Medizinrecht

Anspruch auf Blindengeld nur bei blindheitsbedingten Mehraufwendungen

Aktenzeichen  L 15 BL 9/14

Datum:
11.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 3988
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, S. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Das Blindengeld dient dem Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Zweck des Blindengelds wird  verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbilds des Betroffenen gar nicht erst ent- bzw. bestehen kann. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
3. Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung stellen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 15 BL 3/13 2014-11-20 GeB SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 20. November 2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG), jedoch nicht begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind oder hochgradig sehbehindert im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht.
Letzteres hat das SG zu Recht verneint. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Der Bescheid vom 26.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.06.2013 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und 1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder 2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6): aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist, ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt, gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile v. 12.11.2019 – L 15 BL 1/12 – und 26.11.2019 – L 15 BL 2/19) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil v. 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil v. 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil v. 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92, Beschluss v. 29.01.2018 – B 9 V 39/17 B, Urteil v. 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R). Auch dem Vollbeweis können gewisse Zweifel innewohnen; verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (z.B. BSG, Urteil v. 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R, m.w.N.).
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Blindengeld.
Die Klägerin ist zwar blind im Sinne des BayBlindG. Der Beklagte hat jedoch mit Erfolg den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung des BayBlindG erhoben, da das konkrete Krankheitsbild der Klägerin blindheitsbedingte Aufwendungen (in ihrer Situation) von vornherein ausschließt.
1. Die Klägerin ist blind im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG.
Wie der Senat bereits im Urteil vom 19.12.2016 im Einzelnen dargelegt hat, ist es zu seiner Gewissheit nachgewiesen, dass bei der Klägerin eine Verarbeitungsstörung vorliegt, so dass sie die Signale der (auch) visuellen Sinnesmodalität nicht identifizieren, mit früheren Erinnerungen nicht vergleichen und nicht benennen kann. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dabei insbesondere aus dem überzeugenden und fundierten Gutachten von Dr. M … Danach leidet die Klägerin an einer sehr schweren Demenz bei Alzheimerkrankheit mit frühem Beginn. Ihre (visuelle) Wahrnehmung ist massiv gestört, nicht durch Schädigungen im Sinnesorgan und der Leitung zum Gehirn, sondern durch Verlust der kognitiven Verarbeitung, worauf der Sachverständige nachvollziehbar hingewiesen hat. Dementsprechend lässt sich auch kein Schaden in den genannten Gehirnbereichen sicher nachweisen. Wie Dr. M. nachvollziehbar dargestellt hat, besteht die Störung der Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darin, dass die Signale der verschiedenen Sinnesmodalitäten nicht identifiziert, mit früheren Erinnerungen nicht verglichen und nicht benannt werden können. Entsprechend den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen besteht eine Verarbeitungsstörung aller Sinnesqualitäten, wobei Hauptursache die generalisierte Kognitionsstörung ist. Ohne Schäden im Bereich des Empfangsorgans bzw. der Leitung einer Sinnesqualität können die aufgenommenen Signale wegen fehlender Verarbeitung nicht mehr genutzt werden; dies gilt auch für das Sehen. Dies steht aufgrund des plausiblen Gutachtens von Dr. M. fest. Insbesondere steht auch der morphologische Befund nicht entgegen, sondern erklärt vielmehr die eben festgestellte Beeinträchtigung der Klägerin in vollem Umfang.
Damit ist entsprechend der Bestätigung durch das Urteil des BSG im vorliegenden Verfahren bei der Klägerin Blindheit im Sinne der genannten Vorschrift gegeben. Dass die mangelnden Sehleistungen der Klägerin auf der allgemeinen Herabsetzung ihrer Fähigkeiten beruhen, steht der Annahme der Blindheit nicht entgegen.
2. Ein Anspruch der Klägerin auf Blindengeld nach dem BayBlindG besteht jedoch deshalb nicht, weil der Beklagte erfolgreich den Einwand der Zweckverfehlung erhoben hat.
Wie das BSG im vorliegenden Verfahren dargelegt hat, stellt die in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG enthaltene Formulierung des Gesetzgebers hinsichtlich des Ausgleichs blindheitsbedingter Mehraufwendungen keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung dar, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung. Dennoch bleibe, so das BSG (a.a.O.), der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung, was sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz erschließe. So sehe das BayBlindG Regelungen zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen vor (Art. 4 Abs. 3 BayBlindG). Der Zweck des Blindengelds werde aber, so das BSG in der genannten Entscheidung, auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbilds des Betroffenen gar nicht erst ent- bzw. bestehen könne. Das BSG hat im Einzelnen Folgendes festgestellt:
„Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma). Das Gesetz geht in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein „Mehraufwand“ aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das BVerwG hat hierzu zur früheren Blindenhilfe nach § 67 Abs. 1 BSHG bereits ausgeführt, dass Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben entstehen, nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder bedingt durch sein Leiden im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muss (so BVerwG Urteil vom 4.11.1976 – V C 7.76 – BVerwGE 51, 281, 287). Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen [ …]. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt (vgl Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 35), weil diese in der zunehmend visualisierten Umwelt besonderen Beeinträchtigungen unterliegen (vgl Braun, MedSach 3/2016, 134, 135 mwN). So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass ua blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (vgl Bayerisches LSG, aaO; BayLT-Drucks 17/17055 S. 1 zu A und 17/21510 S. 1 zu A). Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (zB dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann.“
Vorliegend hat der Beklagte den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung wirksam erhoben. Der Mangel an Sehvermögen der Klägerin kann krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden.
Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, das die vom Vertreter der Klägerin bereits bei der Antragstellung abgegebene zusammenfassende Schilderung bestätigt hat, wonach die Klägerin völlig hilflos und objektiv nicht in der Lage ist, noch irgendetwas sinnvoll wahrzunehmen bzw. zu verarbeiten. Dieser – einen blindheitsbedingten Mehraufwand ausschließende – Zustand der Klägerin ergibt sich jedoch nicht nur aus den Angaben des Vertreters der Klägerin, sondern (weit) darüber hinaus der Auswertung aller vorliegenden einschlägigen medizinischen und pflegerischen Unterlagen, insbesondere auch der Sachverständigengutachten, und zudem aus den verschiedenen Angaben von Mitarbeitern des die Klägerin betreuenden Pflegeheims.
Wie der Senat in dem Urteil vom 19.12.2016 bereits im Einzelnen und oben nochmals dargelegt hat, besteht bei der Klägerin nach den nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen Dr. M. eine massive Verarbeitungsstörung aller Sinnesqualitäten, wobei Hauptursache die generalisierte Kognitionsstörung ist. Bei der Klägerin ist der Verlust von kognitiver Bearbeitung aller eingehenden Informationen auf kortikaler Ebene gegeben. Wie sich unter anderem aus den Angaben des A. Seniorenzentrums L. (z.B. aus der schriftlichen Bescheinigung vom 05.03.2013, aber auch der Zeugenaussage des Leiters der Einrichtung in der mündlichen Verhandlung) und den Feststellungen im Gutachten von Dr. M., worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat, ergibt, ist die Klägerin in jeder Hinsicht hilflos. So ist bei der Begutachtung durch Dr. M. (15.07.2014) festgestellt worden, dass die Klägerin in einem verstellbaren Bett mit beidseitigen Bettgittern mit gering angebeugten Beinen und Armen leicht links gedreht vorgefunden worden ist. Durch fehlende kognitive Leistungen ist keine Kommunikation möglich gewesen. Die Augen sind fest geschlossen, eine Willküraktivität ist nicht zu erkennen gewesen. Die Muskelmasse ist bereits deutlich reduziert beschrieben worden. Diese Feststellungen werden u.a. bestätigt durch die glaubhaften Angaben des Zeugen in der mündlichen Verhandlung, dass die Klägerin bettlägerig ist und nicht mehr aus dem Bett mobilisiert wird. Wie der Zeuge weiter nachvollziehbar dargelegt hat, muss die im Übrigen inkontinente Klägerin alle zwei Stunden in eine andere Position gebracht werden. Aus den vorliegenden Unterlagen ergibt sich auch ohne Weiteres, dass eine sinngebende Kommunikation mit der Klägerin nicht (mehr) möglich ist, auch wenn die Klägerin noch gewisse Reaktionen zeigt. Wie der Senat in seinem Urteil vom 19.12.2016 bereits herausgearbeitet hat, handelt es sich entsprechend den plausiblen Darlegungen des Gutachters Dr. M. lediglich um sogenannte Startlereaktionen im Sinne einer raschen, schützenden Reflexantwort der Muskulatur auf überraschende Reize, soweit die Klägerin bei Untersuchungen und Beobachtungen auf verschiedene Reize Reaktionen gezeigt hat. Diese bieten aber, wie der Senat auch früher bereits mehrfach entschieden hat (vgl. z.B. das Urteil vom 27.03.2014 – L 15 BL 5/11, m.w.N.), keine Anhaltspunkte für das Funktionieren eines Sinns; eine visuelle Schreckreflexreaktion kann sogar bei blinden Personen ausgelöst werden (a.a.O.). Startlereaktionen dürfen nicht als reizspezifische Antworten bzw. willensgesteuerte motorische Reaktionen fehlgedeutet werden.
Im Übrigen hat der Senat im Urteil vom 19.12.2016 im Einzelnen Folgendes festgestellt:
„Soweit in der Bescheinigung der Pflegeeinrichtung festgestellt wird, dass die Klägerin bei jeder Berührung und Ansprache mit den Augen reagiere, die sich hin und her bewegen würden, was angesichts der Feststellungen des Gutachters Dr. M. für den Senat ohnehin kaum nachvollziehbar ist, spricht vieles dafür, dass es sich auch insoweit lediglich um Startlereaktionen gehandelt hat. Soweit behauptet wird, dass die Klägerin „so nonverbal mit dem Pflegepersonal“ kommuniziere, kann dies den Senat nicht überzeugen. Denn die Bescheinigung ist in sich widersprüchlich. Sie geht nämlich selbst ausdrücklich von einem Verlust der visuellen Wahrnehmung aus. Zudem steht aufgrund des plausiblen und fundierten Gutachtens von Dr. M. fest, dass mit der Klägerin keine Kommunikation möglich ist; der Sachverständige hat dies ausdrücklich im Hinblick auf die fehlende kognitive Leistung festgestellt. Entsprechendes gilt für den Bericht des (insoweit fachfremd argumentierenden) Hausarztes Dr. S … Im Übrigen besteht hier auch Einigkeit mit dem Beklagten. So hat die Ärztin Dr. P. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 07.06.2013 ausdrücklich festgestellt, dass eine sinngebende Kommunikation mit der Klägerin nicht möglich sei. Das von der Hausleitung des Seniorenzentrums L. beschriebene Abwehrverhalten sei keine sinngebende bzw. spezifische Reaktion bzw. nicht Ausdruck einer adäquaten Verarbeitung von Sinneseindrücken. Entsprechendes gilt schließlich für die gezeigten Videosequenzen. Insbesondere ist auch hier in keiner Weise nachgewiesen, dass es sich um eine Reaktion aufgrund Wahrnehmung aus kognitiver Verarbeitung handeln würde. Wie der Gutachter im Einzelnen herausgearbeitet hat, liegt bei der Klägerin keine (erkennbare) Auffassungsgabe und Aufmerksamkeit vor.“
Auch nach dem Ergebnis des wiedereröffneten Berufungsverfahrens besteht kein Anlass, insoweit zu einer anderen Einschätzung zu kommen. Vielmehr bestätigen die von der Klägerseite vorgetragenen und vom Zeugen bestätigten bei einem gewissen Lärmpegel oder hektischen Bewegungen anderer Personen bei der Klägerin auftretenden Unruhezustände die geschilderten Annahmen. Auch diese Zustände stellen kein willensgesteuertes Verhalten und somit auch kein Kommunikationsmittel der Klägerin dar.
1. Maßgeblich hinsichtlich des blindheitsbedingten Mehraufwands sind die tatsächlichen bei der Klägerin bestehenden Verhältnisse (vgl. bereits die Urteile des Senats v. 12.11.2019 – L 15 BL 1/12 – und 26.11.2019 – L 15 BL 2/19). Ein Verweis auf die jeweilige Diagnose wäre nicht ausreichend, um dem Einzelfall gerecht zu werden (vgl. näher a.a.O. mit Verweis auf das Urteil des erkennenden Senats bereits v. 17.07.2012 – L 15 BL 11/08).
2. Mit dem BSG geht der Senat davon aus, dass der Begriff der blindheitsbedingten Mehraufwendungen weit auszulegen ist (vgl. bereits die Urteile des Senats v. 12.11.2019 und 26.11.2019, jeweils a.a.O.). Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus den Darlegungen des BSG sowie aus den vom BSG ebenfalls genannten Motiven des Landesgesetzgebers (so auch Braun, Die neuen Kriterien für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 3/2019, 94 (97)). Inwieweit es genügt, wenn nur ganz geringfügiger Mehraufwand im Raum steht, muss vorliegend nicht entschieden werden, da vorliegend keinerlei Mehraufwand ermittelt werden konnte.
3. Wie vom Senat ebenfalls bereits entscheiden worden ist (vgl. die o.g. Urteile v. 12.11.2019 und 26.11.2019, jeweils a.a.O.), stellen entgegen einer in der Literatur geäußerten Auffassung (vgl. Dau, in: jurisPR-SozR 9/2019 Anm. 4) Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung, wie sie hier ausschließlich bestehen, keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar (vgl. im Einzelnen a.a.O.).
4. Für den gerichtlich überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt nach der Entscheidung des BSG vom 14.06.2018 (a.a.O.) die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Dabei ist sie verpflichtet, soweit möglich den – wie oben dargelegt individuellen – Sachverhalt zu ermitteln, steht jedoch vor der Schwierigkeit, dass sie die Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer negativen Tatsache trifft, eben hinsichtlich des Nichtvorhandenseins blindheitsbedingter Mehraufwendungen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass zur Ermittlung daher neben den medizinischen/pflegerischen Unterlagen vor allem die Angaben der Personen heranzuziehen sind, die die Verhältnisse hinsichtlich des betroffenen blinden Menschen aufgrund der Sach- und Ortsnähe beurteilen können. Die Antragsteller trifft dabei eine Mitwirkungsobliegenheit. Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz; so kann unnötiger Aufwand o.ä. keine Berücksichtigung finden. Entscheidend nach der Rechtsprechung des BSG ist, dass der Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden kann. In der konkreten Situation des Betroffenen objektiv nicht möglicher blindheitsbedingter Mehraufwand muss außer Betracht bleiben.
5. Nach der im Verfahren durchgeführten Prüfung der der Klägerin verbleibenden Möglichkeiten durch den Senat ergibt sich, dass wegen der plausiblen medizinischen Unterlagen und der vorliegenden Angaben davon ausgegangen werden muss, dass es das schwere Krankheitsbild der Klägerin ausschließt, den Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen (auch nur teilweise) auszugleichen.
Wie sich aufgrund der vorliegenden medizinischen Befunde ohne jeden Zweifel ergibt, leidet die Klägerin an einer schwersten Behinderung. Sie ist in jeder Hinsicht schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen des täglichen Lebens vollständig von fremder Hilfe abhängig. Eine sinngebende Kommunikation mit ihr ist nicht möglich. Zu willensgesteuerten Reaktionen ist sie nicht in der Lage. Im Übrigen wird auf die nach dem Ergebnis des Verfahrens zur Überzeugung des Senats nachgewiesenen schwersten Einschränkungen, die oben bereits im Einzelnen dargestellt worden sind, verwiesen.
Nur der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass es nicht entscheidend darauf ankommt, ob bei der Klägerin noch ein Restkommunikationsvermögen vorhanden ist. Selbst wenn ein solches noch bestehen würde, wovon vorliegend nicht auszugehen ist, würde dies – wie sich aus den Darlegungen des BSG im vorliegenden Verfahren ohne Weiteres ergibt – nichts daran ändern, dass das Krankheitsbild der Klägerin von vornherein blindheitsbedingte Aufwendungen nicht entstehen lässt, da der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden kann. Denn ein solcher Ausschluss ist, wie das BSG ausdrücklich formuliert hat und wie sich aus medizinischer, pflegerischer und realistischer Sichtweise ergibt, keineswegs ausschließlich bei dauernder Bewusstlosigkeit oder Koma möglich. Dem Hinweis des Vertreters der Klägerin bei der Antragstellung auf einen „komatösen“ Zustand kommt somit keine erhöhte Bedeutung zu.
Eine Nachweispflicht des Betroffenen, welche blindheitsbedingten Mehraufwendungen im Einzelnen entstanden sind, besteht nicht. Dies folgt aus der vom BSG vorgenommenen Beweislastverteilung, an die sich der Senat gebunden fühlt. Vorliegend ist jedoch zur Überzeugung des Senats, die dieser aufgrund der zahlreichen plausiblen medizinischen Befunde gewonnen hat, ausgeschlossen, dass ein blindheitsbedingter Mehraufwand bei der Klägerin im Hinblick auf ihr schweres Behinderungsbild besteht, da die Klägerin keine Mehraufwendungen haben kann, „die aufgrund der Unfähigkeit, selbst etwas in gleicher Weise zu tun, wie bei vorhandenem Sehvermögen, entstehen, so dass entweder die Tätigkeiten von Anderen ausgeführt werden müssen oder die Unterstützung durch Andere notwendig ist bzw. spezielle Hilfsmittel eingesetzt werden müssen“ (vgl. Braun, a.a.O., S. 97, mit Verweis auf Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 239). Insbesondere die vom Beklagten aufgeführten einzelnen Aufwendungen kommen nicht in Betracht, darüber hinaus jedoch auch keine weiteren Maßnahmen des Ausgleichs mangelnden bzw. aufgehobenen Sehvermögens (vgl. Demmel, a.a.O.).
Auch die Klägerseite konnte keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen benennen. Dies ist aus Sicht des Senats die logische Konsequenz der schwersten Behinderung der Klägerin und unterstreicht seine Auffassung.
Der gesamte von der Klägerseite, insbesondere vom Vertreter der Klägerin, aber auch der vom Allgemeinarzt Dr. S. und von der Pflegeeinrichtung geschilderte Aufwand stellt allgemeinen Pflegeaufwand (bzw. pflegerische Leistungen) dar, der durch das sehr schwere Krankheitsbild der Klägerin verursacht wird, das, wie der Beklagte zu Recht dargelegt hat, die Blindheit bei weitem überlagert. Zusätzliche Erschwernisse durch Letztere bestehen nicht. Diese konnten trotz offensichtlicher Bemühungen auf Klägerseite nicht dargelegt werden. Dass die einzelnen geschilderten Aufwendungen speziell durch die Blindheit bedingt sind – wie etwa die Begleitung der in jeder Hinsicht hilflosen Klägerin zu ambulanten Untersuchungen, die wegen erhöhten Gefährdungspotenzials sehr intensive Aufsicht der in einem mit beidseitigen Bettgittern ausgestatteten Bett liegenden, ohne erkennbare Willküraktivität vom Gutachter angetroffenen Klägerin, die nach Aussage des Zeugen häufig gewendet werden muss, oder die zu übernehmende visuelle Kontrolle des Intimbereichs der nicht orientierten Klägerin -, ist nach Auffassung des Senats ausgeschlossen.
Schließlich konnte auch der Zeuge keinen speziellen Pflegeaufwand, der über das Maß bei einem „normalen“ Alzheimerpatienten hinausgehen würde, benennen.
Wenn im Verfahren dargelegt worden ist (Bescheinigung des Seniorenzentrums L. v. 25.06.2018), dass der Pflegeaufwand für die Klägerin – insbesondere auch aufgrund der Tatsache, dass bei ihr kein Austausch wegen der visuellen Verarbeitungsstörung mehr möglich sei – weit über das Maß der Pflege eines „normalen“ Demenzpatienten hinausgehe, so zeigt die verwendete Formulierung bereits, dass keine blindheitsspezifischen Mehraufwendungen bestehen, weil sich eben die erhöhte Pflegebedürftigkeit daneben auch aus anderen Umständen ergibt. Selbst wenn man jedoch – gewissermaßen zu Gunsten des klägerischen Anliegens – einen großzügigeren Maßstab an die in der Bescheinigung enthaltenen Aussage angelegt, kann diese nicht im Sinne des Vorliegens blindheitsbedingten Mehraufwands überzeugen, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme feststeht, dass ein Austausch mit der Klägerin nicht an der visuellen, sondern an der generellen Verarbeitungsstörung scheitert.
Soweit geltend gemacht worden ist, dass die Klägerin wegen der Unruhezustände ein Einzelzimmer benötige, was zu erheblicher wirtschaftlicher Mehrbelastung führe, kann nur darauf hingewiesen werden, dass diese Unruhezustände gerade (nur) zu allgemeinem Aufwand wegen der gravierenden Demenz der Klägerin führen. Wegen der weitreichenden zerebralen Schäden würden solche Unruhezustände naheliegenderweise auch dann bestehen, wenn der Sehvorgang in keiner Weise betroffen wäre, da sie ihr (früher) bekannte Personen mit Blick auf die vorliegenden Kognitionsstörung ohnehin nicht wiedererkennen könnte und da Unruhezustände mit Blick auf die massiven sonstigen Störungen der Klägerin – für Alzheimerpatienten in fortgeschrittenem Stadium typisch – unabhängig vom Sehen anzunehmen wären.
Auch der Verweis auf die taktile und verbale Assistenz des Betreuungspersonals, um der Klägerin durch die Anwesenheit und durch das Herstellen von Nähe bzw. Körperkontakt Sicherheit zu geben, kann der Berufung nicht zum Erfolg verhelfen. Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteile v. 27.11.2013 – L 15 BL 4/12 – und vom 26. 11. 2019 – L 15 BL 2/19), stellen Maßnahmen nur des psychischen Beistands o.ä. keinen blindheitsbedingten Aufwand dar, da insoweit keine Betreuungsleistungen (im weiteren Sinn) betroffen sind; dementsprechend hat sich der genannte Verweis auch im Ungefähren gehalten. Dies könnte jedoch letztlich sogar dahinstehen, da die Herstellung von Nähe grundsätzlich keine blindheitsspezifischen Nachteile ausgleicht (vgl. die therapeutisch empfohlene Ansprache etc. bewusstloser Menschen).
Die Berufung bleibt damit ohne Erfolg. Sie ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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