IT- und Medienrecht

Werbung für digitale medizinische Konsultation durch Ärzte in der Schweiz

Aktenzeichen  6 U 5180/19

Datum:
9.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
MD – 2020, 844
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
HWG § 9
UWG § 3 Abs. 1, § 3a

 

Leitsatz

1. § 9 S. 1 HWG ist nicht dahingehend einschränkend auszulegen, dass das Werbeverbot für Fernbehandlungen akzessorisch die Unzulässigkeit der beworbenen Behandlung voraussetzen würde. Vielmehr kommt § 9 HWG ein eigener Regelungsgehalt zu, indem er nicht die Fernbehandlung an sich verbietet, sondern die Werbung hierfür.
2. Der Gesetzgeber hat auch mit der neuen Regelung des § 9 HWG (gültig ab 19.12.2019) an der grundsätzlichen Wertung festgehalten, dass eine Werbung für Fernbehandlungen im Interesse der Vermeidung der mit einer solchen Werbung verbundenen Gefahren für die allgemeine Gesundheit im Allgemeinen untersagt ist (vgl. § 9 Satz 1 HWG). Lediglich unter den in § 9 S. 2 HWG genannten Voraussetzungen ist die Werbung mit Fernbehandlungen nunmehr gesetzlich erlaubt.
3. Eine Werbung für ärztliche Fernbehandlungen in Form eines digitalen Arztbesuchs, wobei mittels einer App in Deutschland lebenden Patienten angeboten wird, über ihr Smartphone von Ärzten, die im Ausland sitzen, für nicht näher konkretisierte Behandlungsfälle und -situationen Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erlangen, wird von dem Ausnahmetatbestand des § 9 Satz 2 HWG, wonach vorausgesetzt wird, dass ein ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nach allgemein anerkannten Standards in den beworbenen Fällen nicht erforderlich ist, nicht gedeckt.

Verfahrensgang

33 O 4026/18 2019-07-16 Urt LGMUENCHENI LG München I

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 16.07.2019, Az. 33 O 4026/18, wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil des Landgerichts München I vom 16.07.2019, Az. 33 O 4026/18, wird ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt. Das vorliegende Urteil ist in Ziff.
II. (Kostenentscheidung) vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung hinsichtlich Ziff. I. des landgerichtlichen Urteils (Unterlassung) gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000,- EUR abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Im Übrigen kann die Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu jeweils vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

II.
Die gemäß § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere gemäß §§ 519 Abs. 1, Abs. 2, 517 ZPO form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 520 Abs. 2, Abs. 3 ZPO begründete Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
1. Der vom Kläger gegen die Beklagte mit Klageantrag zu Ziffer I. geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 8 Abs. 1 und 3 Nr. 2, §§ 3 Abs. 1, 3a UWG i.V.m. § 9 HWG ist – auch unter Berücksichtigung der neuen Rechtslage (vgl. § 9 S. 2 HWG in der seit dem 19.12.2019 geltenden Fassung) – begründet.
a) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei auf den streitgegenständlichen Sachverhalt nach Art. 6 Abs. 1 der Rom-II-Verordnung deutsches Recht angewandt, da die angegriffene Werbung der Beklagten unter der deutschsprachigen Internetseite www.o de unstreitig in Deutschland erfolgt ist. Bei Werbemaßnahmen liegt der Marktort grundsätzlich dort, wo die Werbemaßnahme auf den Kunden einwirkt, selbst wenn der spätere Absatz auf einem anderen Markt stattfinden soll (BeckOGK/Poelzig/Windorfer, 1.8.2018, Rom-II-VO Art. 6 Rn. 78). Auch knüpft der Unlauterkeitsvorwurf des § 9 HWG an die in Deutschland erfolgte Werbung als solche an (vgl. BGH GRUR 2016, 513 Rn. 14 – Eizellspende).
b) Hinsichtlich des auf Wiederholungsgefahr gestützten Unterlassungsanspruchs ist die Klage nur begründet, wenn das beanstandete Verhalten der Beklagten sowohl zum Zeitpunkt seiner Vornahme rechtswidrig war als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtswidrig ist (st. Rspr; vgl. z. B. BGH GRUR 2018, 438 Rn. 9 – Energieausweis m.w.N.). Vorliegend wurde die gesetzliche Regelung des § 9 HWG mit Wirkung zum 19.12.1019 – also nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils vom 16.07.2019 – durch den neu eingefügten Satz 2 ergänzt, der das in Satz 1 normierte Werbeverbot für Fernbehandlungen unter bestimmten Voraussetzungen für nicht anwendbar erklärt. Demnach hat der Senat zu beurteilen, ob das beanstandete Verhalten der Beklagten – wie vom Landgericht bejaht – nach bisherigem Recht (§ 9 HWG a. F.) unzulässig war sowie bejahendenfalls, ob die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens auch nach Einführung des § 9 Satz 2 HWG n. F. weiterhin gegeben ist.
c) Die Beklagte ist Adressatin der Regelung des § 9 HWG, so dass eine täterschaftliche Haftung für die von ihr selbst vorgenommene Werbung inmitten steht. Das Heilmittelwerbegesetz richtet sich an jeden Werbungstreibenden, d. h. an alle natürlichen oder juristischen Personen, die an der Verbreitung einer als Werbung im Sinne des Gesetzes einzustufenden Aussage beteiligt bzw. hierfür verantwortlich sind.
d) Die Beklagte hat über ihren Internetauftritt unter „o…de“ für ärztliche Fernbehandlungen in Form eines sogenannten digitalen Arztbesuches geworben, wobei mittels einer App in Deutschland lebenden Patienten, die bei dem Tochterunternehmen der Beklagten, der o. Krankenversicherung AG, krankenversichert sind, angeboten wird, über ihr Smartphone per Videoverbindung von in der Schweiz ansässigen Ärzten Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erlangen, wie aus den Anlagen KR 1a und KR 1b ersichtlich. Diesbezüglich ist der Klageantrag im Hauptantrag – entgegen den Ausführungen des Landgerichts auf Seite 33 unter Ziff. 7. des angegriffenen Urteils – nicht auf die konkrete Verletzungsform beschränkt, was sich aus der den abgelichteten Screeenshots vorangestellten Formulierung „insbesondere…“ ergibt. Der mit „insbesondere“ eingeleitete Teil eines Unterlassungsantrags dient der Erläuterung des in erster Linie beantragten abstrakten Verbots, indem er beispielhaft verdeutlicht, was unter der im abstrakten Antragsteil genannten Form zu verstehen ist (st. Rspr., vgl. BGH GRUR 2016, 705 Rn. 13 – ConText; BGH GRUR 2012, 945 Rn. 22 – Tribenuronmethyl; BGH WRP 2019, 68 Rn. 21 – Jogginghose; vgl. auch Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler, 38. Aufl. 2020, UWG § 12 Rn. 2.46). Daher kommt es bei der Beurteilung maßgeblich auf den abstrakten Teil des Unterlassungsantrags an.
Dieser bezieht sich vorliegend auf die Werbung „für ärztliche Fernbehandlungen in Form eines digitalen Arztbesuches, wobei mittels einer App in Deutschland lebenden Patienten, die bei der o. Krankenversicherung AG krankenversichert sind, angeboten wird, über ihr Smartphone von Ärzten, die im Ausland sitzen, Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erlangen “. Mit dieser Antragsformulierung will der Kläger also untersagt wissen, dass pauschal Fernbehandlungen als universelle Methode – von der Diagnose über die Therapieempfehlung bis zur Krankschreibung – beworben werden, indem ein digitales Primärversorgungsmodell angepriesen wird, bei dem in Deutschland befindliche Patienten durch ausländische Ärzte Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen erhalten können, ohne dass sie hierfür persönlich zum Arzt gehen müssen. Dies ergibt sich aus der Formulierung des Antrags („…Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen…“ anstelle „und/oder“), aus der im „insbesondere-Zusatz“ beispielhaft angeführten Verletzungsform und aus den Ausführungen der klägerischen Antragsbegründung (vgl. insbes. Klageschrift, S. 8/9; Schriftsatz vom 08.07.2019, S. 4 unten/S. 5 oben; Berufungserwiderung vom 12.02.2020, S. 2 unten/S. 3 oben, S. 5 unten, S. 6 unten/S. 7 oben; Schriftsatz vom 30.06.2020, S. 2, erster Abs. sowie S. 5 unten).
Der Senat erachtet diesen Unterlassungsantrag im Hauptantrag aus den nachstehenden Erwägungen als begründet, so dass über den im Termin gestellten Hilfsantrag nicht zu entscheiden war.
e) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die streitgegenständliche Werbung im Zeitpunkt ihrer Vornahme auf der Grundlage des § 9 HWG in der bis zum 19.12.1019 geltenden Fassung unzulässig war.
aa) Die Regelung des § 9 HWG (a. F.) untersagt eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen beruht. Eine Fernbehandlung im Sinne dieser Vorschrift ist anzunehmen, wenn allein aufgrund einer schriftlichen, fernmündlichen, über andere Medien oder Dritte auf Distanz vermittelten Information eine Diagnose gestellt oder ein Behandlungsvorschlag erteilt wird, ohne den Patienten persönlich gesehen bzw. untersucht zu haben (vgl. Spickhoff, Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 9 HWG Rn. 2; OLG München, GRUR-RR 2012, 435, 436 – Unsere Experten sind für Sie da). Demnach fällt auch die hier streitgegenständliche Werbung mit einer Online-Video-Konsultation unter das Werbeverbot des § 9 HWG (a. F.).
bb) Das Landgericht ist dabei mit zutreffender Begründung davon ausgegangen, dass entgegen dem Vorbringen der Beklagten keine einschränkende Auslegung des § 9 HWG (a. F.) dahingehend vorzunehmen ist, dass das Werbeverbot akzessorisch die Unzulässigkeit der beworbenen Behandlung voraussetzt, so dass es auch nicht auf die zwischen den Parteien streitigen Fragen ankommt, ob sich die Tätigkeit der ausländischen Ärzte nach den (inhaltlich unterschiedlichen) Berufsordnungen der Landesärztekammern in Deutschland oder nach dem Recht des Landes, in dem die behandelnden Ärzte ansässig sind, richtet bzw. ob die beworbenen Fernbehandlungen nach schweizerischem Recht zulässig sind.
Die Vorschriften des Heilmittelwerbegesetzes dienen dem Schutz vor konkreten Gesundheitsgefährdungen (Art. 2 Abs. 2 GG/Art. 3 Abs. 1 EU-Grundrechte-Charta), welche dadurch entstehen können, dass der Verkehr durch irreführende oder eindringliche Werbung dazu verleitet wird, sich nutzlosen oder schädlichen Behandlungsmitteln oder -methoden zu bedienen (vgl. Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 219. EL, April 2018, Vorbem. Rn. 2). Das in § 9 HWG normierte Verbot der Werbung mit Fernbehandlungen zielt darauf ab, dass derartigen grundsätzlich bedenklichen Behandlungsformen, die ohne die persönliche Inaugenscheinnahme und Untersuchung des Patienten erfolgen, nicht durch werbliche Anreize Vorschub geleistet wird (vgl. Nomos-BR/Zimmermann, HWG, 2012, § 9 Rn. 1; vgl. auch Braun, MedR 2018, 563, 565 – Die Zulässigkeit von ärztlichen Fernbehandlungsleistungen nach der Änderung des § 7 Abs. 4 MBO-Ä). Dabei kommt § 9 HWG ein eigener Regelungsgehalt zu, indem er nicht die Fernbehandlung an sich verbietet, sondern die Werbung hierfür (so bereits Senat, Urt. vom 25.10.2018, Az. 6 U 61/18; s.a. KG, Urt. vom 03.12.2019, Az. 5 U 45/19, MD 2020, 205; a. A. Spickhoff, MedR 2018, 535, 542 – Rechtsfragen der grenzüberschreitenden Fernbehandlung, der von einer Akzessorietät des Werbeverbots nach § 9 HWG zum standesrechtlichen Fernbehandlungsverbot ausgeht; vgl. auch Parteigutachten Prof. Spickhoff vom 12.12.2017, Anlage K 3). Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf verwiesen, dass das Heilmittelwerbegesetz auch in anderen Bereichen absolute Werbeverbote enthält, wie etwa in § 5 (Werbung mit Anwendungsgebiet bei homöopathischen Arzneimitteln), § 8 Satz 2 (Werbung für das Beziehen bestimmter Arzneimittel im Wege der Einzeleinfuhr) und § 11 HWG (verbotene Werbemaßnahmen außerhalb von Fachkreisen). Der mit dem Werbeverbot nach § 9 HWG verbundene Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG/Art. 15 Abs. 1 der EU-Grundrechte-Charta) und in die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG/Art. 11 Abs. 1 EU-Grundrechte-Charta) ist im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 GG/Art. 3 Abs. 1 EU-Grundrechte-Charta verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil durch die Werbung mit einer Fernbehandlung allgemein Gefahren für die Gesundheit der betroffenen Patienten begründet werden können (vgl. bereits Senat, Urteil vom 25.10.2018, Az.: 6 U 61/18). Vor diesem Hintergrund ist § 9 HWG auch nicht im Hinblick auf die nach Art. 56 AEUV geschützte Dienstleistungsfreiheit einschränkend auszulegen und anzuwenden. Denn das Werbeverbot für Fernbehandlungen ist durch das zwingende Gemeinwohl des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt (vgl. Art. 62 AEUV i.V.m. Art. 52 Abs. 1 AEUV; Streinz/Müller-Graff, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 56 Rn. 107). Dabei ist es nach der Rechtsprechung des EuGH Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll, insoweit ist den Mitgliedstaaten also ein Wertungsspielraum zuzuerkennen (EuGH GRUR-Int. 2012, 1034 Rn 28 – Susisalo u.a. ./. FIMEA u. a.). Der europäische Gesetzgeber hat im Übrigen mit der Regelung in Art. 90 lit. a) der Richtlinie 2001/83/EG anerkannt, dass ein entsprechendes Werbeverbot geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein kann, um das Ziel eines verbesserten Schutzes der allgemeinen Gesundheit zu erreichen.
f) An der Unzulässigkeit der hier angegriffenen Werbung der Beklagten hat sich auch durch die nach Verkündung des Ersturteils ergänzte gesetzliche Regelung des § 9 Satz 2 HWG in der Fassung ab dem 19.12.2019 nichts geändert.
aa) Zunächst ist festzustellen, dass der Gesetzgeber das grundsätzlich geltende Verbot einer Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 Satz 1 HWG beibehalten hat. Eine Ausnahme hiervon ist nach dem nunmehr neu hinzugefügten Satz 2 des § 9 HWG nur in solchen Fällen vorgesehen, in denen „nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“. Der Gesetzgeber hat mit dieser Novellierung dem Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages Rechnung getragen, mit dem eine Anpassung des ärztlichen Berufsrechts im Hinblick auf Fernbehandlungen favorisiert wurde. Damit reagiert die Ärzteschaft auf den durch die Digitalisierung bedingten Wandel der Gesundheitsversorgung. Nach der Begründung zur Neuregelung in § 7 Abs. 4 MBO-Ä (welche lautet: „Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“, vgl. auch die entsprechende Regelung in § 7 Abs. 4 BOÄBayern) soll der Grundsatz der ärztlichen Beratung und Behandlung im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient, das heißt unter physischer Präsenz des Arztes, weiterhin den „Goldstandard“ ärztlichen Handelns darstellen. In Bezug auf den einzelnen Behandlungsfall soll aber mit der zukünftigen Regelung unter Wahrung der dort genannten Voraussetzungen eine Beratung und Behandlung ausschließlich aus der Ferne über Kommunikationsmedien erlaubt sein, um den Patienten mit der Fort- und Weiterentwicklung telemedizinischer, digitaler, diagnostischer und anderer vergleichbarer Möglichkeiten eine dem anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse entsprechende ärztliche Versorgung anbieten zu können, wobei allerdings telemedizinische Primärarztmodelle zu vermeiden seien (vgl. Vorbemerkung der Bekanntmachung der Bundesärztekammer vom 22.03.2019 zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Anlage BLD 9; Beschlussprotokoll des 121. Deutschen Ärztetags, Seiten 293, 294, Anlage KR 5). Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber auch in der Regelung des § 9 HWG n. F. an der grundsätzlichen Wertung festgehalten, dass eine Werbung für Fernbehandlungen im Interesse der Vermeidung der mit einer solchen Werbung verbundenen Gefahren für die allgemeine Gesundheit im Allgemeinen untersagt ist (§ 9 Satz 1 HWG n. F.). Lediglich unter den in Satz 2 beschriebenen Voraussetzungen, nämlich „wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“, ist die Werbung mit Fernbehandlungen nunmehr gesetzlich erlaubt. Dabei ist im Rahmen der Regelung des § 9 Satz 2 HWG eine abstraktgeneralisierende Bewertung erforderlich, da sich die Werbung unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation an eine Vielzahl individuell nicht näher bestimmbarer Personen richtet (vgl. Begründung zum Referentenentwurf zum Digitalen Versorgungs-Gesetz, Anlagen KR 12/BLD 13, S. 83). Nach der Begründung des Referentenentwurfs zum Digitalen Versorgungs-Gesetz (vgl. Anlagen KR 12/BLD 13, Seite 83) dürfen dabei nur solche Fernbehandlungen bei Menschen beworben werden, bei denen die Einhaltung anerkannter fachlicher Standards gesichert ist, wenn also nach dem anerkannten medizinischen Stand der Erkenntnisse eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich ist.
bb) Im Streitfall hat die Beklagte ein digitales Primärversorgungsmodell beworben, bei welchem in der Schweiz ansässige Ärzte gegenüber den in Deutschland lebenden Adressaten der Werbung mittels einer App Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen durchführen, wobei „alternativ zum traditionellen Arztbesuch“ der „digitale Arztbesuch per App“ angepriesen wird („Bleib einfach im Bett, wenn Du zum Arzt gehst“). Es wird damit geworben, dass „erstmals in Deutschland“ die komplette ärztliche Versorgung, nämlich „Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung“, mittels einer App online erfolgen könne („Alles per App“). Hierzu führen die Beklagten in ihrer Berufungsbegründung aus, dass in rund 90% der Fälle, weswegen Patienten einen Arzt aufsuchten, eine persönliche Konsultation des Arztes nicht notwendig sei. Diese nicht belegte Behauptung erscheint allerdings wenig nachvollziehbar, nachdem grundsätzlich jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung erfordert, in der Regel unmittelbar durch Funktionsprüfungen (etwa von Atmung, Kreislauf, Blutdruck) und Besichtigungen, Abtasten, Abklopfen und Abhören des Körpers sowie ggf. der Erhebung weiterer Laborwerte (vgl. Katzenmeier, NJW 2019, 1769 m.w.N. – Haftungsrechtliche Grenzen ärztlicher Fernbehandlung). Bei einer ausschließlichen Videokonsultation, wie sie im Streitfall beworben wurde, muss sich der Arzt demgegenüber von vornherein auf eine verkürzte Wahrnehmung bei der Anamnese verlassen. Der im Fall einer ausschließlichen Fernbehandlung naheliegende Vorwurf einer Vernachlässigung der Befunderhebungspflicht muss den behandelnden Arzt grundsätzlich zu Vorsicht und Zurückhaltung veranlassen, so dass auch nach der Reform des § 7 Abs. 4 MBO-Ä bzw. der Berufsordnungen der Landesärztekammern (die insoweit unterschiedliche Neuregelungen aufweisen) bei dem geringsten Zweifel umgehend eine persönliche Untersuchung des Patienten zu veranlassen sein wird (vgl. Katzenmeier a.a.O.). Die im Streitfall beworbene Ersetzung des persönlichen Arztbesuchs durch eine alternative digitale Fernbehandlung per digitaler App „von der Diagnose über die Therapieempfehlung bis hin zur Krankschreibung“ für nicht näher konkretisierte Behandlungsfälle und -situationen durch in der Schweiz sitzende Ärzte wird von dem Ausnahmetatbestand des § 9 Satz 2 HWG n. F., wonach vorausgesetzt wird, dass ein ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nach allgemein anerkannten Standards in den beworbenen Fällen nicht erforderlich ist, in dieser generellen Weite somit nicht gedeckt. Zwar wird dem von der Werbung angesprochenen potenziellen Patienten, wie von der Beklagten geltend gemacht, grundsätzlich bewusst sein, dass im Wege einer Fernbehandlung in tatsächlicher Hinsicht nur begrenzte Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten des Arztes bestehen, also je nach Krankheitsbild weitergehende Untersuchungen und ärztliche Eingriffe erforderlich sein können. Die streitgegenständliche Werbung berücksichtigt aber nicht, dass auch im Rahmen dieser tatsächlich eingeschränkten Möglichkeiten eine Werbung für Fernbehandlungen nicht generell zulässig ist, sondern nur unter der Voraussetzung, dass bei Einhaltung allgemein anerkannter fachlicher Standards kein persönlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen erforderlich ist im Sinne des § 9 Satz 2 HWG. Wollte man die hier streitgegenständliche Werbung unter die Ausnahmeregelung des § 9 Satz 2 HWG subsumieren, würde das grundsätzliche Werbeverbot für Fernbehandlungen nach § 9 Satz 1 HWG im Übrigen praktisch leerlaufen.
Soweit sich die angegriffene Werbung der Beklagten auf Krankschreibungen im Wege der Online-Videokonsultation bezieht, ist dem Kläger weiterhin darin zuzustimmen, dass nach allgemeinen fachlichen Standards (s.a. § 25 Satz 1 MBO-Ä) ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen – gerade bei Patienten, die dem Arzt persönlich unbekannt sind, wie im streitgegenständlichen Fall – grundsätzlich erforderlich ist im Sinne von § 9 Satz 2 HWG, so dass die Werbung für generelle Krankschreibungen per Videokonsultation durch im Ausland ansässige Ärzte nicht auf § 9 Satz 2 HWG gestützt werden kann (vgl. auch die Wertung des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie betreffend gesetzlich Versicherte, Anlage KR 7, S. 5, sowie die Entschließung des 121. Ärztetags 2018, Anlage KR 5, S. 298, wonach die Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich abgelehnt wird, wenn es im Rahmen einer Fernbehandlung zu keinem persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt kommt).
g) Die Regelung des § 9 HWG ist dazu bestimmt, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln im Sinne von § 3 a UWG (vgl. OLG München GRUR-RR 2012, 435, 436 – Unsere Experten sind für Sie da), wobei eine Verletzung der Bestimmung – welche dem Schutz der Gesundheit der Verbraucher dient – geeignet ist, die Interessen der Verbraucher spürbar im Sinne von § 3 Abs. 1 UWG zu beeinträchtigen (vgl. BGH GRUR 2012, 647 Rn. 42 – INJECTIO; OLG München, a.a.O.).
h) Die gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 UWG erforderliche Wiederholungsgefahr wird durch die Verletzungshandlung indiziert und besteht mangels Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung seitens der Beklagten weiterhin fort. Dabei liegt das Charakteristische der angegriffenen Verletzungshandlung unter anderem darin, dass sich die streitgegenständliche Werbung auf Fernbehandlungen bezieht, die an in Deutschland lebenden Patienten durch im Ausland ansässige Ärzte durchgeführt werden, und ist somit die Wiederholungsgefahr – die grundsätzlich auch für kerngleiche Handlungen begründet wird – nicht auf die Bewerbung von Fernbehandlungen durch Ärzte aus der Schweiz beschränkt.
2. Das Landgericht hat dem Kläger auch zu Recht die geltend gemachte Erstattung der Abmahnkosten in Höhe von 267,50 EUR zu gesprochen, da die klägerische Abmahnung aus den unter 1. genannten Gründen berechtigt war (§ 12 Abs. 1 S. 2 UWG). Dabei kommt es für den Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Abmahnung (§ 9 HWG a.F.) an (st. Rspr.; vgl. nur BGH, GRUR 2016, 392 Rn. 25 m.w.N. – Buchungssystem II; BGH GRUR 2018, 438 Rn. 9 – Energieausweis).
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1, S. 2, 713 ZPO.
3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO nicht vorliegen. Allein der Umstand, dass im Streitfall die neu eingeführte Regelung des § 9 S. 2 HWG anzuwenden war, ändert nichts daran, dass die Rechtssache, wie die Ausführungen unter II. zeigen, lediglich eine Einzelfallbeurteilung in Bezug auf die hier streitgegenständliche Werbung erfordert.


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