Medizinrecht

Abschiebungsverbot hinsichtlich Aserbaidschan aufgrund Erkrankung

Aktenzeichen  Au 6 K 17.32336

Datum:
4.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 5648
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a
VwGO § 92
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 4, § 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Klageverfahren wird eingestellt, soweit die Klage hinsichtlich einer Anerkennung als Asylberechtigter und auf Gewährung internationalen Schutzes zurückgenommen worden ist.
II. Unter Aufhebung von Ziffer 4 bis 6 ihres Bescheids vom 20. April 2017, soweit sie der folgenden Verpflichtung entgegenstehen, wird die Beklagte verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans festzustellen.
III. Der Kläger hat von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens drei Viertel zu tragen, die Beklagte ein Viertel.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist in ihrem noch aufrecht erhaltenen Teil begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1, Satz 3 ff. AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO), so dass der hierzu ergangene Bescheid der Beklagten vom 20. April 2017 daher im tenorierten Umfang rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu, da diese Norm im Fall – wie hier ausschließlich – geltend gemachter krankheitsbedingter Gefahren durch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gesperrt ist und die Sicherung des Existenzminimums des Klägers im vorliegenden Einzelfall dort indirekt berücksichtigt wird (vgl. unten).
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Die Vorschrift des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK findet nach deutscher Rechtslage nicht auf die besonderen Ausnahmefälle krankheitsbedingter Gefahren (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 175 f.) Anwendung, da der Bundesgesetzgeber solche Fälle in § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG als lex specialis geregelt hat. Dies ist konventions-, unions- und bundesrechtlich nicht zu beanstanden, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 ff. Rn. 16 f.), dessen Feststellung zu einer identischen Schutzberechtigung für den Betroffenen führt (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dabei liegt die Ausgestaltung eines nationalen Abschiebungsverbots allein in der Gestaltungshoheit des nationalen Gesetzgebers, solange er auf der Rechtsfolgenseite keinen mit dem subsidiären Schutz konkurrierenden Schutzstatus einführt (EuGH, U.v. 18.12.2014 – C-542/13 – juris Rn. 42 f.).
2. Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz1, Satz 3 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers vor.
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung und die mit einer Erkrankung verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat verschlimmern, ist in der Regel als am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfende individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 15). Die Gesundheitsgefahr muss erheblich sein; die Verhältnisse im Abschiebezielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, erwarten lassen. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz3 ff. AufenthG nachgezeichnet (vgl. NdsOVG, B.v. 19.8.2016 – 8 ME 87.16 – juris Rn. 4). Nach dieser Bestimmung liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, dass also eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, a.a.O.).
Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, U. v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – juris Rn. 9).
b) Diese Anforderungen sind auch mit Art. 3 EMRK vereinbar: Krankheitsbedingte Gefahren können ausnahmsweise die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllen. Solche Ausnahmefälle können vorliegen, wenn eine schwerkranke Person durch die Aufenthaltsbeendigung auch ohne eine unmittelbare Gefahr für ihr Leben schon wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Aufnahmeland oder weil sie dazu keinen Zugang hat, tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wird, dass sich ihr Gesundheitszustand schwerwiegend, schnell und irreversibel verschlechtert mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 183). Solche Gesundheitsgefahren muss der Ausländer allerdings mit ernst zu nehmenden Gründen geltend machen und daraufhin der Konventionsstaat sie in einem angemessenen Verfahren sorgfältig prüfen, wobei die Behörden und Gerichte des Konventionsstaats die vorhersehbaren Folgen für den Betroffenen im Zielstaat, die dortige allgemeine Situation und seine besondere Lage berücksichtigen müssen, ggf. unter Heranziehung allgemeiner Quellen wie von Berichten der Weltgesundheitsorganisation oder angesehener Nichtregierungsorganisationen sowie ärztlicher Bescheinigungen über den Ausländer (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 186 f. m.w.N.). Dies mündet in eine Vergleichsbetrachtung der Folgen einer Abschiebung für den Betroffenen durch einen Vergleich seines Gesundheitszustands vor der Abschiebung mit dem, den er nach Abschiebung in das Bestimmungsland haben würde. Maßgeblich ist eine nur ausreichende Behandlung, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu verhindern, nicht, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat der medizinischen Versorgung im Konventionsstaat mindestens gleichwertig ist, denn Art. 3 EMRK garantiert kein Recht, im Zielstaat eine besondere Behandlung zu erhalten, welche der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188f . m.w.N.). Die erforderliche Prüfung umfasst auch, inwieweit der Ausländer tatsächlich Zugang zu der Behandlung und den Gesundheitseinrichtungen im Zielstaat hat, wobei die Kosten für Medikamente und Behandlung berücksichtigt werden müssen, ob ein soziales und familiäres Netz besteht und wie weit der Weg zur erforderlichen Behandlung ist (ebenda Rn. 190 m.w.N.). Wenn nach dieser Prüfung ernsthafte Zweifel bleiben, ist Voraussetzung für die Abschiebung, dass der abschiebende Staat individuelle und ausreichende Zusicherungen des Aufnahmestaats erhält, dass eine angemessene Behandlung verfügbar und für den Betroffenen zugänglich sein wird, so dass er nicht in eine Art. 3 EMRK widersprechende Lage gerät (ebenda Rn. 191).
c) Bei dem Kläger ist nach derzeitigem Verfahrensstand unter Berücksichtigung der vorgelegten (fach-)ärztlichen Atteste von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bei Abbruch der laufenden Behandlung auszugehen.
Gemäß dem letzten fachärztlichen Attest (Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 26.9.2018) besteht beim Kläger eine behandlungsbedürftige Erkrankung an Multipler Sklerose. Eine Behandlung mit Cortison und Betaferon sei nicht ausreichend und medizinisch nicht möglich und es habe bereits im Jahr 2016 einen Therapieversuch mit Betaferon gegeben, bei dem es trotz ausreichender Dosierung zu einem schweren Krankheitsschub, der eine Krankenhausaufnahme erforderlich gemacht habe, gekommen sei. Die Behandlung mit Azathioprin entspreche der Wirksamkeit von Betaferon; Methotrexat sei in Deutschland nicht zugelassen. Eine Behandlung mit diesen Wirkstoffen hätte eine ungenügende Kontrolle der Entzündungsaktivität zur Folge, infolgedessen es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Schüben der Grunderkrankung käme. Möglich seien eine Sehnerventzündung mit Erblindung eines oder beider Augen, das Auftreten einer Rückenmarkentzündung mit Gefühlsstörungen, Zunahme der Gangunsicherheit bis hin zu einer Querschnittlähmung, ein kognitiver Abbau und/oder eine Inkontinenz für Urin und Stuhlgang. Auf jeden Fall sei zu erwarten, dass die Erkrankung mit einem zeitlichen Abstand von wenigen Wochen wieder die Aktivität von 2016 erreiche.
Bei Absetzen von Tysabri sei eine massive Verschlechterung mit einer rasch fortschreitenden Behinderung zu befürchten. Eine Weitergabe des Medikaments sei daher unbedingt notwendig (so Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 25.4.2017). Der Kläger ist damit auf die Behandlung mit Tysabri angewiesen.
d) Im vorliegenden Einzelfall ist zur Überzeugung des Einzelrichters davon auszugehen, dass dem Kläger die hierfür notwendige Behandlung in Aserbaidschan tatsächlich, aber nicht finanziell zugänglich ist.
Nach der eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f.) sind sowohl die festgestellten Erkrankungen des Klägers in Aserbaidschan hinreichend behandelbar, als auch die Medikamente ggf. durch Importe erhältlich. Ebenfalls sind Verlaufskontrollen für die Behandlung von Multipler Sklerose (klinisch-neurologische Kontrollen, EEG, Laborkontrollen) problemlos möglich. Die Behandlung im Programm zur Behandlung Multipler Sklerose ist grundsätzlich kostenfrei, ebenso, sofern die Behandlung mit den Medikamenten erfolgt, die im Krankenhaus vorhanden sind, diese Medikamente. Sofern Medikamente von außerhalb verwendet werden sollen/müssen, muss der Patient diese selbst bezahlen.
Auch ist das Medikament Tysabri 300 mg, mit welchem der Kläger derzeit behandelt wird, in Aserbaidschan tatsächlich verfügbar. Nach offiziellen Quellen kostet das Medikament in Aserbaidschan 3989,32 AZN, also ca. 2022 EUR. Es ist jedoch möglich, das Medikament aus dem Iran oder der Türkei zu beschaffen, wo es deutlich günstiger ist als in Aserbaidschan. In der Türkei kostet das Präparat 8000 NTL (ca. 1228 EUR), aus dem Iran beschaffte Präparate sind in Aserbaidschan für 665 AZN (ca. 345 EUR) verfügbar. Die Kosten werden von keinen staatlichen Stellen übernommen, sondern müssen vom Patienten selbst getragen werden.
Damit sind die für die Behandlung erforderlichen Medikamente bzw. Ersatzmedikamente grundsätzlich verfügbar. Einen Anspruch, exakt dieselbe Behandlung wie in Deutschland zu erhalten, hat der Kläger nicht, so dass er auf verfügbare Ersatzmedikamente zu verweisen ist, soweit diese ausreichend sind (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188 f. m.w.N.).
Im vorliegenden Fall ist allerdings nach fachärztlicher Einschätzung davon auszugehen, dass nur Tysabri eine innerhalb vier Wochen und damit zeitnah eintretende erhebliche Verschlechterung bei Abbruch der Behandlung verhindert (so Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 25.4.2017).
e) Im vorliegenden Einzelfall ist zur Überzeugung des Einzelrichters aber nicht davon auszugehen, dass dem Kläger die hierfür notwendige Behandlung in Aserbaidschan finanziell zugänglich ist.
Der Auskunft der Deutschen Botschaft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f.) ist zu entnehmen, dass die ärztliche Behandlung und Medikation im republikanischen Krankenhaus namens Mir-Kasimov in Baku behandelbar ist und zwar seit 2018 in einem speziellen staatlichen Programm und diese kostenlos sei sofern die Behandlung mit den Medikamenten erfolgt, die im Krankenhaus vorhanden sind. Sofern Medikamente von außerhalb verwendet werden sollen/müssen, muss der Patient diese selbst bezahlen. Nach dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 17) besteht in der Republik Aserbaidschan kein staatliches Krankenversicherungssystem; theoretisch gibt es eine alle notwendigen Behandlungen umfassende kostenlose medizinische Versorgung. Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt (was den Krankentransport und die Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus einschließt); mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann aber nach einigen Tagen „auf eigenen Wunsch“ entlassen, wenn sie die Behandlungskosten und „Zuzahlungen“ an die Ärzte und das Pflegepersonal nicht aufbringen können. In diesem Fall erfolgt dann die weitere Behandlung ambulant oder nach Kostenübernahme durch Dritte. Ein privater medizinischer Sektor floriert, erfordert aber eine Bezahlung aus eigenen Mitteln. Der hier eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f.) ist ebenfalls zu entnehmen, dass eine kostenfreie Behandlung nur de jure vorhanden ist. Bei stationärer Behandlung werden die Medikamente von der Klinik zur Verfügung gestellt. De facto ist es jedoch so, dass die Patienten regelmäßig modernere Präparate auf eigene Kosten kaufen. Mithin müsste der Kläger bei ambulanter Versorgung seine Medikamente wie Tysabri zu den o.g. Preisen selbst erwerben. Aber die Kosten für Medikamente (günstigstenfalls von 665 AZN = ca. 345 EUR bei Import aus dem Iran) müssen vom Patienten vollumfänglich selbst bezahlt werden (ebenda).
Wenn der Kläger arbeitsunfähig ist, kann er nach der Auskunftslage zwar eine entsprechende Rente erhalten. Die Rente beträgt aber nur ca. 80-90 EUR pro Monat, was dem offiziellen Existenzminimum in Aserbaidschan entspricht. Auch eine Behindertenrente mit einem deutlich geringeren Betrag könnte beantragt werden, sofern der Kläger weiterhin arbeitsfähig ist. Eine eventuelle monatliche Sozialhilfe beliefe sich auf nur 50-90 AZN (ca. 25-45 EUR). Diese Beträge reichen jedoch bei weitem nicht aus, um neben dem alltäglichen Lebensunterhalt auch die erforderlichen Medikamente zu bezahlen.
Da der Kläger zwar wieder körperlich belastbar und unter Behandlung mit Tysabri arbeitsfähig ist (vgl. Dr. med., Facharzt für Neurologie, Befundbericht, eingereicht am 13.8.2018: ohne Therapie sei der Kläger nicht in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, zum jetzigen Zeitpunkt hingegen schon), ist davon auszugehen, dass er grundsätzlich auf eine Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan verwiesen werden kann, um seinen Lebensunterhalt einschließlich der Medikamentenkosten zu decken.
Gleichwohl hat der Kläger voraussichtlich selbst durch Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan nicht die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt einschließlich der Medikamentenkosten zu decken. Ausweislich seiner Anhörung habe er mangels Schmiergeldzahlung nicht im Banken- und Versicherungswesen arbeiten können, sondern nur als Friseur (BAMF-Akte Bl. 34). Wie er bereits zuvor angegeben hatte und in der mündlichen Verhandlung (Protokoll vom 4.3.2020) auf Fragen des Einzelrichters vertiefte, reichen seine nun auf 300 bis 350 AZN monatlich bezifferten Einkünfte aus der Arbeit in einer Kühlschrankfabrik oder aus einem Friseursalon bei weitem nicht aus, die Mindestbeträge für das voraussichtlich bei günstigstem Import aus dem Iran 665 AZN (in Monatsdosis) teure Tysabri sowie zusätzlich seinen Lebensunterhalt zu decken; auch Renten- oder Sozialhilfezahlungen von ca. 80-90 EUR bzw. 50-90 AZN pro Monat reichen hierfür bei weitem nicht aus. Andere Einnahmequellen des Klägers sind nicht ersichtlich.
Soweit die Beklagte darauf verweist, der vorgelegte Kaufvertrag vom 8. Februar 2013 über eine Wohnung stehe nicht im Zusammenhang mit den Behandlungskosten, denn die Erkrankung des Klägers sei nach seinen Angaben erst im Sommer 2014 aufgetreten; ist dies nach den angegebenen Daten richtig. Allerdings hat der Kläger seine Angabe, die Erkrankung sei im Jahr 2014 aufgetreten, dadurch korrigiert, dass er bereits mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 10. August 2018 eine Bescheinigung eines Krankenhauses in … vorgelegt hat, der Kläger sei von „2013 bis 2015 im Krankenhaus … von einer Neuropathologin […] mit der Diagnose Multiple Sklerose behandelt worden. Dabei seien die Medikamente Methylprednisolon, Methotrexat und Azathioprin verabreicht worden. Unter dieser Behandlung sei es gleichwohl zu Schmerzattacken gekommen. Es sei eine Behandlung mit Tysabri empfohlen worden, wobei es dieses Medikament in Aserbaidschan nicht gebe (VG-Akte Bl. 35 f.). Damit steht fest, dass der Kläger schon im Jahr 2013 und nicht erst im Jahr 2014 an Multipler Sklerose erkrankt ist und ein Zusammenhang des Verkaufs der Wohnung also dadurch nicht ausgeschlossen ist.
Daher ist dem Kläger die notwendige Behandlung seiner Multiplen Sklerose selbst bei Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan aus finanziellen Gründen nicht zugänglich. Zudem ist der Arbeitsmarkt in Aserbaidschan schwierig; die Deutsche Botschaft teilte hierzu mit (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019 S. 2), die wirtschaftliche Lage in Aserbaidschan erhole sich zwar langsam, sei jedoch immer noch schwierig. Personen ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Hilfe haben es in Aserbaidschan – wie auch in anderen Ländern mit vergleichbarer wirtschaftlicher Lage – schwer, eine Arbeit mit ausreichendem Einkommen zu finden; ausgeschlossen ist es jedoch nicht. Bei dieser Sachlage ist nicht davon auszugehen, dass der kranke und begrenzt belastbare Kläger in der Lage wäre, die erforderlichen Einkünfte zu erwirtschaften.
Daher ist im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Beklagte zu Gunsten des Klägers festzustellen.
6. Die Gewährung von Abschiebungsschutz hat zur Folge, dass der streitgegenständliche Bescheid im tenorierten Umfang aufzuheben und von der Beklagten ein Abschiebungsverbot auszusprechen ist. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben. Im Übrigen ist das Verfahren einzustellen.
4. Daher war der teilweise zurückgenommenen Klage im aufrecht erhaltenen Umfang mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, § 155, § 92 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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