Kosten- und Gebührenrecht

Nichtannahmebeschluss: Zur Reichweite der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, insb zum Umfang der fachgerichtlichen Sachaufklärung nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache – hier: Angaben zur Konfession im Meldebogen und darauf gestützte Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde – Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Darlegung einer Grundrechtsverletzung

Aktenzeichen  2 BvR 2595/16

Datum:
20.5.2021
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210520.2bvr259516
Normen:
Art 2 Abs 1 GG
Art 4 Abs 1 GG
Art 19 Abs 4 GG
Art 20 Abs 3 GG
Art 103 Abs 1 GG
§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG
§ 31 Abs 1 BVerfGG
§ 92 BVerfGG
§ 95 Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 95 Abs 2 BVerfGG
Art 9 MRK
Spruchkörper:
2. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend BVerwG, 21. September 2016, Az: 6 C 2/15, Urteilvorgehend BVerfG, 17. Dezember 2014, Az: 2 BvR 278/11, Stattgebender Kammerbeschlussvorgehend BVerwG, 23. September 2010, Az: 7 C 22/09, Urteil

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, mit dem dieses ihre Revisionen unter Verweis auf die Bindung an einen früheren Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als unbegründet zurückgewiesen hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte ein erstes Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts zuvor aufgehoben.
I.
2
Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist die Frage, ob die Beschwerdeführer in der Zeit vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 mit Wirkung für das staatliche Recht Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, einer steuerberechtigten Religionsgemeinschaft, geworden sind. Die aus Frankreich zugezogenen Beschwerdeführer hatten im Meldebogen des Einwohnermeldeamts unter der Rubrik “Religion” den Begriff “mosaisch” angegeben. Streitig war insbesondere, ob diese Erklärung der Beschwerdeführer den Schluss auf eine von ihrem Willen getragene Zuordnung zur Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main erlaube.
3
1. Die Vorinstanzen wiesen die Klagen der Beschwerdeführer auf Feststellung, im vorgenannten Zeitraum nicht Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main geworden zu sein, ab. Das Bundesverwaltungsgericht gab den dagegen gerichteten Revisionen der Beschwerdeführer mit Urteil vom 23. September 2010 (- 7 C 22/09 -, juris) statt und stellte fest, dass für das staatliche Recht von einer Mitgliedschaft der Beschwerdeführer bei der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main im Zeitraum vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 nicht ausgegangen werden könne.
4
2. Das Bundesverfassungsgericht hob mit Kammerbeschluss vom 17. Dezember 2014 – 2 BvR 278/11 – das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf die Verfassungsbeschwerde der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main auf. Dieses Urteil verletze die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV. Das Bundesverwaltungsgericht habe in der aufgehobenen Entscheidung die Bedeutung und Tragweite von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV verkannt, soweit es die Angaben der Beschwerdeführer gegenüber der Meldebehörde, “mosaischer” Religionszugehörigkeit zu sein, für die Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main nicht habe genügen lassen. Die Sache wurde an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
5
3. Mit angegriffenem Urteil vom 21. September 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht die Revisionen der Beschwerdeführer als unbegründet zurück. Das Berufungsurteil, nach dem die Beschwerdeführer vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 mit Wirkung für das staatliche Recht Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main waren, beruhe nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht. Die Bindung an den Feststellungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bewirke im Fall der Zurückverweisung der Sache an das Fachgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG, dass dieses die festgestellte Verletzung des Grundgesetzes seiner erneuten Entscheidung jedenfalls bei unveränderter Sach- und Rechtslage zugrunde legen müsse. Es dürfe dem Feststellungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts im Ergebnis nicht widersprechen. Daraus folge zwangsläufig, dass das Fachgericht die vom Bundesverfassungsgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG als grundgesetzwidrig aufgehobene Entscheidung nicht für grundgesetzkonform erklären dürfe. Diese Bindung an den Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehe unabhängig von dem Inhalt der ihn tragenden Gründe. Sie hindere das Fachgericht daran, den Einwendungen des beim Bundesverfassungsgericht unterlegenen Beteiligten gegen das Vorliegen der festgestellten Grundrechtsverletzung Rechnung zu tragen. Zum Beleg seiner Rechtsansicht verweist das Bundesverwaltungsgericht unter anderem auf einen Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2006 (- 2 BvR 537/05 -, BVerfGK 8, 211).
6
Für die erneute Entscheidung über die Revisionen der Beschwerdeführer bedeute dies: Das Bundesverfassungsgericht habe in dem Tenor des Kammerbeschlusses vom 17. Dezember 2014 – 2 BvR 278/11 – festgestellt, dass das erste Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 2010 die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV verletze. Damit habe das Bundesverfassungsgericht die Feststellung in dem Tenor des Revisionsurteils, die Beschwerdeführer seien vom 8. November 2002 bis zum 31. Oktober 2003 nicht mit Wirkung für das staatliche Recht Mitglieder der Beklagten geworden, für grundgesetzwidrig erklärt. Da dieser Ausspruch nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binde, dürfe der Senat die gegensätzliche Feststellung des ersten Revisionsurteils nicht wiederholen. Vielmehr müsse er für die erneute Entscheidung über die Revisionen der Beschwerdeführer davon ausgehen, dass nur deren Mitgliedschaft bei der Beklagten während des fraglichen Zeitraums dem Grundgesetz entspreche. Dabei halte der Senat es für fraglich, ob diese Mitgliedschaft mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sei. Dies brauche aber letztlich nicht vertieft zu werden, weil der Senat aufgrund der Bindungswirkung des früheren Kammerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts gehindert sei, die Erkenntnisse zur Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK in die Auslegung der Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV einfließen zu lassen, da deren Bedeutungsgehalt für das vorliegende Revisionsverfahren aufgrund des nach § 31 BVerfGG bindenden Feststellungsausspruchs des früheren Kammerbeschlusses feststehe.
7
4. Die Beschwerdeführer erhoben daraufhin – parallel zu ihrer vorliegenden Verfassungsbeschwerde – Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und machten eine Verletzung von Art. 9 (Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit) und von Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der EMRK durch das angegriffene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts geltend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte die Beschwerde mit Entscheidung vom 13. Juni 2017 (- 32745/17 -, juris) mit Blick auf die noch anhängige Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht für unzulässig.
II.
8
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 9 EMRK sowie von Art. 103 Abs. 1 GG. Zur Begründung greifen sie ihren Vortrag aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 278/11 auf, in dem sie als Äußerungsberechtigte gemäß § 94 Abs. 3 BVerfGG gehört worden waren. Sie führen im Wesentlichen aus, dass die durch die innerstaatlichen Gerichte anerkannte und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom 17. Dezember 2014 als grundrechtskonform angesehene Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main nicht auf ihrem Einverständnis beruhe. Dies verletze ihre negative Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 9 EMRK. Das Bundesverfassungsgericht habe verkannt, dass die Gemeindemitgliedschaft der Beschwerdeführer ohne den Willen und ohne das Wissen der Beschwerdeführer entstanden sei.
9
Im Übrigen sei Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil sich das Bundesverwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil an den früheren Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts gebunden gesehen habe, obgleich dieser unter Außerachtlassung wesentlichen Vortrags der Beschwerdeführer zustande gekommen sei.
III.
10
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Auch ist ihre Annahme nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, da sie unzulässig ist. Sie genügt nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG. Die Beschwerdeführer haben eine Verletzung ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte nicht substantiiert dargelegt.
11
1. Die Beschwerdeführer haben die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte darzulegen (vgl. BVerfGE 6, 132 ; 20, 323 ; 28, 17 ; 89, 155 ; 98, 169 ). Bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde haben sich die Beschwerdeführer mit dieser in der Regel ins Einzelne gehend inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. BVerfGE 82, 43 ; 86, 122 ; 88, 40 ; 105, 252 ; 140, 229 ). Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 78, 320 ; 99, 84 ; 115, 166 ). Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits vor, der die angegriffenen Gerichtsentscheidungen folgen, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 77, 170 ; 99, 84 ; 101, 331 ; 123, 186 ; 130, 1 ). Das gilt jedenfalls dann, wenn die Verletzung des Grundrechts nicht auf der Hand liegt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 1584/10 -, Rn. 3).
12
2. Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Beschwerdeführer nicht.
13
a) Soweit die Beschwerdeführer eine Gehörsverletzung darin sehen, dass das Bundesverwaltungsgericht in seiner angegriffenen Entscheidung Vortrag der Beschwerdeführer – den das Bundesverfassungsgericht in dem früheren Verfassungsbeschwerdeverfahren übergangen habe – wegen der Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht habe berücksichtigen können, verkennen die Beschwerdeführer den Schutzbereich von Art. 103 Abs. 1 GG. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert weder die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfGE 76, 93 ) noch eine ordnungsgemäße Subsumtion und Entscheidungsbegründung (vgl. BVerfGE 65, 293 ) und schützt auch nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt bleibt.
14
aa) Allerdings begegnet die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, es sei aufgrund der Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts daran gehindert, den Vortrag der Beschwerdeführer im Rahmen der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, in dieser Allgemeinheit rechtlichen Bedenken.
15
(1) Mit der Aufhebung der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Entscheidung und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das zuständige Gericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG werden der aufgehobene Hoheitsakt und seine Bestands- und/oder Rechtskraft rückwirkend beseitigt mit der Folge, dass von der verfassungswidrigen Maßnahme keine Rechtswirkungen mehr ausgehen. Das Ausgangsverfahren wird wieder bei der Stelle neu anhängig, an die das Verfahren zurückverwiesen wird, und dort in den Stand vor dem Erlass der aufgehobenen Entscheidung zurückversetzt (vgl. BVerfGE 10, 274 ; 89, 381 ; 92, 158 ; 108, 351 ; 129, 1 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2014 – 2 BvR 2457/13 -, Rn. 17 f.; Stark, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 95 Rn. 113). Es ist dann in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Aufgabe des zuständigen Fachgerichts, in einem neuen Rechtszug (vgl. BGH, Beschluss vom 19. September 2013 – IX ZB 16/11 -, juris, Rn. 6) mit verfassungsrechtlich tragfähiger Begründung erneut in der Sache zu entscheiden (vgl. BVerfGE 94, 164 – Sondervotum Sommer m.w.N.; vgl. insgesamt Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 95 Rn. 35 ).
16
Bei ihrer Entscheidung sind die Fachgerichte jeweils an die verfassungsrechtliche Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts gebunden; das frühere, vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte und nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehobene Judikat des Fachgerichts kann deshalb in der von diesem neu zu treffenden Entscheidung nicht für verfassungsmäßig erklärt werden. Jedoch ist der Inhalt der aus dem Tenor folgenden Bindung gegebenenfalls unter Heranziehung der tragenden Gründe einer Entscheidung zu bestimmen (vgl. BVerfGE 1, 14 ; 19, 377 ; 20, 56 ; 24, 289 ; 40, 88 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. April 1996 – 1 BvL 19/95 -, Rn. 2; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 1998 – 1 BvL 10/98 -, Rn. 16; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn. 96 ; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1518 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24. März 1999 – 6 C 9.98 -, BVerwGE 108, 355 ). Davon geht auch das Bundesverwaltungsgericht im Ansatz zutreffend aus, indem es ausführt, die Bindungswirkung erstrecke sich auf die den Feststellungsausspruch nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG tragenden Gründe, soweit diese Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betreffen. Richtig ist ferner, dass das Fachgericht eine vom Bundesverfassungsgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG als grundgesetzwidrig aufgehobene Entscheidung nicht für grundgesetzkonform erklären darf.
17
Mit diesen Ausführungen unvereinbar und unzutreffend ist jedoch die weitere Annahme des Bundesverwaltungsgerichts in dem hier angegriffenen Urteil (a.a.O., Rn. 9), die Bindung an den Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehe unabhängig von dem Inhalt der ihn tragenden Gründe. Dieser Auffassung liegt ein grundlegendes Missverständnis des Beschlusses der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2006 (- 2 BvR 537/05 -, BVerfGK 8, 211) zugrunde. Die Bindungswirkung der Entscheidung des Verfassungsgerichts hindert das Gericht, an das eine Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG zurückverwiesen worden ist, nicht von vornherein daran, mit anderer – verfassungsrechtlich tragfähiger – Begründung zu demselben Ergebnis zu kommen wie in seiner zuvor aufgehobenen Entscheidung. Es darf dabei zwar das Vorliegen des festgestellten Verfassungsverstoßes und die der Feststellung zugrundeliegenden Wertungen (vgl. OLG München, Urteil vom 7. Oktober 1998 – 21 U 3506/98 – NJW-RR 1999, S. 964) nicht mehr in Frage stellen. Das Fachgericht ist jedoch frei, aus anderen als den nach § 31 Abs. 1, § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bindend entschiedenen verfassungsrechtlichen Gründen gleichwohl zum selben Ergebnis zu kommen (vgl. Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, § 95 Rn. 76; derselbe, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 95 Rn. 71). Es darf lediglich nicht – auch nicht mit anderer Begründung – die Entscheidung einer Vorinstanz, die das Bundesverfassungsgericht bereits für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben hat, in dem neuen Rechtszug für (fortbestehend und) verfassungsgemäß erklären. Nur mit dieser Fallgestaltung befasst sich der Kammerbeschluss vom 14. Juni 2006 (a.a.O.), die hier jedoch nicht vorlag, weil die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung waren.
18
(2) Das Bundesverfassungsgericht hat seinem Beschluss vom 17. Dezember 2014 die vom Bundesverwaltungsgericht im ersten Revisionsurteil vom 23. September 2010 (a.a.O., Rn. 6) referierten tatsächlichen Feststellungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde gelegt, soweit sie vom Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil nicht in Zweifel gezogen worden waren. Dazu gehörte insbesondere die Feststellung, bei der Beklagten handele es sich um die einzige jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main. Ob die Beschwerdeführer diese Feststellungen im ersten Revisionsrechtszug in revisionsrechtlich relevanter Weise angegriffen hatten, war vom Bundesverfassungsgericht nicht zu beurteilen. Ebenso wenig war für seine Entscheidung erheblich, ob die Beschwerdeführer die nach Auffassung der Kammer durch die Angabe “mosaisch” wirksam begründete Mitgliedschaft mit ihrer Erklärung vom 11. September 2003 noch wirksam ex tunc beenden konnten, obwohl die durch § 3 der Satzung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main dafür gesetzte Frist von drei Monaten nach dem Zuzug bereits abgelaufen war. Darauf kam es für die verfassungsrechtliche Beurteilung des in jenem Verfahren angegriffenen ersten Revisionsurteils des Bundesverwaltungsgerichts nicht an, weil dieses schon die Begründung der Mitgliedschaft durch eine vom Willen getragene Erklärung in verfassungswidriger Weise verneint hatte. Nur unter diesem Gesichtspunkt hatte das Bundesverwaltungsgericht in seinem ersten Urteil auch das Fehlen einer gemäß der Satzung fristgemäßen Ausschlagung der Mitgliedschaft erörtert mit der (von ihm verneinten) Frage, ob dieses Fehlen als entsprechende Willensäußerung der Beschwerdeführer gedeutet werden könnte (a.a.O., Rn. 16).
19
Es wäre deshalb Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts gewesen, etwaigen von den Beschwerdeführern in revisionsrechtlich zulässiger Weise erhobenen Einwänden gegen die Feststellung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, es gebe nur eine jüdische Ortsgemeinde in Frankfurt am Main, weiter nachzugehen, soweit es diese Einwände nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht im zweiten Revisionsrechtszug nunmehr für erheblich hielt. Auf überörtliche Zusammenschlüsse kam es allerdings nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O., Rn. 71) von vornherein nicht an. Ebenso hätte das Bundesverwaltungsgericht etwaige Einwände der Beschwerdeführer gegen die Wirksamkeit von § 3 der Satzung und die zur Handhabung dieser Bestimmung durch die jüdische Gemeinde vom Verwaltungsgerichtshof getroffenen Feststellungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010, a.a.O., Rn. 6) prüfen können.
20
bb) Dass es darauf nicht näher eingegangen ist, sondern sich an einer eigenen Prüfung durch die Bindungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts gehindert gesehen hat, stellt jedoch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführer im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfGE 112, 1 ). Das Bundesverwaltungsgericht hat etwaiges nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts revisionsrechtlich relevantes Vorbringen der Beschwerdeführer nicht übergangen, sondern dessen Berücksichtigung aus rechtlichen Gründen für ausgeschlossen gehalten.
21
b) Die Beschwerdeführer machen nicht geltend, dass die vom Bundesverwaltungsgericht zugrunde gelegten Maßstäbe zu Inhalt und Grenzen der Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Fall einer Zurückverweisung nach § 95 Abs. 2 BVerfGG sie in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG beziehungsweise aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. im Hinblick auf die Nichtbeachtung der Bindungswirkung durch ein Gericht den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 2004 – 1 BvR 2495/04 -, Rn. 11 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Mai 1987 – 2 BvR 104/87 -, Rn. 41; BVerfGE 40, 88 ; 115, 97 ; vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1544) verletzten. Es kann deshalb dahinstehen, ob eine solche Verletzung hier zumindest möglich ist. Für eine zulässige Rüge der Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG beziehungsweise von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG hätten sich die Beschwerdeführer jedenfalls mit der Auslegung und Anwendung des § 95 Abs. 2 BVerfGG beziehungsweise des § 31 Abs. 1 BVerfGG durch das Bundesverwaltungsgericht auseinandersetzen und darlegen müssen, ob und inwieweit die dargestellte Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts gegen die Verfassung verstößt. Sie gehen jedoch mit dem Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass wegen der Bindung an den Tenor der bundesverfassungsgerichtlichen Kammerentscheidung – ohne Rücksicht auf die Gründe – die Mitgliedschaft der Beschwerdeführer in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main feststehe. Die Möglichkeit, aus anderen als den bindend entschiedenen verfassungsrechtlichen Gründen zu derselben Entscheidung zu gelangen wie im ersten Revisionsurteil, das eine solche Mitgliedschaft als unvereinbar mit der negativen Religionsfreiheit der Beschwerdeführer angesehen hatte, halten sie für ausgeschlossen. Sie zeigen damit gerade nicht auf, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Verweis auf die Bindungswirkung eine erneute Prüfung der Revisionen verweigert und damit einen Grundrechtsverstoß begangen habe.
22
c) Unsubstantiiert ist die Verfassungsbeschwerde auch, soweit die Beschwerdeführer ihre Ausführungen zu Art. 4 Abs. 1 GG aus dem ersten Verfassungsbeschwerdeverfahren wiederholen und sich zur Auslegung von Art. 4 Abs. 1 GG zusätzlich auf Art. 9 EMRK berufen. Denn die Berufung auf Art. 9 EMRK eröffnete dem Bundesverwaltungsgericht keine erneute inhaltliche Prüfung der Sache (vgl. hierzu BVerfGE 74, 358 ; 111, 307 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 – 2 BvR 1380/08 -, Rn. 19; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 – 2 BvR 1170/14 -, Rn. 47). Inhaltlich konnte das Bundesverwaltungsgericht – wie es selbst zutreffend erkennt – keine vom Kammerbeschluss abweichende Entscheidung mit der Begründung treffen, die vom Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegte Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG sei mit Art. 9 EMRK unvereinbar. Dies wäre keine – von § 95 Abs. 1 BVerfGG nicht untersagte – Rechtfertigung des inhaltsgleichen Prozessergebnisses mit anderen Gründen.
23
Ob dies anders zu sehen wäre, wenn nach der Entscheidung der Kammer eine anderslautende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im konkreten Fall ergangen und es für das Bundesverwaltungsgericht darum gegangen wäre, diese Entscheidung in Deutschland gemäß Art. 46 EMRK umzusetzen (vgl. hierzu BVerfGE 111, 307 ; 128, 326 ; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1510, 1530 m.w.N.; Koch, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 31 Rn. 24), bedarf keiner Entscheidung. Zwar führen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als feststellende Judikate keine unmittelbare Änderung der Rechtslage, zumal auf der Ebene des Verfassungsrechts, herbei. Gleichwohl können sie für die Auslegung des Grundgesetzes rechtserhebliche Bedeutung erlangen und sieht sich in einem solchen Fall das Bundesverfassungsgericht auch durch die Rechtskraft einer abweichenden eigenen Entscheidung an einer erneuten Prüfung nicht gehindert. Soweit verfassungsrechtlich entsprechende Auslegungsspielräume eröffnet sind, versucht das Bundesverfassungsgericht wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, Konventionsverstöße zu vermeiden (vgl. BVerfGE 74, 358 ; 83, 119 ; 111, 307 ; 120, 180 ; 128, 326 ; BVerfGK 3, 4 ; 9, 174 ; 10, 66 ; 10, 234 ; 11, 153 ). Welche Auswirkungen eine später ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die Bindungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts für den zweiten Revisionsrechtszug beim Bundesverwaltungsgericht nach Zurückverweisung gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG hätte, kann jedoch offenbleiben, weil eine solche Entscheidung nicht vorliegt.
24
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
25
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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