Kosten- und Gebührenrecht

Anordnung der teilweisen Auslagenerstattung für das Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Erledigung der Hauptsache – Sachentscheidung des Fachgerichts als Indiz für Substantiiertheit der Untätigkeitsrüge – Unzulässigkeit einer eA zur Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens – Gegenstandswertfestsetzung auf 8000 Euro

Aktenzeichen  1 BvR 1725/10

Datum:
1.12.2010
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20101201.1bvr172510
Normen:
GG
§ 34a Abs 3 BVerfGG
§ 14 Abs 1 RVG
§ 37 Abs 2 S 2 RVG
§ 80 Abs 5 VwGO
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Tenor

1. Der Freistaat Sachsen hat den Beschwerdeführern drei Viertel ihrer notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. 
2. Der Antrag auf Anordnung der Auslagenerstattung für das Verfahren der einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für die Verfassungsbeschwerde wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1
1. a) Über die Erstattung der Auslagen ist, nachdem die Beschwerdeführer ihre Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt haben,
nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden (§ 34a Abs. 3 BVerfGG). Dabei kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung
geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen. So ist es billig, dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen zuzuerkennen,
wenn die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitigt oder der Beschwer auf
andere Weise abhilft, weil in diesem Fall davon ausgegangen werden kann, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst
für berechtigt erachtet hat (vgl. BVerfGE 85, 109 ; 87, 394 ). Im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite
der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts begegnet es allerdings Bedenken, wenn im Falle einer Erledigung der Verfassungsbeschwerde
über die Auslagenerstattung – analog den Regelungen in den Verfahrensordnungen für die Fachgerichte (§ 91a ZPO, § 161 Abs.
2 VwGO, § 138 Abs. 1 FGO) – aufgrund einer überschlägigen Beurteilung der Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde entschieden
und dabei zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen aufgrund einer lediglich kursorischen Prüfung Stellung genommen werden
müsste. Diese Bedenken greifen allerdings dann nicht ein, wenn die Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde unterstellt werden
kann oder wenn die verfassungsrechtliche Lage – etwa durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einem gleichgelagerten
Fall – bereits geklärt ist (vgl. BVerfGE 85, 109 ).

2
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Erstattung von drei Vierteln der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer im
Verfahren der Verfassungsbeschwerde anzuordnen.

3
Aus dem Umstand, dass das Sächsische Oberverwaltungsgericht nach Erhebung und Zustellung der Verfassungsbeschwerde mit Beschluss
vom 23. Juli 2010 über den Antrag der Beschwerdeführer auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes entschieden und so Anlass
für ihre Erledigungserklärung im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegeben hat, kann nicht ohne weiteres geschlossen werden,
dass zu diesem Zeitpunkt eine unangemessen lange Verfahrensdauer vorlag oder dass das Gericht eine solche eingeräumt und sich
damit gleichsam freiwillig in die Rolle des Unterlegenen begeben hat. Anders als in Streitfällen, in denen der Streitgegner
einen Anspruch zugesteht oder eine Forderung begleicht oder eine Behörde einen bisher verweigerten Verwaltungsakt erlässt
oder einen angegriffenen aufhebt, und so die Erledigung des Rechtsstreits herbeiführt, steht in den Fällen, in denen um die
Angemessenheit der Verfahrensdauer gestritten wird, von vornherein außer Zweifel, dass das Gericht gehalten ist, namentlich
in Eilverfahren, zügig eine Sachentscheidung herbeizuführen. Trifft es nach Erhebung und Zustellung einer gegen die Verfahrensdauer
gerichteten Verfassungsbeschwerde die begehrte Sachentscheidung, folgt daraus daher nicht zwingend, dass der dem Beschwerdeführer
von Verfassungs wegen zustehende Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit zu diesem Zeitpunkt verletzt war und die Verfassungsbeschwerde
deshalb Erfolg gehabt hätte. Ein derartiger Verfahrensablauf liefert aber ein gewisses Indiz dafür, dass das Gericht die mit
der Verfassungsbeschwerde erhobene Rüge einer überlangen Verfahrensdauer nicht als völlig aus der Luft gegriffen eingeschätzt
und sich jedenfalls zu der Sachentscheidung in der Lage gesehen hat. Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, die Erstattung
von drei Vierteln der den Beschwerdeführern entstandenen Kosten anzuordnen.

4
Eine andere Aufteilung der Kosten ist hier auch nicht mit Rücksicht auf die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde angezeigt,
weil sich diese nicht ohne Weiteres beurteilen lassen. Die Verfassungsbeschwerde war weder offensichtlich begründet noch offensichtlich
unbegründet.

5
Die für ihre Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt
(vgl. etwa BVerfGE 55, 349 ). Danach ist es eine Frage der Abwägung im Einzelfall, ob von einer überlangen, die Rechtsgewährung
verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Dies lässt sich im vorliegenden Fall nicht ohne nähere,
dem Wesen der Kostenentscheidung nach Erledigung fremde Prüfungen feststellen.

6
2. Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist abzulehnen, weil es
von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Beschleunigung eines fachgerichtlichen
Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht kommt nicht in Betracht; denn sie hätte einen Inhalt, den die Entscheidung in
der Hauptsache nicht haben könnte (vgl. BVerfGE 16, 220 ). Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde hätte das Bundesverfassungsgericht
lediglich die Feststellung einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Verfahrensdauer feststellen, nicht jedoch dem
Sächsischen Oberverwaltungsgericht eine bestimmte Verfahrensgestaltung vorschreiben können.

7
3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79,
365 ).

8
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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