10. April 2007, Az: 101 Js 50935/06 – 5 Ns, Urteil

Tenor

Das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 10. April 2007 – 101 Js 50935/06 – 5 Ns – und der Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 14. Januar 2008 – 1 Ss 249/07 (243) – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Mühlhausen zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 11. Februar 2008 – 1 Ss 249/07 (243) – gegenstandslos.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1
Der im Jahre 1924 geborene Beschwerdeführer wendet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung nach
§ 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB durch das Verbreiten von Schriften.

I.
2
1. Am 15. April 2005 besuchte der Beschwerdeführer die Gaststätte “B.” in der Gemeinde O. Während des Besuchs wurde in der
Gaststätte auf dem Nachrichtenkanal ntv eine Dokumentation über den zweiten Weltkrieg gezeigt. Der Beschwerdeführer ereiferte
sich laut über den Krieg, dessen Folgen und die Umstände der Verursachung.

3
Am 17. April 2005 suchte der Beschwerdeführer die Gaststätte erneut auf. Allein der Gastwirt war zu dem Zeitpunkt in der Gaststube
anwesend. Der Beschwerdeführer verwickelte ihn in ein Gespräch über die Geschehnisse in Deutschland während des “Dritten Reichs”.
Dabei übergab der Beschwerdeführer dem Gastwirt in einer Mappe Informationsmaterial in Form von zwei Redemanuskripten (“Trauermarsch
anlässlich des 60. Jahrestages der Bombardierung Magdeburgs” und “Trauermarsch anlässlich des 60. Jahrestages der Zerstörung
Würzburgs”), die der Beschwerdeführer in der Vergangenheit öffentlich gehalten hatte, sowie jeweils eine Kopie mehrerer Aufsätze
des “Kampfbundes gegen Unterdrückung der Wahrheit in Deutschland”, darunter “Die Geschichtslüge des angeblichen Überfalls
auf Polen im Jahre 1939″ und “Über die verantwortlichen Staatsmänner, die den Zweiten Weltkrieg verursachten und die ihn zu
verhindern suchten”. Im erstgenannten Aufsatz wird unter anderem im Zusammenhang mit dem Holocaust behauptet, es sei wissenschaftlich
erwiesen, dass es keine Gaskammern für Menschen gegeben habe. Im zweitgenannten Aufsatz wir der Holocaust an den Juden als
“Zwecklüge” bezeichnet.

4
2. Mit Urteil vom 28. Juni 2006 verurteilte das Amtsgericht Sondershausen, Zweigstelle Artern, den Beschwerdeführer aufgrund
der Geschehnisse vom 15. und vom 17. April 2005 wegen Volksverhetzung in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen
zu je 40,00 EUR.

5
3. Auf Berufung des Beschwerdeführers änderte das Landgericht mit angegriffenem Urteil vom 10. April 2007 das Urteil des Amtsgerichts
dahingehend ab, dass es den Beschwerdeführer gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB wegen Volksverhetzung in nur mehr
einem Fall (Geschehen vom 17. April 2011) zu einer Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen zu je 35,00 EUR verurteilte und ihn
im Übrigen (Geschehen vom 15. April 2011) aus tatsächlichen Gründen freisprach.

6
Grundlage der Verurteilung wegen des Geschehens vom 17. April 2005 bildeten – wie auch bereits bei der Verurteilung durch
das Amtsgericht – die Aussagen, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es keine Gaskammern für Menschen gegeben habe, und
der Holocaust an den Juden sei eine Zwecklüge.

7
In der Würdigung der Beweisaufnahme führte das Landgericht insbesondere Folgendes aus:

8
In der mündlichen Verhandlung habe er sich noch daran erinnert, dass der Gastwirt nicht nur sprachlich sehr unbeholfen gewesen
sei, sondern auch über keinerlei geschichtliches Wissen, insbesondere über die Zeit des Nationalsozialismus sowie über den
Zweiten Weltkrieg und seine Ursachen, verfügt habe; deswegen habe er ihm Informationsmaterial ausgehändigt. Der Gastwirt habe
als Zeuge ausgesagt, dass er den Beschwerdeführer an beiden Tagen habe reden lassen und ihm nicht entgegengetreten sei. Der
Beschwerdeführer habe ihm die Unterlagen bei einem der beiden Besuche ausgehändigt, damit er sich über die – angeblich – tatsächlich
ereigneten historischen Geschehnisse informiere. Er habe die Unterlagen entgegengenommen und sie später auf Anraten seines
Bruders der Polizei übergeben und den Vorgang zur Anzeige gebracht, um sich nicht selbst der strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen.
Dass (darüberhinaus) der Beschwerdeführer tatsächlich die Schriftstücke nicht nur dem Gastwirt habe übergeben wollen, um diesen
über die angeblich wahren Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg aufzuklären, sondern dass
er es auch für ernstlich möglich hielt, dass diese Schriftstücke einem Personenkreis weitergegeben würden, folge aus dem konkreten
Umstand, dass er sie einem Gastwirt übergeben habe, der Zugang zu einem größeren Publikum, nämlich seinen Gästen, habe. Auch
wenn die Gaststätte in den Mittagstunden wenig frequentiert gewesen sei, so sei doch allgemein bekannt, dass Lokale wie die
“B.” keine reinen Speisewirtschaften seien, sondern auch Bierkneipenfunktion hätten, und daher insbesondere in den Abendstunden
von Leuten frequentiert würden, die sich nur unterhalten und etwas trinken wollten. Die Kammer sei daher davon überzeugt,
dass der Beschwerdeführer, der auch heute noch ersichtlich ein glühender Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie
und Geschichtsfälschung sei, mit der Hingabe der Schriftstücke an den Gastwirt habe erreichen wollen, dass dieser sie zum
Beispiel durch Auslegen im Gastraum weiteren Personen zugänglich mache und ihnen bei Interesse auch übergebe. Dass der Beschwerdeführer
den Gastwirt habe überzeugen wollen, folge daraus, dass er in der Gaststätte sowohl am 15. April 2005 als auch am 17. April
2005 ungefragt seine Meinung zu den Geschehnissen kundgetan habe. Da der Gastwirt den Ausführungen nicht Einhalt geboten habe,
sei der Beschwerdeführer ersichtlich davon ausgegangen, dass seine Ausführungen auf fruchtbaren Boden gefallen seien, weshalb
er sodann das Informationsmaterial bei seinem nächsten Besuch am 17. April 2005 mitgebracht und dem Gastwirt ausgehändigt
habe in der Erwartung, wenn er diesen einmal überzeugt habe, würde er schon für die weitere Verteilung der Unterlagen sorgen.

9
Rechtlich ging die Kammer davon aus, dass eine Schrift verbreite, wer sie einem größeren Personenkreis zugänglich mache. Entscheidend
sei hingegen nicht, aus wie vielen Personen der Kreis bestehe, dem die Schrift tatsächlich übergeben werde, sondern dass der
Täter diesen Personenkreis in Bezug auf eine Weitergabe der Schrift nicht kontrollieren könne. Dies sei – vgl. Thüringer Oberlandesgericht,
Beschluss vom 23. Juni 2003 – 1 Ws 190/03 -, NStZ 2004, S. 628 ff. – dann der Fall, wenn mit einer Weitergabe einzelner Exemplare
an andere Personen zu rechnen sei. Dieser Fall liege hier vor. Dass zu dem Zeitpunkt der Übergabe außer dem Gastwirt keine
weiteren Personen in der Gaststube gewesen seien, sei unerheblich. Entscheidend sei nur, dass der Beschwerdeführer dem Gastwirt
die Schriften übergeben habe und er es nicht mehr unter Kontrolle gehabt habe, ob und gegebenenfalls an wen der Gastwirt sodann
diese Schriften weiterleite. Es komme nicht darauf an, ob die Weitergabe in der Öffentlichkeit oder in einer Versammlung geschehen
sei. Der Beschwerdeführer habe eine Verbreitung der übergebenen Schriften mithin zumindest billigend in Kauf genommen. In
den verbreiteten Schriften werde auch der Holocaust geleugnet. Dieses Leugnen des Holocaust sei geeignet gewesen, insbesondere
ein aufnahmebereites Publikum aufzuhetzen und damit friedensstörend zu wirken, was der Beschwerdeführer in Kenntnis des Inhalts
seiner Schriften ebenfalls zumindest billigend in Kauf genommen habe.

10
4. Die Revision des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 14. Januar 2008 als unbegründet.

11
Das Landgericht habe rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der Sachverhalt das Tatbestandsmerkmal des Verbreitens gemäß § 130
Abs. 2 Nr. 1a StGB erfülle.

12
5. Mit weiterem, ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 11. Februar 2008 verwarf das Oberlandesgericht auch die daraufhin erhobene
Anhörungsrüge und Gegenvorstellung des Beschwerdeführers.

13
6. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer – unter anderem – eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

14
7. Es wurde dem Justizministerium des Freistaates Thüringen und dem Thüringer Landtag Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Der Thüringer Landtag verzichtete auf eine Stellungnahme. Das Justizministerium des Freistaates Thüringen nahm insoweit Stellung,
als es die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich mittelbar auch gegen § 130 Abs. 3 StGB wendet, für unsubstantiiert erachtet.
Ferner wurde der Bundesgerichtshof gebeten, zum Tatbestandsmerkmal des “Verbreitens” aus seiner Sicht Stellung zu nehmen.
Er hat von einer über die bekannte Rechtsprechung hinausgehenden Stellungnahme abgesehen.

II.
15
1. Soweit der Beschwerdeführer rügt, durch das angegriffene Urteil des Landgerichts und den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts
vom 14. Januar 2008 in seinen Rechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt zu sein, nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde
zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt
ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG).
Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen der Reichweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der strafrechtlichen
Beurteilung von Meinungsäußerungen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 7, 198 ; 61,
1 ; 90, 1 ; 90, 241 ; 93, 266 ; 124, 300 ).

16
a) Das Urteil des Landgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 14. Januar 2008 verletzen den Beschwerdeführer
danach in seiner durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit.

17
aa) Gegenstand des Schutzbereiches des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sind Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme
und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen (vgl. BVerfGE 7, 198 ; 61, 1 ; 90, 241 ). Sie fallen stets in den Schutzbereich
von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet
oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl.
BVerfGE 90, 241 ; 124, 300 ). Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts
als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG heraus
(vgl. BVerfGE 124, 300 ).

18
Neben Meinungen sind vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch Tatsachenmitteilungen umfasst, da und soweit sie Voraussetzung
für die Bildung von Meinungen sind beziehungsweise sein können (vgl. BVerfGE 61, 1 ; 90, 241 ). Nicht mehr in den
Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen hingegen bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, da sie zu der
verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung nichts beitragen können (vgl. BVerfGE 61, 1 ; 90, 241 ). Allerdings
dürfen die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit
leidet. Im Einzelfall ist eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile nur zulässig, wenn dadurch der Sinn
der Äußerung nicht verfälscht wird. Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes
insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes drohte
(vgl. BVerfGE 61, 1 ; 90, 241 ).

19
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt es insbesondere
den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben. Darunter sind alle Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung
als solche verbieten, sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin,
ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen (vgl. BVerfGE 7, 198 ; 93, 266 ). Darüberhinaus
hat das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze für Vorschriften
(im konkreten Fall: § 130 Abs. 4 StGB) anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen
Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen (vgl. BVerfGE 124, 300 ).

20
Bei Auslegung und Anwendung der die Meinungsfreiheit einschränkenden Vorschriften haben die Gerichte jedoch im Einzelfall
ihrerseits wiederum dem eingeschränkten Grundrecht Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung, die in der freiheitlichen
Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen führen muss, auch auf der Rechtsanwendungsebene
gewahrt bleibt. Zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsschranken findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die
Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung
dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzender Wirkung selbst
wieder eingeschränkt werden müssen (vgl. BVerfGE 7, 198 ; BVerfGE 124, 300 ). Allein die Wertlosigkeit
oder auch Gefährlichkeit von Meinungen als solche ist kein Grund, diese zu beschränken. Demgegenüber ist es legitim, Rechtsgutsverletzungen
zu unterbinden (vgl. BVerfGE 124, 300 ). Verboten werden darf mithin nicht der Inhalt einer Meinung als solcher, sondern
nur die Art und Weise der Kommunikation, die bereits den Übergang zur Rechtsgutsverletzung greifbar in sich trägt und damit
die Schwelle zu einer sich abzeichnenden Rechtsgutsverletzung überschreitet (vgl. BVerfGE 124, 300 ). In diesem Verständnis
sind dementsprechend im Lichte des Art. 5 Abs. 1 GG sowohl die Tatbestandsmerkmale einer Strafnorm auszulegen als auch der
Lebenssachverhalt unter die Strafnorm zu subsumieren (vgl. zu den Tatbestandsmerkmalen des § 130 Abs. 4 StGB ausdrücklich:
BVerfGE 124, 300 ).

21
bb) Diesen Maßstäben halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand.

22
(1) Die Äußerungen, die der Verurteilung zugrunde gelegt wurden, unterfallen noch dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit.
Zwar leugnen sie – wie von den angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen zutreffend erkannt – das historische Gesamtgeschehen
des Holocaust. Dieses insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Massenvernichtungsunrecht ist aber eine geschichtlich
erwiesene Tatsache, deren Leugnen folglich als erwiesen unwahr allein für sich betrachtet nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit
unterfällt (vgl. BVerfGE 90, 241 ). Im Gesamtkontext der jeweiligen Aufsätze betrachtet sind die den Holocaust leugnenden
Äußerungen vorliegend jedoch untrennbar mit Meinungsäußerungen verbunden. Der Aufsatz “Die Geschichtslüge des angeblichen
Überfalls auf Polen im Jahre 1939″ bestreitet primär die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und stellt
insofern die Behauptung auf, dass dies eine Lüge der Nachkriegsgeneration, insbesondere der “BRD-Politiker” sei. Die erste,
den Holocaust leugnende Äußerung benutzt der Beschwerdeführer aber lediglich als Teil eines einleitenden Begründungsversuchs,
warum die Nachkriegsgeneration Deutschland die alleinige Kriegsschuld zusprach. Auch die zweite, den Holocaust leugnende Äußerung
der Aufsätze, steht zu den Grundthesen der fehlenden Kriegsschuld Deutschlands und der diesbezüglichen “Lügen der Nachkriegsgeneration”
in unmittelbarem Kontext. Diese Thesen sind ihrerseits aber als wertende Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit
umfasst (vgl. BVerfGE 90, 1 ; 241 ).

23
(2) Damit wäre aber bei Auslegung und Anwendung des vorliegend von den Strafgerichten für einschlägig erachteten § 130 Abs.
2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB auch der wertsetzenden Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ausreichend Rechnung zu tragen
gewesen.

24
Der Gesetzgeber hat – ungeachtet der Frage, inwieweit § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB aus anderen Gründen den verfassungsrechtlichen
Anforderungen, insbesondere etwa im Hinblick auf einen verfassungsrechtlich tragfähigen Rechtsgüterschutz, genügt – dieser
wertsetzenden Bedeutung jedenfalls insofern Rechnung getragen, als er in dieser Tatbestandsvariante nicht jede Art der Äußerung
unter Strafe gestellt hat, sondern nur das Verbreiten. Hierin sieht er folglich die Grenze zur Rechtsgutsverletzung überschritten.
Entscheidendes Kriterium, ob ein Verbreiten vorliegt, ist nach hergebrachtem Verständnis stets, dass eine Schrift einem größeren,
nicht mehr kontrollierbaren Personenkreis zugänglich gemacht wird (vgl. nur BGHSt 13, 257 ; 19, 63 mit jeweiligen
Nachweisen aus den Rechtsprechungen des Reichsgerichts). Dass bei Unterstrafestellung der Verbreitung von den Holocaust leugnenden
Schriften durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 (BGBl I S. 3186 f.) ein neues, wesentlich anderes Verständnis
des Begriffes zugrunde gelegt werden sollte, ist nicht ersichtlich (vgl. BTDrucks 12/4825, S. 4 ff.; 12/6853, S. 23 f.; 12/8588,
S. 8). Der Gesetzgeber hat folglich das bloße Austauschen solcher Schriften zwischen zwei Personen – und damit das bloße Äußern
der konkreten Meinung als solcher – grundsätzlich von der Strafbarkeit nach § 130 Abs. 2 Nr. 1a StGB ausgenommen. Folgerichtig
hat der Zweite Senat des Bundesgerichtshofs in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal “Verbreiten” bei § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs.
3, Abs. 4 (jetzt: Abs. 5) StGB konkreter und restriktiver als der vom Landgericht zitierte Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts
(a.a.O.), dem derselbe Sachverhalt wie der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrunde lag, festgestellt, dass zwar schon
die Weitergabe eines Exemplars der Schrift ausreiche, wenn dies mit dem Willen geschehe, der Empfänger werde die Schrift durch
die körperliche Weitergabe einem größeren Personenkreis zugänglich machen oder wenn der Täter mit der Weitergabe an eine größere,
nicht mehr zu kontrollierende Zahl von Personen rechne, dass aber die Weitergabe an einzelne bestimmte Dritte allein das Merkmal
des Verbreitens hingegen nicht zu erfüllen vermöge, wenn nicht feststehe, dass der Dritte seinerseits die Schrift an weitere
Personen überlassen werde (vgl. BGH, Urteil vom 22. Dezember 2004 – 2 StR 365/04 -, NJW 2005, S. 689 ). Auch der dritte
Senat des Bundesgerichtshofs hat – wenngleich bezüglich § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB – betont, dass für ein Verbreiten die regelmäßig
ohnehin bestehende abstrakte Gefahr der Weitergabe durch einen Dritten nicht genüge (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2009
– 3 StR 174/09 -, juris, Rn. 27).

25
(3) Indem die angegriffenen Entscheidungen entgegen dieser Wertung das Tatbestandsmerkmal “Verbreiten” überdehnt und letztlich
den bloßen Austausch von Schriften zwischen zwei Personen unter den Straftatbestand des § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs.
5 StGB subsumiert haben, verkennen sie die Bedeutung der Meinungsfreiheit wesentlich. Sie haben damit in mit Art. 5 Abs. 1
Satz 1 GG nicht vereinbarer Weise nicht erst die Art und Weise der Kommunikation, die bereits den Übergang zur Rechtsgutsverletzung
in sich trägt, sondern im Ergebnis schon das schlichte Äußern einer konkreten Meinung unter Strafe gestellt. Insbesondere
ist auch die vom Landgericht angenommene friedensstörende Wirkung, wie sie für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit erforderlich
wäre (vgl. BVerfGE 124, 300 ), nicht erkennbar.

26
Denn nach den gerichtlichen Feststellungen haben der Beschwerdeführer und der Gastwirt als Empfänger der Schriften, übereinstimmend
ausgesagt, dass der Beschwerdeführer dem Gastwirt die fraglichen Aufsätze deshalb ausgehändigt habe, damit dieser sich über
die sich angeblich tatsächlich ereigneten historischen Geschehnisse informiere. Überreicht worden ist auch jeweils nur ein
Exemplar der gegenständlichen Schriften. Sonstige Personen waren beim Austausch der Schriften – soweit festgestellt – nicht
anwesend. Der Beschwerdeführer hat den Gastwirt auch nicht aufgefordert, die Schriften in der Gaststätte auszulegen, oder
in sonstiger Art und Weise auf die Weiterverbreitung eingewirkt. Für ihn bestanden nach den gerichtlichen Feststellungen keinerlei
konkrete Anhaltspunkte, dass der Gastwirt die Schriften den sonstigen Gaststättenbesuchern überlassen würde. Dementsprechend
hat dieser die Schriften nicht an Dritte weitergereicht und nach den gerichtlichen Feststellungen dies zu keinem Zeitpunkt
beabsichtigt, sondern den Vorfall bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Die vom Landgericht gezogene und vom Oberlandesgericht
gebilligte Schlussfolgerung, dass der Beschwerdeführer die Weiterverbreitung der Schriften durch den Zeugen zwingend billigend
in Kauf genommen habe, da er sie mit dem Zeugen einem Gastwirt übergeben habe und in dessen Gaststätte zwei Tage vorher anlässlich
einer TV-Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg in der Gaststätte in nicht näher festgestellter Art und Weise die Kriegsschuld
Deutschlands geleugnet habe, kann sich damit auf keine unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Meinungsfreiheit
hinreichend tragfähigen tatsächlichen Anhaltspunkte stützen.

27
b) Das Urteil des Landgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 14. Januar 2008 beruhen auch auf der Verkennung
der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist nicht auszuschließen,
dass Landgericht und Oberlandesgericht bei Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen
wären.

28
2. Das Urteil des Landgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 14. Januar 2008 sind demnach gemäß § 93c Abs.
2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen. Der ebenfalls angegriffene
Beschluss des Oberlandesgerichts vom 11. Februar 2008 wird damit gegenstandslos.

29
3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a BVerfGG).

30
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht
auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ).


Ähnliche Artikel

Unerwünschte Werbung: Rechte und Schutz

Ganz gleich, ob ein Telefonanbieter Ihnen ein Produkt am Telefon aufschwatzen möchte oder eine Krankenkasse Sie abwerben möchte – nervig können unerwünschte Werbeanrufe, -emails oder -schreiben schnell werden. Was erlaubt ist und wie Sie dagegen vorgehen können, erfahren Sie hier.
Mehr lesen

Was tun bei einer negativen Bewertung im Internet?

Kundenbewertungen bei Google sind wichtig für Unternehmen, da sich potenzielle Neukunden oft daran orientieren. Doch was, wenn man negative Bewertungen bekommt oder im schlimmsten Fall sogar falsche? Das kann schädlich für das Geschäft sein. Wir erklären Ihnen, was Sie zu dem Thema wissen sollten.
Mehr lesen

Der Influencer Vertrag

In den letzten Jahren hat sich Influencer Marketing einen starken Namen in der Werbebranche gemacht. Viele Unternehmen setzen auf platzierte Werbeanzeigen durch Influencer. Was jedoch zwischen Unternehmer und Influencer vertraglich im Vorfeld zu beachten ist, werden wir Ihnen im Folgenden erläutern.
Mehr lesen


Nach oben