Medizinrecht

Absetzbarkeit von Aufwendungen im Zusammenhang mit einer durchgeführter Operation als außergewöhnliche Belastungen

Aktenzeichen  4 K 1023/18

Datum:
1.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StEd – 2021, 120
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
EStDV § 64 Abs. 1 Nr. 2
EStG § 33 Abs. 3
FGO § 100 Abs. 1 S. 1
ZPO § 411a

 

Leitsatz

Ein unschöner Übergang im Bereich des Mons pubis ohne weitere funktionelle Störung stellt im Regelfall keine Erkrankung dar, der die Zwangsläufigkeit der Kosten in tatsächlicher Hinsicht iSd § 33 II 1 EStG begründet.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger zu 15/17 und der Beklagte zu 2/17 zu tragen.
Beschluss
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Gründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der angefochtene Einkommensteuerbescheid 2015 vom 08.11.2016 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 06.03.2017, der Einspruchsentscheidung vom 28.06.2018 und des Änderungsbescheides vom 18.04.2019 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Das Finanzamt hat den Abzug der Aufwendungen für die in der Zeit vom 24.03.2015 bis 28.03.2015 im Universitätsklinikum 1 durchgeführte Operation einschließlich der im Zusammenhang mit Vor- und Nachbehandlungen entstandenen Kosten von 6.598,22 € als außergewöhnliche Belastungen zu Recht versagt, da es sich insoweit um Aufwand handelt, der dem Kläger nicht zwangsläufig im Sinne von § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG entstanden ist.
Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (vgl. BFH-Urteil vom 29.09.1989 III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418).
In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass Krankheitskosten – ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung – dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen (vgl. BFH-Urteil vom 11.11.2010 VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969). Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglich zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl (vgl. BFH-Urteile vom 17.07.1981 VI R 77/78, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711; vom 13.02.1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427 und vom 20.03.1987 III R 150/86, BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596).
Der Begriff der Heilbehandlung in dem hierbei maßgeblichen Sinn umfasst alle Eingriffe und anderen Behandlungen, die nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zu dem Zweck angezeigt sind und vorgenommen werden, Krankheiten, Leiden, Körperschäden, körperliche Beschwerden oder seelische Störungen zu verhüten, zu erkennen, zu heilen oder zu lindern (vgl. Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 20.05.2014, 5 K 1753/13, EFG 2014, 1586). Diese Definition entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zum privaten Krankenversicherungsrecht und der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu dem sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff, an die der Bundesfinanzhof für die steuerrechtliche Betrachtung angeknüpft und die er für die Anwendung des § 33 EStG übernommen hat (vgl. BFH-Urteile vom 13.02.1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427; vom 18.04.1990 III R 38/86, BFH/NV 1991, 27 sowie vom 14.08.1997 III R 67/96, BFHE 183, 561, BStBl II 1997, 732).
Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf (vgl. BFH-Urteile vom 01.02.2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543 und vom 03.12.1998 III R 5/98, BFHE 187, 503, BStBl II 1999, 227). Eine derart typisierende Behandlung der Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten (vgl. BFH-Urteil vom 01.02.2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543). Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 18.06.1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805), also medizinisch indiziert sind (vgl. BFH-Urteile vom 19.04.2012 VI R 74/10, BFHE 237,156, BStBl II 2012, 577 und vom 06.02.2014 VI R 61/12, BFHE 244, 395, BStBl II 2014, 458).
Nicht zu den Krankheitskosten zählen damit vorbeugende Aufwendungen, die der Gesundheit allgemein dienen, und solche, die auf einer medizinisch nicht indizierten Behandlung beruhen. Es handelt sich insoweit vielmehr um Aufwand, der nicht aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG entsteht, sondern auf einer freien Willensentschließung beruht und deshalb gemäß § 12 Nr. 1 EStG den nicht abzugsfähigen Kosten der Lebenshaltung zuzurechnen ist (vgl. BFH-Urteil vom 02.09.2010 VI R 11/09, BFHE 231, 69, BStBl II 2011, 119).
Hiervon ausgehend liegen im Streitfall keine Krankheitskosten vor, die zu zwangsläufigen Aufwendungen im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG führen.
Soweit der Kläger vorträgt, die am 24.03.2015 durchgeführte Fettreduktion im Bereich des Mons pubis stelle eine medizinisch erforderliche Heilbehandlung dar, da er an einer ausgeprägten Rektusdiastase im Bereich des Unterbauchs und Mons pubis sowie an einer lokalisierten Adipositas leide, fehlt es an einem Nachweis der medizinischen Indikation für diesen Eingriff.
Die erforderlichen Feststellungen hat das Finanzgericht nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu treffen. Zwar wird nicht nur das medizinisch Notwendige im Sinne einer Mindestversorgung von der Heilanzeige erfasst, sondern medizinisch indiziert (angezeigt) ist vielmehr jedes diagnostische oder therapeutische Verfahren, dessen Anwendung in einem Erkrankungsfall hinreichend gerechtfertigt (angezeigt) ist (vgl. BFH-Urteil vom 11.11.2010, VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969). Dieser medizinischen Wertung hat die steuerliche Beurteilung zu folgen. Da weder das Finanzamt noch das Finanzgericht die Sachkunde besitzen, um die medizinische Indikation der den Aufwendungen zugrundeliegenden Maßnahme zu beurteilen, ist das Finanzgericht aufgrund seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) gehalten, gegebenenfalls von Amts wegen ein entsprechendes Gutachten zu erheben.
Zur Klärung der Frage, ob die am 24.03.2015 im Universitätsklinikum 1 durchgeführte Fettreduktion im Bereich des Mons pubis eine medizinisch erforderliche Heilbehandlung darstellt, wurde im zivilgerichtlichen Verfahren vor dem Landgericht 1, Az., mit Beweisbeschluss vom 09.11.2016 ein wissenschaftlich begründetes fachärztliches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Dr. J vom Universitätsklinikum 3 eingeholt. In diesem Zivilverfahren klagte der Kläger gegen seine Krankenkasse, die E Krankenversicherungs a.G., um Erstattung der vom Universitätsklinikum 1 und der A-Abrechnungsstelle in Rechnung gestellten Behandlungskosten von zusammen 6.598,22 € zu erlangen. Der Gutachter kam in seinem schriftlichen Gutachten vom 02.03.2017 zu dem Ergebnis, dass die durchgeführte Operation keine bedingungsgemäß medizinisch notwendige Heilbehandlung darstellt. Das Landgericht 1 folgte in seinem Urteil vom 04.04.2019 den Feststellungen des Gutachters und wies die Klage des Klägers insoweit ab, da der Kläger gegenüber der beklagten Versicherung aus dem zwischen den Parteien bestehenden Versicherungsvertrag keinen Anspruch auf Ersatz der für die Behandlung aufgrund stationären Krankenhausaufenthaltes vom 24.03.2015 bis 28.03.2015 angefallenen Kosten einschließlich der Kosten für die Vorbehandlung habe. Die durchgeführte Operation habe keine bedingungsgemäß medizinisch notwendige Heilbehandlung dargestellt. Mit Beschluss vom 29.10.2019 (Az.) wies das Oberlandesgericht 2 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts 1 zurück. Das Oberlandesgericht führte aus, dass entgegen der Ansicht des Klägers die dem Urteil des Landgerichts 1 zugrunde zulegenden Anknüpfungstatsachen ordnungsgemäß festgestellt und gewürdigt worden seien.
Nach § 82 FGO i.V.m. § 411a der Zivilprozessordnung (ZPO) darf das Finanzgericht die schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzen. Entscheidet sich das Gericht für die Verwertung, dann ist das „Fremdgutachten“ als vollwertiger Sachverständigenbeweis zu behandeln (Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 82 Rz 37a). Erachtet das Gericht das Gutachten aus einem anderen Verfahren für ungenügend, dann kann es eine neue Begutachtung durch dieselben oder andere Sachverständige anordnen (§ 82 FGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO). Wie der Wortlaut der §§ 411a und 412 Abs. 1 ZPO („kann“) deutlich macht, steht sowohl die Verwertung des „Fremdgutachtens“ als auch die Einholung eines Zweitgutachtens im Ermessen des Tatsachengerichts. Dieses Ermessen wird nur dann verfahrensfehlerhaft ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung gutachterlicher Stellungnahmen absieht, obwohl sich ihm die Notwendigkeit einer zusätzlichen Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Dies gilt auch für die Einholung eines Zweitgutachtens. Ein solches ist insbesondere dann einzuholen, wenn die Einschätzung des Erstgutachters nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht, widersprüchlich oder von unsachlichen Erwägungen getragen ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 09.05.1996 X B 223/95, BFH/NV 1996, 773; vom 31.10.2002 XI B 43/02, juris-Rechtsprechung; vom 05.05.2004 VIII B 107/03, BFH/NV 2004, 1533 und vom 13.09.2012 III B 140/11, BFH/NV 2013, 38).
Der erkennende Richter übt das ihm nach § 82 FGO i.V.m. § 411a ZPO zustehende Ermessen dahingehend aus, dass im zivilgerichtlichen Verfahren vor dem Landgericht 1, Az. eingeholte fachärztliche Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Dr. J vom Universitätsklinikum 3 vom 02.03.2017 zur Frage, ob die am 24.03.2015 beim Kläger durchgeführte Fettreduktion im Bereich des Mons pubis eine medizinisch erforderliche Heilbehandlung darstellt, im vorliegenden Verfahren zu verwerten und zwar aus folgenden Gründen:
Der Kläger begründet die medizinische Notwendigkeit der streitgegenständlichen Operation sowohl im zivilgerichtlichen Verfahren als auch im vorliegenden Verfahren übereinstimmend im Wesentlichen damit, dass er sich in der Zeit vom 24.03.2015 bis zum 28.03.2015 wegen einer Fettverteilungsstörung im Bereich des Mons pubis behandeln lassen musste. Die Unterbauchfalte sei gerötet gewesen, habe gejuckt und ständig Schmerzen verursacht. Ärztlicherseits sei festgestellt worden, dass diese Schmerzen und die Rötungen vor allem durch die Fettverteilungsstörung und die Adipositas verursacht worden seien. Denn hierdurch hätte ein Überlappen der Hautfalten bestanden. Dieses Vorbringen legt der Gutachter seiner fachärztlichen Begutachtung vom 02.03.2017 zugrunde (vgl. Seite 14 f. des Gutachtens) und setzt sich hiermit im Gutachten (vgl. Seite 28 ff.) eingehend auseinander. Die medizinisch im Gutachten zu beantwortende Frage nach der medizinischen Indikation für diese Operation stellt sich ebenso für die steuerliche Beurteilung der „Zwangsläufigkeit“ der geltend gemachten Aufwendungen im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG, über die im vorliegenden Verfahren zu entscheiden ist. Der medizinischen Wertung hat die steuerliche Beurteilung nämlich zu folgen (vgl. BFH-Urteil vom 11.11.2010 VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969).
Nach den vorgelegten ärztlichen Berichten und Befunden ist der Sachverständige Prof. Dr. Dr. J zu dem Ergebnis gelangt, dass beim Kläger kein Befund von Krankheitswert vorlag, der eine Liposuktion wie auch Dermatolipektomie erfordert hätten. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass vorwiegend lediglich eine Angleichung eines unschönen Übergangs, insbesondere im Schamhügelbereich, angestrebt worden sei. Zu berücksichtigen sei dabei der Umstand, wonach beim Kläger eine funktionelle Störung in diesem Bereich, wie z.B. ein sog. „burried Penis“, die als behandlungsbedürftige Erkrankung angesehen werden könnte, nicht vorgelegen habe. Dabei ist der Sachverständige davon ausgegangen, dass im plastisch-chirurgischen Bereich üblicherweise die alleinige Wahrnehmbarkeit einer Veränderung nach außen hin den Sachverhalt eines Krankheitswertes nicht per se erfüllt. Vielmehr müssten konkrete Krankheitssymtome hinzukommen, um einen medizinisch notwendigen Eingriff von einem rein ästhetisch motivierten Eingriff zu unterscheiden. Hiervon ausgehend hat der Sachverständige im Rahmen seiner Begutachtung festgestellt, dass eine Fettreduktion dem Grunde nach kein probates Mittel darstellt, um nach Gewichtsverlust als alleinige Maßnahme eine Verbesserung zu erreichen. Allein das Absaugen von Fettgewebe könne zwar eine Angleichung erreichen, allerding noch zu weiterer überschüssiger Haut führen und im Einzelfall noch störender sein als die vorher nicht abgesaugte Region. Die Therapie einer nach massiven Gewichtsreduktion eingetretenen Fettschürze am Mons pubis habe durch Straffung des Mons pubis selbst zu erfolgen, was beim Kläger nicht erfolgt sei. Eine Fettabsaugung in diesem Bereich sei nicht als geeignete Therapiemethode anzusehen, insbesondere um das klägerseitig vorgetragene Problem von möglichen Ekzemen zu verbessern. Auch soweit beim Kläger im Rahmen der Operation eine Dermolipektomie vorgenommen wurde, bei der eine Resektion von Haut und Fett stattgefunden haben dürfte, fehlt es nach den Feststellungen des Sachverständigen im Zeitpunkt der Operation auch insoweit an einem hierfür erforderlichen Bund von Krankheitswert. Von den behandelnden Ärzten wurde keine funktionelle Störung im Bereich des Mons pubis dokumentiert. Vielmehr wurde in den Unterlagen des Universitätsklinikums 1, die auch im vorliegenden Verfahren vorgelegt wurden, als Hauptdiagnose beim Kläger eine lokalisierte Adipositas (E65) festgestellt (vgl. Rechnung vom 13.01.2016, Anlage K 10, FG-Akte Blatt 78). Schließlich kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine behauptete sog. Rektusdiastase mit einhergehenden klinischen Symptomen als krankhafter Befund anhand der vorgelegten ärztlichen Behandlungsunterlagen nicht festgestellt werden konnte. Ungeachtet dessen scheidet nach den Ausführungen des Sachverständigen ohnehin bereits ein klinischer Zusammenhang zwischen einer Fettreduktion am Mons pubis und einer Rektusdiastase aus anatomischen Gründen aus, nachdem sich letztere gerade um den Bereich des Bauchnabels herum befindet. Aus gutachterlicher Sicht liegt beim Kläger jedenfalls keine solche Erkrankung vor, die eine medizinisch erforderliche Heilbehandlung in Form einer Fettabsaugung am Mons pubis zwingend dargelegt hätte.
Der erkennende Richter schließt sich den nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. J an und kommt nach eigener Würdigung zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Streitfall nicht von einer medizinischen Indikation für die in der Zeit vom 24.03.2015 bis 28.03.2015 durchgeführte Operation auszugehen ist. Einwände gegen das vorgelegte Sachverständigengutachten vom 02.03.2017 hat der Kläger im hiesigen Verfahren nicht vorgebracht. Dass die ärztliche Einschätzung des körperlichen Zustandes des Klägers durch den Erstgutachter nicht dem Stand der Wissenschaft entsprochen hat, dass dessen Erwägungen unsachlich oder widersprüchlich sind, hat der Kläger weder dargelegt noch gibt es sonst dafür objektive Anhaltspunkte. Der Kläger stützt seine Argumentation für die steuerliche Abzugsfähigkeit der geltend gemachten Aufwendungen nach Vorlage des Gutachtens im vorliegenden Klageverfahren vielmehr auf die starke psychosomatische Belastung des Klägers und die hierdurch begründete Notwendigkeit zum operativen Eingriff.
Die steuerliche Abzugsfähigkeit der Behandlungskosten ergibt sich auch nicht vor dem Hintergrund des Vortrags des Klägers, für ihn habe die behobene Symptomatik auch psychisch erheblichen Krankheitswert, was durch den behandelnden Psychotherapeuten bestätigt worden sei. In psychosomatischer Sicht, so der Kläger, habe es sich um einen medizinisch indizierten chirurgischen Eingriff gehandelt, der den seelisch-körperlichen Beschwerdekomplex günstig beeinflusst und die beginnende soziophobische Entwicklung gestoppt habe.
Nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte, denen sich der erkennende Richter anschließt, ist eine Krankheitsbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V im ästhetischen Bereich nur dann notwendig, wenn ein Krankheitswert gegeben ist. Von einem solchen kann nur ausgegangen werden, wenn der Patient in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder an einer entstellenden Abweichung hinsichtlich seines Äußeren leidet (vgl. BSG-Urteile vom 28.02.2008 B 1 KR 19/07 R, BSGE 100, 199 und vom 19.10.2004 B 1 KR 9/04 R juris-Rechtsprechung).
Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anormalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum „Objekt“ besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist (vgl. BSG-Urteil vom 28.02.2008 B 1 KR 19/07 R, BSGE 100, 199). Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl. BSG-Urteile vom 28.02.2008 B 1 KR 19/07 R, BSGE 100, 199). Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung z.B. das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau oder eine Wangenatrophie oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert (vgl. BSG-Urteil vom 19.10.2004 B 1 KR 27/02, BSGE 93, 252). Dagegen hat das Bundessozialgericht bei der Fehlanlage eines Hodens eines männlichen Versicherten eine Entstellung nicht einmal für erörterungswürdig angesehen (vgl. BSG-Urteil vom 09.06.1998 B 1 KR 18/96, BSGE 82, 158).
Gemessen an diesen Grundsätzen kommt der erkennende Richter nach Durchführung der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass der beim Kläger vorliegende unschöne Übergang im Bereich des Mons pubis keine Erkrankung darstellt, der die Zwangsläufigkeit der Kosten in tatsächlicher Hinsicht im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG begründet.
Wie der sachverständige Zeuge Dr. C in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeführt hat, reagierte die Umwelt auf das Aussehen des Klägers seiner Einschätzung nach ganz normal. Dass der Kläger zum „Objekt“ besonderer Beachtung wurde und quasi schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen viele Blicke auf sich gezogen hat, konnte der Zeuge nicht bestätigen. Die vom Kläger subjektiv als schamhaft empfundene Körperstelle (Schambereich) ist bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen nicht unmittelbar äußerlich sichtbar. Um die Einschätzung des Zeugen hinsichtlich seiner (des Klägers) empfundenen Entstellung einzuholen, hat sich der Kläger – nach den glaubhaften Schilderungen des Zeugen – folglich ausgezogen vor diesen hingestellt und um seine Meinung gebeten. Selbst im ausgezogenen Zustand konnte der Zeuge die vom Kläger empfundene Entstellung nur in gewisser Weise nachvollziehen und sah deshalb keine Notwendigkeit, ihm zu einer Operation zu raten. Soweit der Kläger vorträgt, er habe aus Scham über die als Stigmatisierung erlebte Entstellung Schwimmbadbesuche vermieden, um keine hässliche Hosenbundkontur in der Öffentlichkeit präsentieren zu müssen, hat sich diese Einlassung im Rahmen der Beweisaufnahme nicht erhärten lassen. Vielmehr hat der Zeuge, bei dem der Kläger ein- bis zweimal wöchentlich in Behandlung war, überzeugend ausgeführt, dass es dem Kläger darum ging, bei seinen Schwimmbadbesuchen selbst andere Personen im Bad ungestört beobachten zu können. Nach den umfangreichen und schlüssigen Schilderungen des Zeugen konnte der erkennende Richter nicht den Eindruck gewinnen, dass der Kläger selbst vornehmlich zum „Objekt“ besonderer Beachtung im Schwimmbad, lediglich einem Teilbereich der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, wurde, sondern eigene Beobachtungserwägungen im Vordergrund standen.
Zwar hat der Zeuge im Rahmen der Beweisaufnahme ausgeführt, dass der Kläger an dysmorphischen Störungen gelitten und sich somit ausgeliefert gesehen hat, sich ständig mit seinem Körper zu beschäftigen. Diese Störungen hat der sachverständige Zeuge als eine von anderen nicht wahrnehmbare Vorstellung des Klägers von seinem Körper in Bezug auf bestimmte Körperregionen beschrieben, mithin als eine primär subjektiv empfundene „Entstellung“. Seine Hauptaufgabe hat der Zeuge dahingehend beschrieben, den Kläger psychoedukativ an der Norm zu halten. Das heißt, ihn zu besänftigen, damit die von ihm empfundenen Beschwerden als nicht so dramatisch empfunden werden. Unter anderem hat der Zeuge ihn nach seinen Ausführungen bei Kontakt mit Behörden beraten und dabei vermieden, dass es zu Aggressionen gegen Obrigkeitsvertreter kommt. Gleichwohl hat sich der Kläger nach den ausführlichen Schilderungen des Zeugen immer wieder selbst um chirurgische Eingriffe im ästhetischen Bereich bemüht und hierzu Fachärzte ausfindig gemacht und kontaktiert. Hinsichtlich der vorliegenden Operation im Schambereich hat der Kläger selbst den Kontakt zur plastischen Chirurgie des Universitätsklinikums 1 hergestellt und sich ohne Beratung mit dem Zeugen zur Operation entschlossen. Der Zeuge hat hierzu überzeugend ausgeführt, dass der Kläger ihn lediglich ein einziges Mal mit der von ihm empfundenen Entstellung im Schambereich konfrontiert hat, obwohl er seit vielen Jahren regelmäßig (ca. ein- bis zweimal pro Woche) bei ihm in Behandlung war. Weder hat der Zeuge den Kontakt zu den Chirurgen hergestellt oder einen entsprechenden Arztbrief/ Überweisung verfasst noch den Kläger zu dieser Operation aus psychotherapeutischer Sicht geraten. Nach Einschätzung des Zeugen war der Kläger in Bezug auf die Durchführung von Operationen im plastisch-chirurgischen Bereich sehr eigensinnig. Jedenfalls konnte sich im Rahmen der Beweisaufnahme das Vorbringen des Klägers, die Operation sei das letzte Mittel zur Behebung der Beschwerden des Klägers und damit aus psychosomatischer Sicht notwendig gewesen, nicht bestätigen. Eine solche Annahme hat der Zeuge lediglich als Hypothese eingeschätzt, da seiner Einschätzung nach die Beschwerden des Klägers nicht monokausal fassbar waren. Der Kläger beschreibt sich nach den Angaben des Zeugen als penibel und sensibel und legt damit selbst einen strengen Maßstab hinsichtlich der Makelhaftigkeit seines Körpers an.
Dass die vorliegend vom Kläger als entstellend empfundene Hautfalte am Mons pubis in der psychotherapeutischen Behandlung eine tragende Rolle gespielt hat, konnte sich durch die Beweisaufnahme nicht bestätigen. Die beim Kläger vorgenommenen chirurgischen Eingriffe im ästhetischen Bereich wurden nach den eindeutigen Aussagen des Zeugen vom Kläger selbst veranlasst und stellen sich nicht als Bestandteil einer psychotherapeutischen Behandlung dar. Nach Angabe des Zeugen war die Stelle am Mons pubis kein Behandlungsthema. Die Ängste hinsichtlich der Makelhaftigkeit seines Körpers, die der Kläger nach den Angaben des Zeugen dadurch überkompensiert hat, dass er unerwünschten Kontakt zu Frauen aufgenommen hat und dabei gut aussehen wollte, wären demnach vorrangig mit Mitteln der Psychotherapie zu behandeln gewesen und nicht mit ästhetischen Operationen. Die medizinische Notwendigkeit einer Operation – und damit die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen im Sinne des § 33 Abs. 2 EStG – begründet die vom Kläger vorgetragene psychische Belastung jedoch nicht.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 143 Abs. 1, 136 Abs. 1 FGO. Dem Klagebegehren wurde mit Änderungsbescheid vom 18.04.2019 teilweise abgeholfen, weshalb es zu einer Kostenteilung kommt.


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