Medizinrecht

Abschiebungsverbot nach Jordanien wegen einer posttraumatische Belastungsstörung

Aktenzeichen  M 17 K 15.31388

Datum:
8.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, S. 3
AsylG AsylG § 71

 

Leitsatz

Für einen ungelernten Asylbewerber mit einer Schwerbehinderung, der an einer Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik aufgrund langandauernder Belastungsfaktoren (ICD-10: F43.2) und einer mittelgradigen Depression (ICD-10:F32.1) leidet, ist eine medizinische Behandlung in Jordanien nicht finanzierbar und damit nicht erreichbar. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. Oktober 2015 verpflichtet, festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Jordaniens vorliegt.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die mit Einverständnis der Klagepartei (Schriftsatz vom 7. Dezember 2016) und der Beklagten (allgemeine Prozesserklärung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2016 – Generalerklärung) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet.
Der Kläger hat Anspruch darauf, dass die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids vom 2. Oktober 2015 verpflichtet wird, ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Jordaniens gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (vgl. § 113 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 VwGO).
Die Voraussetzungen des § 71 AsylG i. V. m. § 51 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens liegen hier unbestritten vor, da eine Prüfung von Abschiebungsverboten für den jetzt festgestellten Zielstaat Jordanien noch nicht erfolgt ist. Insbesondere ist der am 15. Februar 2013 gestellte Asylfolgeantrag innerhalb von 3 Monaten ab Kenntnis des Grundes für das Wiederaufgreifen gestellt worden (vgl. § 51 Abs. 3 VwVfG), nachdem dem Kläger erstmalig mit dem psychologischen Befundbericht der Dipl.-Psychologin und Psychologischen Psychotherapeutin Frau …, …, vom … Januar 2013 eine ernste psychische Erkrankung attestiert worden ist. Auf den Asylfolgeantrag des Klägers hin ist die Beklagte auch zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verpflichten, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) beim Kläger aufgrund einer gutachterlich festgestellten schweren psychischen Erkrankung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vorliegt.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Umfasst werden von dieser Vorschrift nur sogenannte zielstaatsbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Die Vorschrift kann einen Anspruch auf Abschiebungsschutz begründen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Herkunftsland wesentlich verschlechtert. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B. v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Eine Gefahr ist „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U. v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8). Der Abschiebungsschutz aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dient hingegen nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Diese Vorschrift begründet insbesondere keinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in der medizinischen Versorgung in Deutschland (vgl. VG Arnsberg, B. v. 23.2.2016 – 5 L 242/16.A – juris Rn. 64 m. w. N.).
Mit der ab dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat auch der Gesetzgeber klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Nach der Gesetzesbegründung kann eine schwerwiegende Erkrankung in Fällen von PTBS regelmäßig nicht angenommen werden, sondern nur ausnahmsweise, wenn die Abschiebung zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führt (vgl. BT-Drs. 18/7538 S. 18).
Zwar begründet eine Selbstmordgefahr, die in Verbindung mit einer bevorstehenden Abschiebung steht, kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, sondern allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, das gemäß § 60a AufenthG gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen ist (BVerfG, B. v. 26.2.1998 – 2 BvR 185/98 – juris). Das Gericht ist aber davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Jordanien wegen seiner psychischen Erkrankung alsbald in eine lebensbedrohliche Situation geraten würde.
Eine lebensbedrohliche Situation ist für den Kläger bei einer Rückkehr nach Jordanien zu befürchten, weil der Kläger an einer Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik aufgrund langandauernder Belastungsfaktoren (ICD-10: F43.2) und einer mittelgradigen Depression (ICD-10:F32.1) leidet und eine medizinische Behandlung des Klägers in Jordanien jedenfalls nicht finanzierbar und damit erreichbar ist.
Das 24 Seiten umfassende psychiatrische Gutachten von Prof. … und Frau … (Klinikum der … für Psychiatrie und Psychotherapie, Abteilung für …) vom … Oktober 2016, das aufgrund des Beweisbeschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 5. April 2016 eingeholt worden ist, kommt nach Auswertung sämtlicher vorhandener medizinischer und sonstiger Unterlagen und einer persönlichen Befragung des Klägers am 25. August 2016 zum Ergebnis, dass beim Kläger zwar keine PTBS, jedoch eine Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik aufgrund langandauernder Belastungsfaktoren (ICD-10: F43.2) und eine mittelgradige Depression (ICD-10:F32.1) vorliegt. Üblicherweise sind Anpassungsstörungen zeitlich limitiert und auf zwei Jahre begrenzt. Sie können allerdings chronifizieren und werden dann entsprechend der vorhersehenden Symptomatik codiert. Die Chronifizierung wird in der Regel durch fortbestehende Belastungsfaktoren bedingt. Das Krankheitsbild ist auf frühkindliche, kindliche (Verlust von regelmäßigen Kontakt zur Mutter, Verlust von Schwester, Körperliche Behinderung und Ausgrenzung infolge dessen) und jugendliche (Flucht von Mutter und Geschwistern, permanente Bedrohung und fehlenden Ressourcen oder Bezugspersonen) Erfahrungen bei langandauernden Belastungsfaktoren zurückzuführen. Insgesamt handelt es sich um ein schwerwiegendes Krankheitsbild mit hohem Leidensdruck, dass eine regelmäßige, langfristige, komplexe therapeutische Begleitung notwendig macht. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Besserung des Befindens des Klägers ist, abgesehen von der Anwendung adäquater Therapiemaßnahmen (soziotherapeutisch und psychotherapeutisch), die Gewissheit einer sicheren und konstanten Umgebung. Die weitere Entwicklung von Ressourcen (seine neu gegründete Familie, aber auch die weitere berufliche Entwicklung) sind nötig für die Erreichung einer emotionalen Stabilität, ohne welche der Kläger weiteren Belastungsreaktionen nicht gewachsen ist und emotional dekompensieren kann. Die Folgen einer solchen Dekompensation sind von vielen anderen Faktoren abhängig und nicht wirklich vorhersehbar, schließen aber Suizidalität ein. Ein Abbruch der bereits begonnenen Therapie kann gravierende Folgen für die Gesundheit des Klägers haben, sie beeinträchtigen und die weitere Stabilisierung verhindern. Die aktuell positive Entwicklung des Klägers kann durch die Ablehnung seines Asylantrags einen Rückschlag erfahren, und zu kopflosem und resignativem Verhalten führen, welches psychiatrisch am ehesten als schwere Depression mit Suizidalität zu klassifizieren ist. Eine Abschiebung würde mit Sicherheit zu einer erheblichen Verschlechterung und einem dauerhaften Schaden seiner psychischen Gesundheit führen.
Dieses fachärztliche Gutachten ist nachvollziehbar und enthält keine Widersprüche oder strukturellen Mängel.
Es bestätigt – mit Ausnahme einer bestehenden PTBS – in wesentlichen Teilen die vorliegenden psychologischen Befundberichte vom … Januar 2013 von …, Dipl. Psychologin/Psychologische Psychotherapeutin, … und vom … August 2015 der Dipl.-Psychologin und Psychotherapeutin …
Es ist zudem nicht davon auszugehen, dass dem Kläger eine adäquate psychiatrische Behandlung einschließlich einer medikamentösen Therapie, auf die der Kläger angewiesen ist, in seinem Herkunftsland Jordanien trotz der prinzipiell existierenden Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung steht. Ausweislich der Auskunft der Deutschen Botschaft in Amman vom … November 2015 sind psychiatrische Erkrankungen und speziell Depressionen zwar grundsätzlich in Jordanien behandelbar. Jedoch wird die Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen generell nicht von der freiwilligen Krankenversicherung abgedeckt (VG Würzburg, U. v. 19.02.2016 – W 2 K 13.30028 – UA S. 15). In der Regel ist eine Behandlung für Mittellose bzw. nicht Krankenversicherte nicht möglich. Eine Behandlung (ebenso eine aufsuchende Behandlung) ist kostenpflichtig.
Gemessen an den vorliegenden Erkenntnissen wäre dem Kläger aufgrund fehlender finanzieller Mittel ein Zugang zu einer aufsuchenden Behandlung und Medikamenten verwehrt. Unter Zugrundelegung der Auskunftslage müsste der Kläger mangels Leistungen durch die Krankenversicherung sowohl die Kosten für eine aufsuchende fachärztliche Betreuung als auch für die Medikation selbst aufbringen. Obwohl er derzeit in Deutschland einer beruflichen Tätigkeit nachgeht und einer seiner Brüder in Jordanien lebt, ist nicht damit zu rechnen, dass der ungelernte Kläger aufgrund seiner Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 50, des Verlusts eines Auges, seiner Herkunft aus dem Westjordanland und seines derzeitigen Gesundheitszustandes in der Lage sein wird, neben seinem Lebensunterhalt die Kosten seiner gesundheitlichen Versorgung zu erwirtschaften. Unter diesen Voraussetzungen wäre es dem Kläger mangels hinreichender finanzieller Mittel nicht möglich, die benötigte psychiatrische Versorgung in Jordanien zu erreichen. Infolgedessen besteht die konkrete Gefahr, dass sich die psychische Krankheit des Klägers in Jordanien erheblich verschlimmert.
Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Jordanien in eine ausweglose Situation geraten würde. Selbst wenn der Gefahr eines Selbstmords im Zusammenhang mit der Abschiebung durch ärztliche Begleitung vor und während der Abschiebung entgegengewirkt werden könnte, besteht bei einer Rückkehr des Klägers nach Jordanien derzeit eine erhebliche konkrete Gefahr für das Leben des aktuell (im Hinblick auf die üblicherweise zeitliche Limitierung der Anpassungsstörung) psychisch kranken Klägers.
Vor diesem Hintergrund bejaht das Gericht beim Kläger das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Der Klage wird daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattgegeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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