Kosten- und Gebührenrecht

Bewilligung, Freiheitsstrafe, Hauptverhandlung, Verteidiger, Verfahren, Vereinigung, RVG, Ausland, Pflichtverteidiger, Strafsenat, Voraussetzungen, Schriftsatz, Vorschuss, Verurteilung, terroristischen Vereinigung

Aktenzeichen  7 St (K) 4/21

Datum:
25.11.2021
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 47621
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der gerichtlich bestellten Verteidigerin des Angeklagten E. wird für den Verfahrensabschnitt Verfahren erster Instanz vor dem 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts München anstelle der Grundgebühr (Nr. 4101 VV RVG), der Vorverfahrensgebühr (Nr. 4105 VV RVG), der Hauptverfahrensgebühr (Nr. 4119 VV RVG) und der Terminsgebühren (Nrn. 4121, 4121, 4122 VV RVG) ein Vorschuss auf eine Pauschvergütung von insgesamt: 228.573 € bewilligt.
II. Die für diesen Zeitraum bereits festgesetzten und ausbezahlten gesetzlichen Gebühren für die genannten Gebührenpositionen sind auf die Pauschvergütung anzurechnen.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist gerichtlich beigeordnete Verteidigerin des Angeklagten E. Sie wurde am 03.02.2016 durch den damaligen Vorsitzenden Richter des erkennenden 7.Strafsenats beigeordnet.
Mit Schriftsatz vom 31.03.2021, nach einem Hinweis der Bezirksrevisorin ergänzt mit Schriftsatz vom 18.06.2021, beantragte die Antragstellerin die Bewilligung eines Vorschusses auf die zu erwartende Pauschgebühr gem. § 51 Abs. 1 S. 1 und 5 RVG in Höhe von insgesamt 312.212,50 €.
Die Vertreterin der Staatskasse – die Bezirksrevisorin bei dem Oberlandesgericht München – äußerte sich mit Schreiben vom 20.05.2021 und vom 19.07.2021. Die Bezirksrevisorin gab in ihrem Schreiben an, dass die Anhebung der gesetzlichen Gebühren für Tätigkeiten im Vorfeld angemessen sei. Hinsichtlich der geltend gemachten Pauschalgebühren für die Teilnahme an der Hauptverhandlung bestünden keine Einwendungen gegen eine Zubilligung an der Obergrenze der Wahlverteidigerhöchstgebühren. Ggfs. sei aber vergütungsmindernd zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin parallel im sog. NSU-Verfahren (Verhandlungsbeginn im Mai 2013, Urteil am 11.07.2018) als Nebenklagevertreter tätig gewesen sei und ihr insoweit eine Pauschvergütung bewilligt worden sei.
Das erstinstanzliche Verfahren vor dem 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts München endete mit der Verurteilung des Angeklagten E. am 28.07.2020 nach 234 Hauptverhandlungstagen wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren 6 Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Die gesetzlichen Gebühren für das Verfahren betragen ausweislich der Schreiben der Bezirksrevisorin 146.464 €.
Der Antragstellerin wurde im Verfahren 6 St (K) 41/18 für ihre Tätigkeit als Nebenklagevertreter für den Nebenkläger K. im sog. NSU-Verfahren (Az. 6 St 3/12) eine Pauschgebühr von 391.128 € bewilligt. Das sog. NSU-Verfahren wurde zwischen dem 06.05.2013 und dem 11.07.2018 vor dem Oberlandesgericht München verhandelt.
Hinsichtlich des Verfahrensgangs und des tatsächlichen sowie rechtlichen Vortrags der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Die Antragstellerin macht den Anspruch auf Gewährung eines Vorschusses auf eine Pauschvergütung – allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe – zurecht geltend.
Eine Pauschvergütung ist auf Antrag zu gewähren, wenn die in den Teilen 4-8 des Vergütungsverzeichnisses bestimmten Gebühren wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit des Verfahrens nicht zumutbar sind, § 51 Abs. 1 S. 1 RVG. Durch die Vorschrift sollen unzumutbare Härten ausgeglichen werden, die dann entstehen, wenn der Verteidiger im Einzelfall mit den Regelgebühren der Nr. 4100 ff. VV RVG abgefunden werden müsste. Die nach § 51 RVG zu gewährende Pauschvergütung muss dabei nicht kostendeckend sein. Die Pauschgebühr hat nach dem Willen des Gesetzgebers Ausnahmecharakter.
Die Pauschvergütung tritt dabei nicht neben, sondern an die Stelle der Gebühren nach Nr. 4100 ff. VV RVG, so dass die bereits erfolgte Gebührenzahlung in vollem Umfang anzurechnen ist.
Inwieweit die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pauschvergütung gegeben sind, lässt sich im Allgemeinen erst aufgrund einer Gesamtschau des Verfahrens nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss beurteilen; zuvor ist ein Vorschuss nach den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 S. 5 RVG zu gewähren.
1. Das vorliegende Verfahren zeichnet sich sowohl durch einen besonderen Umfang als auch durch besondere Schwierigkeit iSd § 51 RVG aus.
a. Das Verfahren war besonders umfangreich. Im Aktenbestand befinden sich über 150 Bände Sachakten und etwa 100 Bände Personenakten. Verhandelt wurden Tatvorwürfe über einen Zeitraum von rund zwölf Jahren. Die Hauptverhandlung fand an insgesamt 234 Hauptverhandlungstagen und über einen Zeitraum von über vier Jahren statt.
b. Das Verfahren war auch besonders schwierig. Zum einen handelt es sich bei dem Verfahren um das erste Verfahren im Hinblick auf die zur Last gelegte Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung namens TKP/ML. Verhandelt wurden zudem eine Vielzahl von vorgeworfenen Bezugstaten sowie die Teilnahme an einer Vielzahl von Versammlungen. Besonders großen Raum nahm die Verhandlung über Übersetzungen von Audioaufzeichnungen aus operativen Maßnahmen ein.
2. Der Einzelrichter setzt die Pauschvergütung für den im Tenor beschriebenen Verfahrensabschnitt als Vorschuss fest.
3. Anstelle der Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG setzt der Senat eine Pauschvergütung nach § 51 Abs. 1 S. 1 RVG in Höhe von 10.000 € – insoweit entsprechend dem Antrag der Verteidigerin – fest.
Die gesetzliche Grundgebühr nach RVG beträgt 192 €.
Die gesetzliche Gebühr ist schon allein aufgrund des schieren Umfangs des Verfahrens unzumutbar niedrig. Vor dem Hintergrund des Vortrags der Antragstellerin ist eine Pauschale von 10.000 € angemessen. Dabei wurde auch die Behandlung vergleichbarer Pauschvergütungsanträge in diesem Verfahren berücksichtigt.
4. Anstelle der Vorverfahrensgebühr nach VV 4105 RVG wird eine Pauschvergütung von 6.000 € festgesetzt.
Die gesetzliche Grundgebühr nach RVG beträgt 161 € (VV 4105 RVG).
Die gesetzlichen Gebühren sind unzumutbar niedrig. Der von der Antragstellerin vorgeschlagene Betrag von 6.000 € ist angemessen. Dabei wurde auch die Behandlung vergleichbarer Pauschvergütungsanträge in diesem Verfahren berücksichtigt.
5. Anstelle der Verfahrensgebühr nach VV 4119 RVG wird eine Pauschvergütung von 25.000 € festgesetzt.
Die gesetzliche Grundgebühr nach RVG beträgt nach VV 4119 RVG 385 €.
Die gesetzlichen Gebühren sind unzumutbar niedrig. Die von der Antragstellerin beantragte Summe wurde moderat herabgesetzt. Dabei wurde auch die Behandlung vergleichbarer Pauschvergütungsanträge in diesem Verfahren berücksichtigt.
6. Anstelle der Terminsgebühren nach VV 4121 und 4122 RVG für die Teilnahme an 229 Tagen wird eine Pauschgebühr von 212.970 € festgesetzt (930 € pro Tag).
Die gesetzlichen Gebühren nach RVG betragen insgesamt 145.726 €:
– Terminsgebühren nach VV 4121 RVG für die Teilnahme an 222 Tagen à 517 € (114.774 €)
– Erhöhungsgebühren nach VV 4122 RVG für 146 Verhandlungstage à 212 € (30.952 €)
Tatsächlich hat die Antragstellerin zwar nur an 223 Verhandlungstagen teilgenommen. An sechs Tagen wurden die Termine noch nach dem Erscheinen der Beteiligten kurzfristig abgesetzt (28.04.2017, 07.05.2018, 21.11.2018, 29.04.2019, 04.11.2019 und 10.02.2020). Diese jeweils nicht vorhersehbaren Terminsabsetzungen mindern die Pauschgebühr im Ergebnis angesichts des dennoch erbrachten Aufwands durch die Antragstellerin ausnahmsweise nicht.
Die gesetzlichen Gebühren sind angesichts der vorbezeichneten Umstände unzumutbar niedrig. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Dauer der Hauptverhandlung von über vier Jahren. Die ständige Vorbereitung von Hauptverhandlungsterminen über einen derart langen Zeitraum stellt ein Sonderopfer dar. Die von der Antragstellerin beantragte Summe orientiert sich an den Wahlverteidigerhöchstgebühren. Dies ist vor dem Hintergrund des außerordentlichen Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrens angemessen und entspricht auch der Vorgehensweise des Bundesgerichtshofs in vergleichbaren Fällen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 18.01.2021 – 1 StR 399/16, Rn. 5).
7. Bei der Bemessung der Pauschgebühr war zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin im über mehrere Jahre parallel verlaufenden sog. NSU-Verfahren ebenfalls eine Pauschvergütung in Höhe von insgesamt 391.128 € erhalten hatte. Im Hinblick auf die überschneidende Dauer der Verfahren vom Beginn der Hauptverhandlung in dieser Sache am 17.06.2016 bis zur Urteilsverkündung im Verfahren 6 St 3/12 am 11.07.2018 kann das Sonderopfer, das der Verteidiger mit der Übernahme der Mandate übernimmt, nicht in voller Höhe doppelt berücksichtigt werden.
Eine Kürzung rechtfertigt sich aus dem Grundgedanken der Pflichtverteidigung und der Pauschvergütung: Die Bestellung zum Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. Sinn der Pflichtverteidigung ist es nicht, dem Anwalt zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil eine zusätzliche Gelegenheit beruflicher Betätigung zu verschaffen. Ihr Zweck besteht ausschließlich darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Angesichts der umfassenden Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers für die Wahrnehmung dieser im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe hat der Gesetzgeber die Pflichtverteidigung nicht als eine vergütungsfrei zu erbringende Ehrenpflicht angesehen, sondern den Pflichtverteidiger honoriert. Der Umstand, dass sein Vergütungsanspruch unter den als angemessen geltenden Rahmengebühren des Wahlverteidigers liegt, ist durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit für den Pflichtverteidiger gewahrt ist. In Strafsachen, die die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch nehmen, gewinnt die Höhe des Entgelts für den Pflichtverteidiger existenzielle Bedeutung. Für solche besonderen Fallkonstellationen gebietet das Grundrecht des Pflichtverteidigers auf freie Berufsausübung eine Regelung, die sicherstellt, dass ihm die Verteidigung kein unzumutbares Opfer abverlangt. Dieses Ziel stellt § 51 Abs. 1 RVG sicher (vgl. BVerfGE 68, 237, 255; BVerfG NJW 2007, 3420; BVerfG NJW 2019, 3370).
Mit Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung stellt der Senat darauf ab, ob die Höhe des Entgelts für die im Rahmen der Hauptverhandlung entfaltete Tätigkeit wegen für längere Zeit währender ausschließlicher oder fast ausschließlicher Inanspruchnahme für den Pflichtverteidiger von existenzieller Bedeutung ist. Für die Zeiträume der Überschneidung von NSU-Verfahren und dem hiesigen Verfahren kann von einer ausschließlichen Inanspruchnahme für die Pflichtverteidigung in diesem Verfahren nicht die Rede sein. Soweit die Antragstellerin selbst vorträgt, dass sie neben dem hiesigen Verfahren noch im sog. NSU-Verfahren tätig war, kann auch nur bedingt von fast ausschließlicher Inanspruchnahme für die Pflichtverteidigung in diesem Verfahren ausgegangen werden, da ja ein anderes ungewöhnlich umfangreiches Verfahren noch parallel betrieben wurde. Ein vollständiger Ausschluss einer Pauschvergütung für den Überschneidungszeitraum erscheint unter Billigkeitsgesichtspunkten angesichts des ebenso außergewöhnlichen Umfangs des hiesigen Verfahrens aber dennoch nicht angemessen.
Der Senat geht stattdessen davon aus, dass eine pauschale Kürzung der nach den obigen Ausführungen berechneten gesamten Pauschgebühr um 10% auch unter Berücksichtigung des nicht unerheblichen Zeitraums, in dem die Antragstellerin nicht mehr in beiden Verfahren tätig war (Juli 2018 bis Juli 2020) angemessen erscheint.
Damit ergibt sich folgende Rechnung: 253.970 € ./. 10% (25.397 €) = 228.573 €.
8. Der Antragstellerin war auch ein Vorschuss gemäß § 51 Abs. 1 S. 1, S. 5 RVG zu gewähren. Dieser setzt voraus, dass der Antragstellerin ein Zuwarten auf die Rechtskraft des Verfahrens trotz der – hier erfolgten – zwischenzeitlichen Auszahlung der gesetzlichen Gebühren schlechthin unzumutbar ist. Angesichts des Umfangs und der zeitlichen Dauer des Verfahrens sowie der von der Antragstellerin dargelegten Mandatseinbußen über die Verfahrensdauer von vier Jahren ist eine solche Unzumutbarkeit hier gegeben. Angesichts der besonderen Umstände wurde von einer Herabsetzung des Vorschusses abgesehen.
9. Da eine Pauschvergütung nicht neben, sondern an die Stelle der gesetzlichen Gebühren tritt, sind die für den jeweiligen Abrechnungszeitraum bereits festgesetzten und ausbezahlten gesetzlichen Gebühren – wie auch von der Antragstellerin beantragt – anzurechnen.
10. Umsatzsteuer ist bei der Festsetzung des Vorschusses auf die Pauschvergütung nicht zu berücksichtigen. Hierüber befindet der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle.


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