Medizinrecht

Abschiebungsverbot bei missbräuchlicher Inanspruchnahme des Gesundheitssystems

Aktenzeichen  AN 6 K 18.31284

Datum:
17.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41168
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Ist ein Asylantrag rechtsmissbräuchlich gestellt worden, nur um eine aufwändige Krankheitsbehandlung im Bundesgebiet zu erlangen, ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von einem atypischen Fall auszugehen, so dass dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich ein von diesem auszuübendes Ermessen zukommt, ob es das Abschiebungsverbot feststellt oder versagt. (Rn. 53 – 56)
2. Daran hält die Kammer auch in Ansehung der Beschlüsse des BayVGH vom 18. Mai 2020 (2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) fest. (Rn. 57)

Tenor

1.    Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 25. Januar 2017 verpflichtet, bei der Klägerin über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
2.    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3.    Die Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Ausweislich des zuletzt gestellten Klageantrags wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage nur gegen Ziffer 4 bis 6 des Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 und begehrt nebst entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides die Verpflichtung des Bundesamtes, bei der Klägerin nationalen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
A.
Diese Klage ist zulässig und teilweise begründet.
Diesem Klageantrag ist insoweit stattzugeben, als die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 zu verpflichten ist, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen – soweit die Klägerin eine darüber hinaus gehende Verpflichtung der Beklagten begehrt – ist die Klage jedoch mangels Begründetheit abzuweisen.
Vorliegend sind die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Armeniens bei der Klägerin erfüllt. Aufgrund dessen ist ihre Klage insoweit begründet, als die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf ermessensfehler-freie Neuverbescheidung hat. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes besteht vorliegend jedoch nicht. Damit ist das Verpflichtungsbegehren der Klägerin nur teilweise erfolgreich.
1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.10.2018 – Au 5 K 17.32950). Eine entsprechende Gefahr kann sich auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung dort tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (OVG NW, B.v. 14.6.2005 – 11 A 4518/02.A). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Armenien) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
Gemessen an diesen Maßstäben ist im Fall der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) bei Zugrundelegung ihrer Erkrankungen und der Verhältnisse in ihrem Heimatland Armenien – unter Berücksichtigung der Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um Berg-Karabach und der Corona-Pandemie – vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückführung in das Heimatland auszugehen.
Die Klägerin, deren Schilderung ihrer medizinischen Leidensgeschichte bei Auswertung der vorliegenden vielfältigen ärztlichen Unterlagen im Gegensatz zu den ungereimten Behauptungen von ihr und ihrem Ehemann zu sonstigen Gefährdungen in Armenien glaubhaft ist und deren Gesundheitszustand auch weiterhin gemäß den vorgelegten aktuellen ärztlichen Attesten sowohl in physischer (in direkter Folge der bei ihr vorgenommenen Operationen) als auch v.a. in psychisch-somatischer Hinsicht massiv beeinträchtigt ist, ist zur Aufrechterhaltung des in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Gesundheitszustands auf eine regelmäßige Medikation mit mehreren Präparaten, die sich in ihrer Kombination in ihrem Fall mit den multiplen Verwachsungen im Bauchbereich bei Vorhandensein nur noch einer Niere als ausreichend wirksam und verträglich herauskristallisiert haben, angewiesen. Bei Unterbrechung oder Abbruch dieser Medikation ist bei der Klägerin neben Verstärkung der Schmerzen und der Verdauungs-/Verstopfungsbeschwerden nach den nachvollziehbaren fachärztlichen Attesten insbesondere mit einer Häufung der Anfälle mit Bewusstseinsverlust, die wiederum das Risiko in sich tragen, dabei zu ersticken oder sich beim Sturz (schwerer) zu verletzen, und mit einer Verschlechterung der depressiven Erkrankung hin zu schwerer depressiver Symptomatik und Suizidalität zu rechnen.
In Armenien würde die Klägerin nunmehr folgende wesentliche Verhältnisse antreffen:
Wie aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Berichten der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, eines WIKIPEDIA-Artikels über die Covid-19-Pandemie in Armenien und der Verlautbarung der WKO Österreich zu entnehmen ist, ist auch Armenien heftig von einer ersten Welle der COVID-19-Pandemie erfasst worden. Das bereits vorher finanziell unterversorgte Gesundheitssystem versagte, nur noch Infizierte mit erheblichen Symptomen konnten in die Krankenhäuser aufgenommen werden. Die Pandemie hatte außerdem auch massive Auswirkungen auf das dortige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und die Infrastruktur des schwachen Gesundheitssystems. Die Corona-Pandemie hat in Armenien zu Einkommenseinbußen, Entlassungen und Betriebsschließungen geführt. Nach der obligatorischen Schließung sahen sich Tausende von Menschen in Armenien, die entweder im Ausland – hauptsächlich in Russland – oder als Tagelöhner im Dienstleistungs- und Bausektor, arbeiten, ernsthaften finanziellen Einbußen ausgesetzt (Heinrich-Böll-Stiftung: „Das Coronavirus hat Armenien den Krieg erklärt“ vom 15.6.2020). Schon in Folge der ersten Infektionswelle war die Erkrankungsrate erheblich (z. B. am 7.7.2020: 17.064 Infizierte und 285 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 3 Millionen Menschen). Nach einer Abschwächung der Zahl der täglichen Neu-Infektionen über die Sommermonate ist es aber wieder zu einem starken Anstieg der Infektionszahlen gekommen. Am 6. November 2020 war nunmehr eine Zahl von 110.548 Fällen seit Beginn der Pandemie in Armenien erfasst, davon allein 28.727 erst in den letzten 14 Tagen vom 23. Oktober bis 5. November 2020; die Zahl der erfassten Todesfälle in Zusammenhang mit der Virusinfektion wird zu diesem Zeitpunkt schon mit 1.636 angegeben (Wikipedia-Statistik zu Corona-Fällen in Armenien, abgerufen 11.11.2020).
Zugleich ist nach den allgemeinkundigen Berichten in den Massenmedien die armenische Gesellschaft und Wirtschaft und insbesondere die öffentliche Infrastruktur Armeniens aktuell heftig von den Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach getroffen worden, die Armenien zu einer Mobilisierung seiner Bevölkerung und Ressourcen für die offen entflammten Kampfhandlungen in der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region gezwungen haben und die zuletzt einen für Armenien ungünstigen Verlauf genommen haben. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Kaukasus-Region war Ende September 2020 wieder voll entbrannt. Seit Beginn der Kämpfe wurden nach offiziellen Angaben beider Konfliktparteien mehr als 1.200 Menschen getötet. Tatsächlich dürfte allein die Zahl der Toten aber deutlich höher liegen, so hatte Russlands Präsident Putin schon von fast 5.000 Toten durch die Gefechte gesprochen. Nachdem sich Armenien und Aserbaidschan auch am 30. Oktober 2020 bei Gesprächen nicht auf eine Feuerpause einigen konnten, musste der armenische Regierungschef Paschinjan den russischen Präsidenten Putin offiziell um Hilfe im Konflikt bitten; Paschinjan habe Putin um den Beginn dringender Konsultation gebeten, es solle über Art und Umfang der Hilfe gesprochen werden, die die Russische Föderation Armenien zur Verfügung stellen kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten (vgl. dazu etwa faz.net „Armenien bittet Russland um Hilfe“ vom 31.10.2020). Am 9. November 2020 erklärte Paschinjan dann de facto die Kapitulation Armeniens, der Krieg sei zu Ende. Nach Einschätzung des Präsidenten von Berg-Karabach, Harutjunjan, waren die armenischen Streitkräfte nach 43 Tagen ununterbrochener Kämpfe nicht mehr in der Lage gewesen, Widerstand zu leisten. Der Status der Region Berg-Karabach ist dabei momentan noch nicht geklärt, eine Vertreibung der Armenier von dort noch nicht abgewendet, auch wenn russische Friedenssoldaten einen Korridor zu den Armeniern in Berg-Karabach und die Frontlinie sichern sollen. Bisher schon sind etwa 100.000 Menschen aus Berg-Karabach geflohen, sie fanden Unterkunft in Häusern der Regierung, in Hotels und privat bei Freunden und Verwandten. Dem relativ schnellen Handeln der Regierung und der enormen Solidarität unter den Armenien ist es zu verdanken, dass sich die sozialen Folgen derzeit noch in Grenzen halten. Die Leiterin des Frauenhilfszentrums in …, die als eine von vielen seit Wochen Hilfe für die Geflüchteten organisiert, und viele andere sorgen sich jedoch, dass die Versorgung der Flüchtlinge auf Dauer über ihre Kräfte gehen könnte, zumal die Corona-Pandemie fast ungehindert im Land wütet. Das Virus schwächt nicht nur die Soldaten in Berg-Karabach, es verbreitet sich unter den Flüchtlingen und bei den Beerdigungen für die gefallenen Soldaten und verstorbenen Zivilisten. Die Krankenhäuser können derzeit hunderte Schwerkranke nicht aufnehmen. Die Regierung appelliert mit Plakaten an die Bevölkerung, Masken zu tragen – sie will jedoch nicht die geschwächte Wirtschaft ein zweites Mal mit Einschränkungen drosseln. Die Friedensvereinbarung bringt Armenien auch nur an einer Front etwas Ruhe. Es bleiben enorme Herausforderungen, die das Land allein kaum stemmen kann (so gemäß tagesschau.de, 11.11.2020, „Armenien am Rande des Kollaps“).
In Konsequenz dieser Entwicklungen muss für den Fall der Klägerin, die nicht zur armenischen Oberschicht gehört, durch ihre Erkrankungen schwer gehandicapt ist und auch glaubhaft nicht über ganz besondere einsetzbare finanzielle Ressourcen verfügt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass für sie gegenwärtig und in nächster Zukunft bei Rückführung nach Armenien als neu aus dem Ausland zurückkehrende Person in den Turbulenzen, in die das ohnehin unterentwickelte armenische Gesundheitssystem durch die Pandemie und durch die Versorgung der Opfer des Berg-Karabach-Konflikts geraten ist, die kontinuierliche Versorgung mit der für sie notwendigen Mehrfach-Medikation nicht erfolgt. Schon zu „normalen“ Zeiten hätten die Klägerin und ihre Familie nach der Auskunftslage bei der Sicherstellung ihrer Behandlung damit, dass im armenischen staatlichen Gesundheitssystem nicht alle zugelassenen Präparate immer vorhanden sind, und mit der Erforderlichkeit „inoffizieller“ Zuzahlungen im öffentlichen Gesundheitssektor oder von Zahlungen bei Ersatzbeschaffungen im privaten Sektor zur Erlangung adäquater Behandlung für sie zu kämpfen gehabt. Diese Situation hat sich nunmehr gravierend verschlechtert. Noch abgesehen davon, dass offenbar von vorneherein nicht alle der von der Klägerin in Deutschland eingenommenen Medikamente in Armenien verfügbar sind und es zweifelhaft ist, ob speziell bei ihr mit ihren besonderen körperlichen Einschränkungen wirkungsgleiche Präparate eingesetzt werden können und zu vergleichbaren Behandlungserfolgen führen, ist angesichts der zuletzt eingetretenen krisenhaften Entwicklung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin die kontinuierliche Versorgung mit einer ihr adäquaten Medikation in Armenien verliert und damit zumindest den ärztlicherseits beschriebenen Folgen und Risiken ausgesetzt wird, die wiederum das Erfordernis einer wesentlichen Verschlechterung einer schweren Erkrankung i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllen. Ob die Klägerin mit ihren körperlichen Vorerkrankungen und ihrer Behandlungsnotwendigkeit zudem einer gesteigerten direkten Gefährdung im Rahmen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt wäre, kann dabei noch dahinstehen.
2. Allerdings bedeuten die beschriebenen Gefahren, nachdem kein umfassender Zusammenbruch der öffentlichen und privaten Versorgungsinfrastruktur in Armenien – auch nicht in medizinischer Hinsicht – zu konstatieren ist, angesichts der vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten aus ihrer (Groß-)Familie mit Sicherheit zugleich keine unmittelbar lebensbedrohliche oder sonst schwerst beeinträchtigende Situation für die erkrankte Klägerin oder ihr bloßes „Dahinvegetieren“ nach einer Abschiebung oder den Eintritt humanitärer Ausnahmegründe, die zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprächen, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass auch die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
Abschiebeschutz nach dieser Vorschrift hat das Bundesamt daher rechtsfehlerfrei verneint.
3. Damit sind zwar – wie dargelegt – (allein) die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Annahme der Beklagten hier gegeben. Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich jedoch gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte Ermessen ist bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Jahr 2007 auch nicht mehr der Ausländerbehörde, sondern dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugewiesen (vgl. etwa Bodenbender in GK-AsylG § 24 Rn. 12 f., m.w.N.). Das Bundesamt darf bei seiner Entscheidung zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Regel dementsprechend in solchen Fällen abweichen, in denen die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht mehr gefordert wird (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, 18. Auflage 2017, § 40 Rn. 64 m.w.N.).
Von einer solchen Fallgestaltung ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach der Auffassung des Gerichts (anders: BayVGH vom 18.5.2020 – 2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) aber nunmehr jedenfalls grundsätzlich dann auszugehen, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind. Der Gesetzgeber hat die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern unter Berücksichtigung des jeweiligen Aufenthaltszwecks einer differenzierten gesetzlichen Regelung unterzogen, wobei insbesondere auf den Schutz der Sozial- und Gesundheitssysteme vor etwaigen Belastungen ein besonderes Augenmerk gelegt wird (vgl. etwa § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009). Vor diesem Hintergrund ist gerade nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für solche Konstellationen einen Abschiebeschutz als gesetzlichen Regelfall vorsehen wollte, in denen Ausländer (rechtsmissbräuchlich) über das Asylverfahren eigentlich eine Krankenbehandlung im Bundesgebiet – unter Umgehung des insofern vorgesehenen aufenthaltsrechtlichen Verfahrens – erstreben.
Für die Eröffnung des Verwaltungsermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei derartigen Fällen spricht im Übrigen zugleich die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Sie fallen demnach grundsätzlich nicht unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe im Zielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a AufenthG befunden wird (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – Rn. 13 m.w.N.).
Zwar sind die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen hier nicht erfüllt, die Regelung bestätigt jedoch die Annahme einer Aktivierung des Rest-Ermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der oben dargestellten Missbrauchskonstellation, denn der in Satz 6 als Ausnahme von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausformulierte Tatbestand ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass wegen der nicht durch den individuellen Einzelfall geprägten Umstände, wegen der erheblichen Zahl der in gleicher Weise „Betroffenen“ und wegen der daraus folgenden Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat gerade keine gebundenen Einzelfallentscheidungen erfolgen sollen. Eine vergleichbare Situation, die der Gesetzgeber so nicht bei der erstmaligen Einführung dieser Regelung in das Ausländerrecht und auch nicht bei deren Übernahme in das AufenthG im Jahr 2004 im Blick hatte, sondern sich vielmehr erst danach entwickelt hat, ergibt sich aus dem gehäuften, zielgerichteten, erfolgreichen Missbrauch des Asylverfahrens, allein um sich so wegen des (schwer) defizitären Sozial- und Gesundheitssystems im Herkunftsland Zugang zu den Gesundheits-/Sozialsystemen der Bundesrepublik Deutschland für eine aufwändige Betreuung und Behandlung bei Erkrankungen zu verschaffen. Dieses Phänomen, das bezogen auf das Herkunftsland Armenien nach den Erfahrungen der Kammer schon systematische Züge angenommen hat, ist auch keineswegs auf dieses Herkunftsland beschränkt, sondern hat gerade in den letzten Jahren – mit einem Schwerpunkt bei den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aber beileibe nicht nur dort – immer weiter um sich gegriffen, so dass sich die Vergleichbarkeit mit einer Bevölkerungsgruppe in diesem Sinn aufdrängt (vgl. zu einer direkten Anwendung des damaligen § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG wegen der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in einem Herkunftsland BayVGH, B.v. 21.9.2016 – 10 C 16.1164 – juris). Mithin führen diese Überlegungen ebenso dazu, dass es bei Tatbestandserfüllung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in derartigen (Rechtsmissbrauchs-)Fällen vor der Feststellung eines Abschiebehindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des dort in atypischen Fällen eröffneten Ermessens – ggf. aufgrund ermessenslenkender Vorga ben – von Seiten der Exekutive bedarf, die das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. § 114 VwGO).
An dieser Rechtsauffassung hält die Kammer auch in Ansehung der Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichthofs vom 18. Mai 2020 (2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) fest. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG enthält ausdrücklich eine bloße Soll-Regelung, d.h. wenn die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind, tritt nur im Regelfall die dort genannte Rechtsfolge ein. Dementsprechend ist unter Heranziehung der Gesetzessystematik und des Gesetzeszwecks zu bestimmen, wann bzw. ob konkret für den zu entscheidenden Fall ein vom Regelfall abweichender atypischer Fall besteht, der die im Gesetz vorgegebene Rechtsfolge ausnahmsweise in das Ermessen der entscheidenden Behörde stellt. In diesem Rahmen ist zur Überzeugung der Kammer entgegen der in den oben genannten Beschlüssen des 2. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vertretenen Auffassung darauf abzustellen, ob der/die betreffende Ausländer/in – wie hier die Klägerin – sich den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland lediglich mittels eines rechtsmissbräuchlichen Asylantrags verschafft hat. Denn die Rechtsstellung, die die Klägerin hier geltend macht – ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und damit die weitere Aufenthaltnahme in der Bundesrepublik Deutschland – kann nur dann erlangt werden, wenn sich der/die Betreffende in der Bundesrepublik Deutschland aufhält; denn das Vorliegen oder Geltendmachen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verleiht – anders als bei den asylrechtlichen Tatbeständen – gerade kein direktes Recht auf Einreise und Aufenthaltnahme in der Bundesrepublik Deutschland. Diese behält sich außerhalb des Asylrechts ausländerrechtlich grundsätzlich vor, in einem gesonderten (Visum-)-Verfahren über die Berechtigung zur Aufenthaltnahme anhand des tatsächlichen Aufenthaltszweckes zu entscheiden, bevor der/die Ausländer/in überhaupt in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Mithin darf jedenfalls dann, wenn – wie hier – mit diesem Aufenthalt ganz erhebliche Belastungen der Allgemeinheit einhergehen, bei der Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht außer Acht bleiben, auf welche Weise der/die Ausländer/in den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erlangt hat. Wenn dies – wie hier – mittels eines rechtsmissbräuchlich gestellten Asylantrages erfolgt ist, also eines Asylantrages, bei dem offensichtlich der Zweck der asylrechtlichen Schutzgewährung verfehlt wird, sei es durch eine völlig fehlende Berufung auf potentielle derartige Gründe, sei es durch eindeutig nur vorgeschobene Asylantragsgründe, die den wahren Einreisegrund (Krankheitsbehandlung) verschleiern sollen, verlangen Gesetzeszweck und Gesetzessystematik sowie der Gedanke der Gleichbehandlung mit denen, die bei Erkrankungen nicht den Weg der rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung einschlagen, die Berücksichtigung dessen bei der Entscheidung nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Es liegt so ein atypischer Fall vor, das Rest-Ermessen der Soll-Bestimmung ist eröffnet. Die Exekutive hat dann in Ausübung dieses Ermessens zu prüfen und zu entscheiden, ob die grundsätzlich vorgesehene Rechtsfolge der Bestimmung auch in diesem atypischen Fall eintreten soll. Es ist nicht Sache der Rechtsprechung vorzugeben, wie bei derartigen Konstellationen das Ermessen – sinnvollerweise mittels allgemeiner ermessenslenkender Vorgaben der ministeriellen Ebene – auszuüben wäre; die Ausübung anhand des Gesetzeszweckes und der Gesetzessystematik wird sich jedenfalls wohl grundsätzlich an der Schwere der Folgen der Rückführung für den/die Betroffene/n, die sonstigen Gegebenheiten der Person und deren Verhalten und an den mit der Fortdauer des Aufenthalts des/der Betreffenden verknüpften Folgen für die Belange der Bundesrepublik Deutschland zu orientieren haben. Dies erhellt sich insbesondere auch daraus, worauf die Kammer ebenfalls bei ihrer Rechtsprechung zur Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG unterstützend abstellt (vgl. oben), dass Verhältnisse eingetreten sind, die bei dieser Konstellation der Aufenthaltnahme mittels rechtsmissbräuchlich gestellten Asylantrages die Heranziehung des hinter § 60 Abs. 7 Satz 6 i.V.m. § 60a Abs. 1 AufenthG stehenden Rechtsgedankens im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nahelegen.
Die Klägerin ist hier mit ihrer Familie zur Überzeugung der Kammer nur aus medizinischen Gründen wegen der als unzulänglich erlebten Versorgungssituation im Heimatland in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat gerade deshalb die Aufenthaltnahme bezweckt und dafür das Mittel des Asylantrages – rechtsmissbräuchlich – eingesetzt. Bei den ungereimt und unsubstantiert angedeuteten Umständen einer sonstigen Gefährdung handelt es sich hier nur um ersichtliche Schutzbehauptungen, um die alleinigen Absichten zu bemänteln. Diese Aufenthaltnahme wäre so bei Einhaltung der Vorgaben des ausländerrechtlichen Visum-Verfahrens nicht möglich gewesen. Die Kammer ist davon überzeugt, dass es sich hierbei um einen atypischen Fall der Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt und es daher grundsätzlich der Ausübung des in diesen Fällen eingeräumten Ermessens durch die Exekutive bedarf.
4. Ausnahmsweise ist allerdings – wie auch zu § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG – das Ermessen des Bundesamtes in der skizzierten Missbrauchskonstellation dann zu Gunsten des Asylbewerbers auf Null reduziert, wenn seine Gefährdung nach Abschiebung im Zielstaat das Ausmaß der sogenannten extremen Gefahr (die seit der grundlegenden Entscheidung des BVerwG v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris mit der Formel „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ umschrieben wird) erreicht. Denn dann ist von Verfassung wegen (Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten. Vorstellbar ist andererseits außerdem, dass im Einzelfall das Ermessen auf Null in Richtung auf die Versagung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reduziert ist.
Im Fall der Klägerin liegen hier aber die oben genannten Voraussetzungen für die Eröffnung des Ermessens auf Rechtsfolgenseite vor, ohne dass dieses in der einen oder anderen Richtung auf Null reduziert wäre. Denn zum einen sind hier keine zwingend für die Versagung des Abschiebungsschutzes sprechenden Gründe ersichtlich. Zum anderen erreicht der Gesundheitszustand der Klägerin insbesondere nicht das Stadium der gerade benannten extremen Gefahr (siehe dazu bereits die Ausführungen oben zu § 60 Abs. 5 AufenthG, der sogar nur eine im Vergleich dazu noch etwas geminderte Gefahrenprognose voraussetzt).
5. Mithin ist hier zwar die Verneinung eines Abschiebehindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 bezüglich der Klägerin aufzuheben. Ihr Verpflichtungsbegehren führt jedoch nur zusätzlich dazu, das Bundesamt dazu zu verpflichten, bei ihr über das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (nämlich dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Auffassung des Bundesamtes erfüllt sind) erneut zu entscheiden. Mangels Erfolgs des weitergehenden Verpflichtungsbegehrens auf Feststellung eines Abschiebeverbots ist dabei insoweit aber die Klage im Übrigen abzuweisen.
6. Von Rechts wegen allerdings nicht bestehen bleiben können gegenüber der Klägerin außerdem noch die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017. Diese sind für ihre Person mit aufzuheben, weil – bezüglich Nr. 5 – der Klägerin damit bereits die Abschiebung angedroht ist, obwohl die gemäß § 31 Abs. 5, § 34 Abs. 1 AsylG zwingend vorrangige Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst noch zu treffen ist, und weil – bezüglich Nr. 6 – darin trotz des vordergründigen gesetzlichen Wortlauts in § 11 AufenthG a.F. überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 – juris, LS 1, Rn. 70 ff), die wiederum maßgeblich vom Bestehen einer Abschiebungsandrohung abhängt.
B.
Da somit der hier zur Entscheidung stehenden Klage teilweise stattgegeben wird, erfolgt die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 1, § 155 Abs. 1 VwGO unter Berücksichtigung des Umfangs des Obsiegens hälftig zu Lasten der Beteiligten.
Gerichtskosten fallen nicht an, da das Verfahren gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei ist.
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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