Medizinrecht

Anerkennung einer akuten schweren Migräneattacke als wichtigen Säumnisgrunds für die Ärztlichen Prüfung

Aktenzeichen  M 16 K 16.2193

Datum:
24.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ApprOÄ ApprOÄ § 18 Abs. 1 S. 1, S. 4, § 19 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 2 S. 2
GG GG Art. 12 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Eine akute schwere Migräneattacke kann einen zur Prüfungsunfähigkeit führenden wichtigen Grund iSd § 19 Abs. 1 S. 2 ApprOÄ darstellen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Einholung eines ärztlichen bzw. amtsärztlichen Attests am Prüfungstag selbst kann nicht verlangt werden, wenn der Prüfling gesundheitlich dazu nicht in der Lage war. (redaktioneller Leitsatz)
3 Hat ein behandelnder Arzt unmittelbare Eindrücke der Erkrankung festgehalten, so kann eine spätere Untersuchung durch den Amtsarzt weniger beweiskräftig sein. Ist die Krankheit bereits abgeklungen, kann der Amtsarzt die ärztlichen Feststellungen nur noch auf ihre Plausibilität begutachten. (redaktioneller Leitsatz)
4 Eine Erklärung von Säumnisgründen ist nur dann nicht unverzüglich, wenn sie nicht zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie vom Prüfling unter Berücksichtigung des Krankheitsverlaufs in zumutbarer Weise hätte erwartet werden können (ebenso BVerwG NVwZ 1999, 188 (189)). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Beklagten vom 12. April 2016 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, die Säumnis des Klägers vom schriftlichen Teil des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 15. und 16. März 2016 aus wichtigem Grund zu genehmigen und das Prüfungsverfahren fortzusetzen.
II.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Prüfungsamts Medizin der LMU vom 12. April 2016 seine Säumnis vom schriftlichen Teil des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 15. und 16. März 2016 aus wichtigem Grund genehmigt und das Prüfungsverfahren fortgesetzt wird (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat einen wichtigen Grund für sein Versäumnis des Prüfungstermins für die zweite Wiederholung des schriftlichen Teils des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 15. und 16. März 2016 im Sinne von § 19 Abs. 1 Satz 1 ÄAppO geltend gemacht. Ein Rücktritt setzt regelmäßig eine Entscheidung und Erklärung des Prüflings voraus, nicht (weiter) an der Prüfung teilzunehmen oder die bereits abgeleistete Prüfung nicht gegen sich gelten lassen zu wollen. Die Säumnis hingegen bedeutet die tatsächliche Nichtteilnahme an der Prüfung oder einem Prüfungsteil, ohne dass der Prüfling zuvor den Rücktritt erklärt hat oder erklären kann. Dem Kläger ging es mit seinem Schreiben vom 16. März 2016 um die Mitteilung, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen der Prüfung an den beiden Prüfungstagen tatsächlich nicht hatte unterziehen können.
Versäumt ein Prüfling einen Prüfungstermin, so hat er den Prüfungsabschnitt oder Prüfungsteil nicht bestanden, es sei denn, es liegt ein wichtiger Grund für dieses Verhalten des Prüflings vor. In diesem Fall gilt der Prüfungsabschnitt oder Prüfungsteil als nicht unternommen (vgl. § 19 Abs. 1 ÄAppO). Die Entscheidung darüber, ob ein wichtiger Grund vorliegt, trifft die nach Landesrecht zuständige Stelle. § 18 Abs. 1 Satz 1 und 4 ÄAppO gilt entsprechend (vgl. § 19 Abs. 2 ÄAppO). Gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 ÄAppO hat ein Prüfling, der nach seiner Zulassung von einem Prüfungsabschnitt oder einem Prüfungsteil zurücktritt, die Gründe für seinen Rücktritt unverzüglich der nach Landesrecht zuständigen Stelle mitzuteilen. Diese Stelle kann im Falle einer Krankheit die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung auch durch einen von ihr benannten Arzt verlangen (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 4 ÄAppO).
Für die Säumnis des Klägers lag ein wichtiger Grund im Sinne von § 19 Abs. 1 Satz 2 ÄAppO vor. Nach Überzeugung des Gerichts war der Kläger an beiden Prüfungstagen wegen einer akuten schweren Migräneattacke nicht prüfungsfähig.
Der Umstand, dass der Kläger bereits seit Jahren an einer schweren Migräne leidet, war bereits durch ärztliche bzw. fachärztliche Atteste vom 26. Juli 2012 und vom 20. August 2013 belegt worden. Dies wird von Seiten des Beklagten auch nicht bestritten. Zuletzt führte die den Kläger bis zu ihrer Pensionierung im Dezember 2013 behandelnde Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in ihrer Stellungnahme vom 22. November 2016 hierzu nochmals konkret aus, dass der Kläger seit seinem ca. 20. Lebensjahr an einer „Migräne accompagnée“, einer sogenannten komplizierten Migräne (ICD 10 G 43.3) leide.
Das Gericht sieht es auch als hinreichend belegt an, dass der Kläger am Morgen des 15. März 2017 eine anhaltende schwere Migräneattacke erlitt, mit der Folge, dass er an beiden Prüfungstagen nicht prüfungsfähig war.
Wie in der fachärztlichen Stellungnahme vom 22. November 2016 weiter ausgeführt wurde, manifestiert sich die diagnostizierte Erkrankung bei dem Kläger vereinzelt in schweren Migräneattacken mit folgendem Ablauf: Im Rahmen einer prolongierten Auraphase komme es zu neurologischen Ausfällen von ein bis drei Stunden und darauffolgenden massiven, langanhaltenden Schmerzattacken. An neurologischen Ausfällen hätten sich häufig Sehstörungen in Form eines Bildzerfalls mit Fortifikationen, aber auch passagere Gesichtsfeldeinschränkungen gefunden. Die Attacken hätten einen schweren Krankheitscharakter und ermöglichten keinerlei Tätigkeiten, da auch die „konitiven Funktionen“ eingeschränkt seien. Der Migränekopfschmerz könne bis 72 Stunden anhalten. Der Patient müsse sich in einen abgedunkelten Raum zurückziehen. Der Facharzt für Neurologie, bei dem sich der Kläger notfallmäßig am 15. März 2016 in Behandlung begeben hatte, hatte laut der Ärztlichen Bescheinigung vom 18. März 2016 festgestellt, dass der Kläger aufgrund der Migräneattacke mit begleitenden Sehstörungen und Konzentrationsstörungen am 15. März 2016 nicht prüfungsfähig war. Zuletzt hat der Kläger noch einen ausführlicheren Bericht des Facharztes vom 29. November 2016 über seine Vorstellung bei diesem am 15. März 2016 vorgelegt. Zur Anamnese führt der Facharzt darin aus, der Kläger habe sich am 15. März 2016 notfallmäßig in seiner Sprechstunde vorgestellt. Anamnestisch sei zu erfahren gewesen, dass der Kläger am Morgen wegen massiver Sehstörungen, Schwindel, Übelkeit und kognitiven Beeinträchtigungen über längere Zeit in der Tiefgarage im Auto habe verbleiben müssen, da er nicht mehr habe laufen können. Eine Migräneerkrankung sei bekannt. Eine schwere und langanhaltende Auraphase habe er schon länger nicht mehr gehabt. Die Sehstörungen seien anhaltend. Aufgrund eines Beckenvenenstents sei er antikoaguliert und mache sich Sorgen wegen einer möglichen Hirnblutung. Zum Untersuchungsergebnis wurde weiter ausgeführt, es hätten sich in der neurologischen Untersuchung keine Hinweise auf eine Hirnblutung gefunden. Ein Verschluss der intra- sowie extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße habe durch eine sonographische Untersuchung ausgeschlossen werden können. Es hätten sich jedoch Beeinträchtigungen in Form von Sehstörungen, Skotome sowie Fortifikationen, eine für die Migräne mit Aura (ICD 10 G 43.1) typische Symptomatik mit neurologischen Reiz- und Ausfallerscheinungen gefunden. Der formale Gedankengang sei erschwert und verlangsamt gewesen im Sinne eines neuropsychologischen Defizits. In der Beurteilung sei der Kläger durch diese krankhafte Beeinträchtigung nicht in der Lage gewesen, an der Physikumsprüfung am 15. März 2016 ordnungsgemäß teilzunehmen. Dies gelte sicherlich auch für den 16. März 2016 (2. Prüfungstag) aufgrund der sich anschließenden Kopfschmerzphase mit teilweise vernichtenden Kopfschmerzen und anschließender Schlafphase. Der Kläger selbst hat in seiner schriftlichen Dokumentation im Rahmen des Klageverfahrens angegeben, die Kopfschmerzen hätten sich nach dem Arztbesuch so massiv verstärkt, dass er sich ins Bett habe legen müssen. Erst am 16. März 2016 sei es zu einer leichten Besserung der Symptomatik gekommen, so dass er dann, um die Unverzüglichkeit zu wahren, den „Rücktritt“ angezeigt habe. Bei der amtsärztlichen Untersuchung am 17. März 2016 wurden noch ein leichter Kopfschmerz sowie eine erhöhte Blendempfindlichkeit festgestellt. Zwar konnte von dort eine zur Prüfungsunfähigkeit führende Symptomatik rückwirkend weder festgestellt noch ausgeschlossen werden, es wurde jedoch festgestellt, dass durch das vorgelegte Attest (vom 18. März 2016 über die fachärztliche Untersuchung am 15. März 2016) Gesundheitsstörungen belegt seien, die eine Prüfungsunfähigkeit für den 15. März 2016 wahrscheinlich erscheinen ließen.
Zwar hat sich der Kläger am 16. März 2016 keiner weiteren ärztlichen Untersuchung unterzogen. In Anbetracht des ärztlich geschilderten typischen Verlaufs einer schweren Migräneattacke (langanhaltende Schmerzattacken mit schwerem Krankheitscharakter, die keinerlei Tätigkeiten ermöglichen sowie auch Einschränkung der „konitiven Funktionen“) ist der Vortrag des Klägers plausibel, dass er gesundheitlich hierzu nicht in der Lage war. Es bestehen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dieser Vortrag des Klägers nicht zutreffend wäre. Wenn er demnach gesundheitlich nicht dazu in der Lage war, sich am 16. März 2016 einer ärztlichen bzw. amtsärztlichen Untersuchung (zur Feststellung der Prüfungsunfähigkeit) zu unterziehen, war es ihm auch nicht möglich bzw. jedenfalls nicht zumutbar, ein entsprechendes ärztliches bzw. amtsärztliches Attest einzuholen, so dass ein solcher Nachweis von ihm auch nicht verlangt werden kann. Eine nachträgliche Feststellung der Prüfungsunfähigkeit war bereits am 17. März 2016 nicht mehr möglich, wie sich aus dem amtsärztlichen Gesundheitszeugnis über die Untersuchung des Klägers an diesem Tag ergibt. Ein Abklingen der Symptome der Migräneattacke bis zu diesem Zeitpunkt war auch nach der fachärztlichen Schilderung eines typischen Verlaufs plausibel.
Dementsprechend kann dem Kläger auch eine „verspätete Vorstellung“ bei dem Gesundheitsamt nicht entgegengehalten werden. Eine aktuelle, zur Prüfungsunfähigkeit führende Symptomatik war am 17. März 2016 nicht mehr feststellbar. Der Kläger hat zwar formal damit der entsprechenden Auflage bezüglich der Vorlage eines amtsärztlichen Attests nicht genügt, er hat diesbezüglich jedoch hinreichend glaubhaft gemacht, dass er zu einer früheren Vorstellung im Gesundheitsamt aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war. Somit ist davon auszugehen, dass der Kläger auch der Attestauflage unverzüglich nachgekommen war. Bei abklingenden Krankheitserscheinungen ist dabei Folgendes zu berücksichtigen: Hat zum Beispiel der (private) Notarzt unmittelbare Eindrücke festgehalten, so kann die spätere Untersuchung durch den Amtsarzt, bei der die Krankheitsbescheinigungen möglicherweise bereits abgeklungen sind, weniger beweiskräftig sein als die ursprüngliche Bekundung des Notarztes, die der Amtsarzt sodann nur noch auf ihre Plausibilität begutachten kann. Dies darf aber nicht zulasten des Prüflings gehen, der sich in der für ihn zumutbaren Weise um den Nachweis seiner Prüfungsunfähigkeit bemüht hat. Im Übrigen reicht es grundsätzlich aus, wenn der Amtsarzt feststellt, dass die ihm vorliegenden Angaben über die (abgeklungenen) Beschwerden nach dem gegenwärtigen Befund glaubhaft sind. Kann der Amtsarzt die privatärztliche Diagnose zwar nicht durch einen immer noch gegenwärtigen („Rest“-) Befund hinreichend stützen, aber deren Richtigkeit auch nicht in Frage stellen, müssen die privatärztlichen Erkenntnisse ergänzend herangezogen werden, wenn die Verzögerung der Begutachtung durch den Amtsarzt dem Prüfling nicht angelastet werden kann (vgl. Niehues/Fischer, Prüfungsrecht, 5. Aufl. 2010, Rn. 281; vgl. auch BayVGH, U. v. 1.4.1992 – 7 B 91.3037 – juris Rn. 29, wonach es grundsätzlich ausreichend ist, wenn der Amtsarzt feststellt, dass die Angaben des Prüflings nach dem gegenwärtigen Befund glaubhaft sind, wenn während der akuten Phase der Erkrankung ein amtsärztliches Attest nicht erlangt werden kann). Auch in den formblattmäßigen Hinweisen des Prüfungsamts zu den Mindestanforderungen an ein (amts-)ärztliches Attest wird im Übrigen ausgeführt, dass die Untersuchung „grundsätzlich am Tag der geltend gemachten Prüfungsunfähigkeit erfolgt sein soll“, so dass es auch demzufolge zu Ausnahmen hiervon kommen kann.
Auch die „Rücktrittserklärung“ des Klägers bzw. die Geltendmachung eines wichtigen Grunds für die Säumnis gegenüber dem Prüfungsamt ist angesichts des Krankheitsverlaufs nicht verspätet erfolgt.
Säumnisgründe sind dem Prüfungsamt vom Prüfling unverzüglich mitzuteilen (vgl. § 19 Abs. 2 Satz 2 ÄAppO i. V. m. § 18 Abs. 1 Satz 1 ÄAppO). Eine Verletzung der Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung hat regelmäßig zur Folge, dass es für den Prüfungsabschnitt oder Prüfungsteil auch dann bei dem „Nichtbestehen“ des Prüfungsabschnitts oder Prüfungsteil bleibt, wenn objektiv ein wichtiger Grund für die Säumnis vorgelegen hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U. v. 13.5.1998 – 6 C 12/98 – juris) gilt es allerdings hier in besonderer Weise zu beachten, dass die Sanktion des ggf. endgültigen Verlustes der Prüfungschance nicht außer Verhältnis zu dem mit der Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung verfolgten legitimen Ziel der Wahrung der Chancengleichheit steht. Ob eine Mitteilung im Rechtssinne unverzüglich ist, ist stets auch im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG zu beurteilen. Hieraus ergeben sich insbesondere im Falle des endgültigen Nichtbestehens einer Prüfung durch Verletzung der prüfungsverfahrensrechtlichen Nebenpflicht zur unverzüglichen Mitteilung eines Säumnisgrundes Schranken. Hat die Verletzung einer solchen Pflicht nämlich zur Folge, dass die Prüfung als nicht bestanden gilt, so wird sie letztlich ebenfalls zu einer die Freiheit der Berufswahl begrenzenden „Prüfungsschranke“. Insoweit gelten vergleichbar die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht für das materielle Prüfungsverfahren entwickelt hat. Vorschriften, die für die Aufnahme des Berufs eine bestimmte Vor- und Ausbildung sowie den Nachweis erworbener Fähigkeiten in Form einer Prüfung verlangen, greifen in die Freiheit der Berufswahl ein. Sie müssen deshalb den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG genügen. Die Leistungen, die in einer solchen Prüfung gefordert werden, und die Maßstäbe, nach denen die erbrachten Leistungen zu bewerten sind, bedürfen somit einer gesetzlichen Grundlage; die Prüfungsschranke darf zudem nach Art und Höhe nicht ungeeignet, unnötig oder unzumutbar sein. Darüber hinaus beansprucht das Grundrecht der Berufsfreiheit auch Geltung für die Durchführung des Prüfungsverfahrens. Grundrechtsschutz ist auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken (BVerwG, U. v. 13.5.1998 – 6 C 12/98 – juris Rn. 17 f.).
Diese Grundsätze sind auf die Anforderungen an die Unverzüglichkeit der Mitteilung von Gründen im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 1 ÄAppO übertragbar. Die Mitwirkungspflicht des Prüflings dient dem Schutz der Chancengleichheit im Prüfungsverfahren. Allein dieser, das gesamte Prüfungsrecht beherrschende Grundsatz rechtfertigt die einschneidende Folge der verspäteten Mitteilung, nämlich den ggf. endgültigen Verlust einer Prüfungschance und damit der Möglichkeit, überhaupt in dem gewählten Beruf tätig zu sein. Deshalb muss die Beurteilung, wie und wann ein Prüfling seine Mitwirkungsobliegenheit zumutbarerweise zu erfüllen hat, mit einbeziehen, wenn im Einzelfall der Zeitpunkt der Benachrichtigung des Prüfungsamtes sich auf die Chancengleichheit der übrigen Prüflinge nicht auswirken kann. Eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit des Prüflings zur unverzüglichen Mitteilung liegt in diesen Fällen nur dann vor, wenn sie im Sinne eines „Verschuldens gegen sich selbst“ vorwerfbar ist. „Unverzüglich“ in diesem Sinne bedeutet – wie sonst auch (vgl. § 121 BGB) – „ohne schuldhaftes Zögern”. Da die Mitwirkungslast an der Grenze der Zumutbarkeit endet, ist eine Erklärung von Säumnisgründen hiernach dann nicht unverzüglich, wenn sie nicht zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie vom Prüfling zumutbarerweise hätte erwartet werden können (BVerwG, U. v. 13.5.1998 – 6 C 12/98 – juris Rn. 19 f.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze und der oben erfolgten Darlegungen war die Mitteilung der Säumnisgründe durch den Kläger gegenüber dem Prüfungsamt am Nachmittag des 16. März 2016 zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie vom Kläger hätte zumutbarerweise erwartet werden können. Das Gericht sieht es als hinreichend belegt an, dass der Kläger aufgrund des schweren Krankheitsverlaufs und den damit verbundenen Beeinträchtigungen hierzu nicht bereits früher in der Lage war.
Der Anerkennung des Vorliegens eines wichtigen Grunds im Sinne von § 19 Abs. 1 Satz 2 ÄAppO steht auch nicht entgegen, dass der Kläger die Attestauflage zum Vorliegen eines „Dauerleidens“ und des Ausschlusses von Prüfungsängsten nicht erfüllt hat bzw. die hierzu geforderten Aussagen in dem ihm ausgestellten Gesundheitszeugnis des Amtsarztes nicht enthalten waren. Eine – wie das Prüfungsamt im streitgegenständlichen Bescheid ausführt – seit mindestens vier Jahren andauernde Einschränkung der Prüfungsfähigkeit infolge des Migräneleidens lässt sich nicht feststellen.
Das sogenannte Dauerleiden bestimmt als persönlichkeitsbedingtes Merkmal im Unterschied zu den sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen die normale Leistungsfähigkeit des Prüflings und muss daher in das Prüfungsergebnis miteinfließen (vgl. BVerwG, B. v. 13.12.1985 – 7 B 210/85 – juris Rn. 6; BayVGH, B. v. 4.10.2007 – 7 ZB 07.2097 – juris Rn. 16). Maßgebend ist die Dauerhaftigkeit der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheitssymptome (vgl. BayVGH, B. v. 4.10.2007 – 7 ZB 07.2097 – juris Rn. 17).
Die Dauerhaftigkeit der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheitssymptome aufgrund der Migräneerkrankung kann im Fall des Klägers jedoch nicht festgestellt werden. Gleiches gilt hinsichtlich des Vorliegens von Prüfungsängsten. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Auferlegung einer entsprechenden Attestvorlage in dem Bescheid vom 11. April 2014 war der Kläger wiederholt aus unterschiedlichen gesundheitlichen Gründen (Migräneerkrankung, schwere Gastroenteritis, Migräneerkrankung, schwere depressive Episode) den Prüfungen ferngeblieben (zuletzt am 21. Februar 2014). Danach nahm der Kläger jedoch im Sommersemester 2014 sowie im Wintersemester 2014/2015 in Folge an insgesamt drei Prüfungen (schriftlicher Teil mit Wiederholung sowie mündlicher Teil) teil, ohne dabei Prüfungsunfähigkeit geltend zu machen. Der darauf folgende „Prüfungsrücktritt“ erfolgte nachweislich wegen einer akuten lebensbedrohlichen Erkrankung mit mehrtägigem Krankenhausaufenthalt und stand in keinerlei Zusammenhang mit einer Migräneattacke. Wie der Kläger vorgetragen hat (vgl. fachärztliches Attest vom 29. November 2016), hatte er eine schwere und langanhaltende Auraphase schon länger nicht mehr gehabt. Die letzte Migräneattacke im Zusammenhang mit einem Prüfungsrücktritt war am 20. August 2013 erfolgt. Auch nach der Stellungnahme der den Kläger früher behandelnden Neurologin manifestiert sich der Erkrankung (nur) vereinzelt in schweren Migräneattacken. Die geforderte Dauerhaftigkeit der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheitssymptome ist daher nicht gegeben.
Demnach kommt es auch nicht entscheidend darauf an, dass der Kläger die entsprechende Attestauflage formal nicht eingehalten hat. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines sogenannten Dauerleidens oder Prüfungsängsten jedenfalls zum Zeitpunkt des erneuten Erlasses der entsprechenden Auflage zum 26. Januar 2016 nicht mehr bestanden, so dass es für die erneute Auferlegung einer entsprechenden Attestpflicht an der notwendigen Erforderlichkeit gefehlt haben dürfte. Hinreichende Anhaltspunkte für eine generelle Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Klägers aufgrund seiner Migräneerkrankung oder Prüfungsängsten lagen jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Allein aus der langen Studiendauer und der Anzahl der Prüfungsrücktritte kann ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände, die jeweils zu den Rücktritten geführt hatten, und der tatsächlich absolvierten Prüfungen nicht auf die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines Dauerleidens geschlossen werden. Unabhängig davon hat der Kläger – ohne dass dies von der Beklagten bestritten wurde – geltend gemacht, dass er sich um die Erfüllung der entsprechenden Auflage bemüht hat und das entsprechende Schreiben mit der Attestauflage dem Amtsarzt vorgelegt hat. Ein Hinweis des Prüfungsamts auf das Fehlen der entsprechenden Ausführungen bzw. Aufforderung zur Nachreichung ist nicht erfolgt, so dass der Kläger auch davon ausgehen durfte, dass er das ihm Mögliche zur Erfüllung der Auflage getan hatte. Zudem dient die Auflage dem Zweck sicherzustellen, dass ein wichtiger Grund im Sinne von § 19 Abs. 1 Satz 2 ÄAppO vorliegt bzw. im Interesse des beweislastpflichtigen Prüflings einen zeitnahen Nachweis hierüber zu erhalten. Sofern jedoch – wie hier – aufgrund der fachärztlich festgestellten Krankheitssymptomatik des konkreten Migräneleidens des Klägers sowie des sonstigen Sachverhalts (mehrfache Ablegung von Prüfungen in Folge) eine Dauerhaftigkeit der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheitssymptome nicht festgestellt werden kann, wäre das Bestehen auf der formalen Einhaltung der Auflage schwerlich mit den auch hier zu beachtenden Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG in Einklang zu bringen.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf Euro 7.500,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG- i. V. m. Nr. 36.1 Streitwertkatalog 2013).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes Euro 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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