Medizinrecht

Altersfeststellung eines unbegleiteten ausländischen Kindes bei einer Inobhutnahme

Aktenzeichen  M 18 E 18.2468

Datum:
28.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 27198
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
SGB VIII § 42a, § 42f

 

Leitsatz

Das Jugendamt hat bei Vorliegen eines Zweifelsfalles eine ärztliche Untersuchung über die Minderjährigkeit des Kindes oder Jugendlichen durchzuführen, bevor sie eine vorläufige Inobhutnahme wegen Volljährigkeit ausschließen kann. Zweifel bei der Feststellung des Alters liegen vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 50450). (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird einstweilen verpflichtet, den Antragssteller vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger, reiste am … … … in die Bundesrepublik Deutschland ein und gab an, einen Asylantrag stellen zu wollen und am … … … geboren zu sein.
Er wurde daraufhin in die Aufnahmeeinrichtung … … … in … verbracht. Am 14. Mai 2018 fand ein Alterseinschätzungsgespräch bei der Antragsgegnerin statt. Der Antragsteller gab an, keine Personal-Dokumente besessen zu haben und vorlegen zu können. Er habe sein Zuhause mit 14 Jahren verlassen; er sei damals in der 7. Klasse gewesen, diese habe er nicht beendet. Er sei ca. zweieinhalb Jahre auf der Flucht gewesen. Sein Vater sei vor drei oder vier Jahren gestorben, er sei damals in der 4. Klasse und ca. 12 Jahre alt gewesen. Als Ergebnis des Alterseinschätzungsverfahrens wurde festgehalten, dass der Antragsteller volljährig sei.
Mit Bescheid vom gleichen Tag wurde eine Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII abgelehnt. Als Begründung wurde angegeben, dass das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers markant sei, er unreine Haut, drei starke Stirnfalten, drei durchgezogene Halsfalten sowie einen ausgewachsenen Körperbau habe. Seine Angaben seien inhaltlich grob stimmig, würden jedoch nicht zum äußeren Erscheinungsbild passen. Sein Verhalten sei selbstbewusst, er könne sich gut vertreten und rede auf Augenhöhe. Dies sei ein passendes Verhalten für einen Erwachsenen. Der Bescheid wurde dem Antragsteller ausgehändigt.
Am 17. Mai 2018 erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München auf Aufhebung des Bescheids des Antragsgegners vom 14. Mai 2018 sowie die Verpflichtung, den Antragsteller gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 und § 42a Abs. 1 Satz 1 und § 42f SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen (M 18 K 18.2344).
Am 22. Mai 2018 beantragte er zudem zur Niederschrift,
die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO verpflichtet, den Antragsteller vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
Als Begründung gab der Antragsteller an, dass die Ablehnung der Inobhutnahme falsch sei. Er sei tatsächlich noch minderjährig. Er sei jederzeit bereit, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Des Weiteren gab der Antragsteller an, dass er nunmehr in … untergebracht sei.
Mit Schreiben vom 23. Mai 2018 übersandte der … … e.V. im Auftrag des Antragstellers eine ärztliche Bescheinigung der „… … …“ vom 22. Mai 2018. Dort wird ausgeführt, dass nach der medizinischen Einschätzung die Volljährigkeit nicht zweifelsfrei gegeben und eher in Frage zu stellen sei. Zur forensischen Alterseinschätzung sei somit eine detaillierte Untersuchung durch einen rechtsmedizinischen Arzt unumgänglich.
Aufgrund des Wohnortwechsels des Antragstellers nahm das Gericht nach gerichtlichem Hinweis von Amts wegen zunächst einen Wechsel des Beklagten und Antragsgegners vor.
Mit Schreiben vom 20. Juni 2018 teilte die Antragsgegnerin mit, dass sich der Antragsteller aufgrund eines Verwaltungsversehens wieder in einer Einrichtung der … … aufhalte. Antragsgegnerin sei daher nunmehr wieder die … … Aufgrund des erneuten Wohnortwechsels des Antragstellers nach … wurde wiederum von Amts wegen ein Wechsel des Beklagten und Antragsgegners vorgenommen.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte vor und stellte den Antrag,
den Antrag abzuweisen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass man weiterhin von der Volljährigkeit des Antragstellers ausgehe. Die Volljährigkeit des Antragstellers sei in einem eineinhalb Stunden dauernden Gespräch von drei sehr erfahrenen Mitarbeitern der Antragsgegnerin durchgeführt worden. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme beruhe dabei nicht allein auf der Beurteilung bestimmter äußerlicher Merkmale; vielmehr werde in einem ausführlichen sozialpädagogischen Gespräch das Alter eingeschätzt. Die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen seien dabei beachtet worden. Die Entscheidung des BayVGH (Az. 12 CE 14.1833) führe zu keinem anderen Ergebnis, da keine Alterseinschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale vorgenommen worden sei. Die Bewertung und Entscheidung der Alterseinschätzung sei auf der Basis des äußeren Erscheinungsbildes, des Verhaltens und der Angaben der befragten Person erfolgt. Der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f SGB VIII habe es vorliegend nicht bedurft, da weder ein Antrag des Betroffenen bzw. seines Vertreters, noch ein Zweifelsfall vorgelegen habe. Der Verzicht auf medizinische Komponenten sei ermessensfehlerfrei erfolgt.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2018 übersandte die Stadt … ergänzende Unterlagen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren M 18 K 18.2344 sowie den vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag des Antragstellers ist zulässig und begründet.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zu Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheinen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohenden Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach § 42a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen.
Anspruchsberechtigt nach den vorgenannten Normen sind ausschließlich Kinder und Jugendliche. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist im Sinne des SGB VIII Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Volljährige dürfen dahingegen nicht in Obhut genommen werden.
Die Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme durch die Antragsgegnerin aufgrund der von ihr festgestellten Volljährigkeit ist rechtswidrig, da sie das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f SGB VIII nicht vollständig durchgeführt hat.
Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen einen ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Die Antragsgegnerin führte eine solche qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII am 14. Mai 2018 durch und kam zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller als volljährig angesehen und daher eine vorläufige Inobhutnahme mit Bescheid vom 14. Mai 2018 abgelehnt werde. Die Antragsgegnerin hat jedoch von Amts wegen wegen des Vorliegens eines Zweifelsfalles angesichts der nicht offensichtlichen Volljährigkeit des Antragstellers eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII durchzuführen, bevor sie eine vorläufige Inobhutnahme wegen Volljährigkeit des Antragstellers ausschließen kann. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinen Beschlüssen vom 16. August 2016 (Az. 12 CS 16.1550 – juris) und vom 18. August 2016 (12 CE 16.1570 – juris) das Tatbestandsmerkmal des Zweifelsfalls in § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ausgelegt. Dementsprechend liegen Zweifel bei der Feststellung des Alters vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamtes kann allenfalls dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein sich Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigenen Unkenntnis von seinem genauem Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss. In allen anderen Fällen ist vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, sodass das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII veranlassen muss. Angesichts der erheblichen Schwankungsbreiten medizinischer Untersuchungsmethoden von bis zu fünf Jahren, wird es darüber hinaus eines „Sicherheitszuschlages“ von weiteren zwei bis drei Jahren bedürfen, wenn die Antragsgegnerin zur Auffassung kommt, dass der Antragsteller gerade als volljährig geworden einzuschätzen ist, um dem Kindeswohl angemessen Rechnung zu tragen und jeder vermeidbaren Fehlbeurteilung entgegenzuwirken (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2016 – 12 CS 16.1550 – juris Rn. 23f und BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 19f).
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist im vorliegenden Fall ein ärztliches Gutachten gem. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII von der Antragsgegnerin zu veranlassen. Hierbei kommt es entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht darauf an, ob lediglich die körperlichen Merkmale des Antragstellers in Augenschein genommen wurden oder sein Verhalten und seine Aussagen auch miteinbezogen wurden, da nach Ansicht des BayVGH lediglich das Aussortieren von ganz offensichtlichen Fällen der Volljährigkeit durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII bezweckt wird (BayVGH a.a.O.).
Es erscheint jedoch angesichts des in der Akte vorliegenden Fotos nicht in jeglicher Hinsicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller minderjährig sein könnte. Die Angaben des Antragstellers sind auch in sich schlüssig und stehen nicht im Widerspruch zu der Altersbehauptung des Antragstellers. Darüber hinaus scheint auch die Antragsgegnerin zumindest Zweifel an ihrer eigenen Altersfeststellung zu haben. So wird in einem Aktenvermerk der Stadt … über ein Telefonat vom 6. Juni 2018 festgehalten, dass eine Mitarbeiterin des Jugendamtes der Antragsgegnerin mitgeteilt habe, dass der Antragsteller von der Stadt … in Obhut genommen werden müsse. Der Antragsteller habe offensichtlich eine falsche Alterseinschätzung erhalten und sei minderjährig. Ergänzend hierzu erfolgte eine Faxübersendung an die Stadt … Diese Dokumente finden sich zwar (für das Gericht nicht nachvollziehbar) nicht in der von der Antragsgegnerin vorgelegten Behördenakte, jedoch in der von der Stadt … vorgelegten Akte. Schließlich begründet auch die von dem Antragsteller vorgelegte ärztliche Bescheinigung eines Facharztes für Allgemeinmedizin der „…“ Zweifel an der Volljährigkeit.
Der Antragsteller konnte auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen.
Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, bis zur ordnungsgemäß durchgeführten Alterseinschätzung einstweilen in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene zu verbleiben, da eine Unterbringung dort und eine solche in einer Jugendhilfeeinrichtung oder einer Pflegefamilie nicht annähernd gleichwertig sind (BayVGH, B. v. 23.9.2014 – 12 CE 14. 1833 – juris Rn. 26) und den Antragsteller erheblichen Gefahren aussetzen könnte.
Das Verfahren nach § 123 VwGO intendiert, dass das Gericht die Lage offen hält, um zu vermeiden, dass das Recht des Antragstellers bzw. der Antragsgegnerin bis zu einer Klärung im Hauptsacheprozess untergeht oder seine Durchsetzung wegen des Zeitablaufes mit wesentlichen Nachteilen verbunden ist. Die gerichtliche Entscheidung bewegt sich also zwischen den Polen der Vorwegnahme der Hauptsache zulasten der Behörde und der Vorwegnahme der Hauptsache zulasten des Antragstellers. Je stärker der Anordnungsgrund, vor allem in der Rechtsbetroffenheit des Antragstellers weist, desto eher ist eine Vorwegnahme zulasten der Behörde zulässig (vgl. Eyermann, VwGO Kommentar, 13. Auflage, 2010, § 123 Rn. 66a). Der Antragsteller ist als unbegleiteter, möglicherweise Minderjähriger durch die Unterbringung in einer Einrichtung für Erwachsene in einem ihm möglicherweise zustehenden völkerrechtlich verbürgten Anspruch auf staatlichen Schutz, Betreuung und Bildung unter vorrangiger Berücksichtigung des Kindswohls (Art. 3, 20, 28 der UN-Kinderrechtskonvention) bis zum Zeitpunkt der Hauptsacheentscheidung stark beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden und ist daher stark zu gewichten, so dass eine vorläufige Entscheidung zu Gunsten des Antragstellers zu treffen war.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.


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