Medizinrecht

Antragsgegner, Verwaltungsgerichte, Anspruchsberechtigte, Einstweilige Anordnung, Prozeßbevollmächtigter, Vorrangigkeit, atypischer Fall, Pauschalierung, Festsetzung des Streitwerts, Streitwertanhebung, Streitwertkatalog, Antragstellers, Prozeßkostenhilfeverfahren, Schutzimpfung, Glaubhaftmachung, Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, Beschwerdeentscheidung, Beschwerdeschrift, Beschwerde gegen, Wert des Beschwerdegegenstandes

Aktenzeichen  M 26b E 21.393

Datum:
28.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1183
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
CoronaImpfV § 1 Abs. 1 und 2
CoronaImpfV §§ 2 bis 4
Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der 78-jährige Antragsteller, der an Krebs erkrankt ist und dem eine chemotherapeutische Behandlung bevorsteht, begehrt mit seinem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz eine unverzügliche Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2.
Nach § 1 Abs. 1 der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Impfverordnung – CoronaImpfV) vom 18. Dezember 2020 (BAnz AT 21.12.2020 V3 S. 1 ff.) haben unter anderem Personen mit Wohnsitz in Deutschland im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe Anspruch auf Schutzimpfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Dabei sollen die Länder und der Bund den vorhandenen Impfstoff so nutzen, dass die Anspruchsberechtigten in der durch die §§ 2 bis 4 vorgegebenen Reihenfolge berücksichtigt werden, § 1 Abs. 2 Satz 1. Innerhalb dieser Gruppen können auf Grundlage der jeweils vorliegenden infektiologischen Erkenntnisse, der jeweils aktuellen Empfehlung der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut und der epidemiologischen Situation vor Ort bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden, § 1 Abs. 2 Satz 2. Personen im Alter von 70 bis 79 Jahren gehören zur Gruppe mit hoher Priorität, § 3 Nr. 1, während Krebspatienten gemäß § 4 Nr. 2 lit. h zur Gruppe mit erhöhter Priorität gehören.
Gegenwärtig werden Personen über 80 Jahre, Bewohner in Alten- und Pflegeheimen sowie medizinisches Personal mit sehr hohem Ansteckungsrisiko und Personal in der Altenpflege geimpft (vgl. auch Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, Impfung gegen das Coronavirus, Reihenfolge der Impfungen, https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/impfung/, aufgerufen am 27.1.2021), mithin Personen mit höchster Priorität, § 2 CoronaImpfV.
Der Antragsteller versuchte, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, seit dem 21. Januar 2021 erfolglos eine unverzügliche Verabreichung des Impfstoffes durch die Antragsgegnerin zu erwirken.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2021, ergänzt durch Schreiben vom 27. und 28. Januar 2021, stellte der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Er beantragt zuletzt,
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller unverzüglich, spätestens bis zum 5. Februar 2021, eine erste Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 verabreichen zu lassen.
Zur Begründung wird unter Vorlage diverser Unterlagen im Wesentlichen vorgetragen, der Antragsteller sei 78,5 Jahre alt und leide seit 2016 an einer Haarzellen-Leukämie, welche rezidiv verlaufe und aktuell ab Mitte Februar einer erneuten chemotherapeutischen Behandlung bedürfe. Wegen dieser schweren Erkrankung sei das Risiko des Antragstellers, an einer Erkrankung mit COVID-19 zu versterben um 295% erhöht. Er sei daher als Hochrisikopatient einzustufen. Die anstehende Chemotherapie bewirke eine extreme und anhaltende körperliche Schwächung einhergehend mit einer weiteren Schwächung des Immunsystems, eine Impfung müsse daher vor Beginn der Chemotherapie erfolgen und werde aus ärztlicher Sicht empfohlen. Der Antragsteller sei auch einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt, weil er sich des Öfteren zur Behandlung ins Krankenhaus, insbesondere im Zusammenhang mit der Chemotherapie, begeben müsse. Allein durch sein Alter sei er der 2. Gruppe (hohe Priorität) der CoronaImpfV zugewiesen. Die schwerwiegende Erkrankung werde bei dieser Einstufung zu Unrecht nicht berücksichtigt. Die CoronaImpfV erweise sich bereits in formeller Hinsicht als verfassungswidrig, da die Ermächtigungsgrundlage den Anforderungen an den Wesentlichkeitsgrundsatz nicht genüge. Die Verordnung sei auch in materieller Hinsicht offensichtlich verfassungswidrig, da sie stark auf das Alter abstelle und keine Möglichkeit offenlasse, zusätzliche Kriterien wie eine Hochrisikoerkrankung zu berücksichtigen. Doch auch eine Verfassungsmäßigkeit der Verordnung unterstellt, stehe dem Antragsteller jedenfalls ein Anspruch auf unverzügliche Schutzimpfung zu, da die Sollvorschrift des § 1 Abs. 2 CoronaImpfV der Verwaltung ein Ermessen für atypische Fälle einräume. Ein solcher atypischer Fall liege hier vor. Der aktuellen STIKO-Empfehlung sei eine Priorisierungsmöglichkeit für Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen zu entnehmen. Wegen der weiteren Ausführungen wird auf die Schriftsätze des Bevollmächtigten des Antragstellers vom 26. und 27. Januar 2021 Bezug genommen.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schreiben vom 27. Januar 2021,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, das die Antragsgegnerin bis zum 26. Januar 2021 insgesamt 24.195 Impfdosen erhalten habe, die bislang an Personen der von § 2 CoronaImpfV umfassten Gruppe abgegeben würden, wobei allein diese Gruppe im Gebiet der Antragsgegnerin etwa 120.000 Personen umfasse. Hinsichtlich der vereinzelt gestellten Anträge auf priorisierte Zuteilung eines Impftermins außerhalb der Festlegungen der CoronaImpfV befinde man sich noch in Abstimmung, inwieweit eine Entscheidung über derartige Härtefallanträge überhaupt möglich sei. Ein Anspruch des Antragstellers auf priorisierte Berücksichtigung bei der Impfstoffvergabe ergebe sich jedoch aus keiner der in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen. Der aktuell verfügbare Impfstoff sei gemäß der CoronaImpfV an die Personengruppe mit der höchsten Priorität zu verabreichen, wobei die Verteilung innerhalb dieser Gruppe mangels ausreichendem Impfstoff nach dem nach der aktuellen Lebenslage höchsten Ansteckungsrisiko erfolge. Die Verteilung des nur beschränkt vorhandenen Impfstoffes habe sachgerecht zu erfolgen, wobei der Verwaltung insofern ein weiter Ermessensspielraum zukomme. Die Antragsgegnerin halte sich dabei insbesondere an die Bewertungsmaßstäbe, wie sie Eingang in § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV gefunden haben. Im Übrigen hätten die Amtsärzte der Antragsgegner auf Basis der vorgelegten Unterlagen beim Antragsteller kein Risiko feststellen können, das mindestens ebenso hoch sei wie das im Vergleich zu den über 80-Jährigen in Einrichtungen, die besonders gefährdet seien und gegenwärtig geimpft würden. Soweit sich der Antragsteller auf die in der STIKO-Empfehlung erwähnte Möglichkeit der Einzelfallentscheidung bezieht, fehle es an den Voraussetzungen eines atypischen Falles, da onkologische Vorerkrankungen in § 4 Nr. 2 lit. h CoronaImpfV Berücksichtigung fänden. Dass sich aus der vom Antragsteller in Bezug genommenen Studie der BARMER ein Mortalitätsfaktor von 2,95 ergebe, konnte bislang nicht nachvollzogen werden. Weitergehend wird darauf aufmerksam gemacht, dass ein auf Einzelfallentscheidungen basierender Impfprozess erhebliche nachteilige Auswirkungen auf den Impfprozess hätte und der Praktikabilität desselben entgegenstünde. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, dass jede Priorisierungsentscheidung mit der Zurückstufung einer anderen berechtigten Person einhergehe.
Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag hat mangels Begründetheit keinen Erfolg.
a) Der Antrag ist zulässig. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis ist jedenfalls gegeben, da der Antragsteller zuvor die zuständige Behörde erfolglos mit seinem Begehren befasst hat.
b) Der Antrag ist jedoch unbegründet. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf eine vorgezogene Schutzimpfung.
Nach § 123 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragspartei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Regelungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Sicherungsanordnung). Dabei hat die Antragspartei sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) zu bezeichnen und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 1 und 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO)). Der Antrag kann nur Erfolg haben, wenn und soweit sich sowohl Anordnungsanspruch als auch -grund aufgrund der Bezeichnung und Glaubhaftmachung als überwiegend wahrscheinlich erweisen (BayVGH, B.v. 16.8.2010 – 11 CE 10.262 – juris Rn. 20 m. w. N.). Maßgeblich sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf eine vorrangige Berücksichtigung bei der Verabreichung des Impfstoffes nicht glaubhaft machen können. Ein solcher Anspruch ergibt sich derzeit weder aus der CoronaImpfV noch aus einem unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Teilhabeanspruch.
aa) Ein entsprechender Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus § 1 Abs. 1 und 2 CoronaImpfV.
(1.) Nach § 1 Abs. 1 CoronaImpfV haben insbesondere Personen mit Wohnsitz in Deutschland im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe Anspruch auf Schutzimpfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Dabei sollen die Länder und der Bund den vorhandenen Impfstoff so nutzen, dass die Anspruchsberechtigten in der durch die §§ 2 bis 4 CoronaImpfV vorgegebenen Reihenfolge berücksichtigt werden, § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV. Innerhalb dieser Gruppen können auf Grundlage der jeweils vorliegenden infektiologischen Erkenntnisse, der jeweils aktuellen Empfehlung der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut und der epidemiologischen Situation vor Ort bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden, § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV. Derzeit verimpft die Antragsgegnerin die verfügbaren Impfstoffe in der Gruppe der höchsten Priorisierung (§ 2 CoronaImpfV).
Der an Krebs erkrankte Antragsteller mit Wohnsitz in Bayern gehört nicht zu den von § 2 CoronaImpfV erfassten Anspruchsberechtigten mit höchster Priorität, sondern wegen seines Alters gemäß § 3 Nr. 1 CoronaImpfV zu der Gruppe von Anspruchsberechtigten mit hoher Priorität, während Krebspatienten gemäß § 4 Nr. 2 lit. h CoronaImpfV zur Gruppe mit erhöhter Priorität zählen, die ausweislich von § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV erst nach der Berücksichtigung der Gruppe mit höchster Priorität berücksichtigt wird. Somit gehört der Antragsteller nicht zu der von § 2 CoronaImpfV erfassten Gruppe, die gegenwärtig berücksichtigt wird (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, Impfung gegen das Coronavirus, Reihenfolge der Impfungen, https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/impfung/, aufgerufen am 27.1.2021).
(2.) Eine vorrangige Berücksichtigung des Antragstellers im Ermessenswege nach § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV kommt vorliegend nicht in Betracht.
Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV können innerhalb der nach den §§ 2 bis 4 CoronaImpfV vorgegebenen Gruppen auf Grundlage der jeweils vorliegenden infektiologischen Erkenntnisse, der jeweils aktuellen Empfehlung der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut und der epidemiologischen Situation vor Ort bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden.
Diese Vorschrift eröffnet nach ihrem eindeutigen Wortlaut lediglich die Möglichkeit, den Antragsteller innerhalb seiner durch § 3 CoronaImpfV vorgegebenen Gruppe vorrangig zu berücksichtigen, nicht jedoch eine vorgezogene Berücksichtigung in der nach § 2 CoronaImpfV bestimmten Gruppe höchster Priorität, was einer Höherstufung um in eine höhere Priorisierungsgruppe entspräche.
(3.) Auch aus § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV folgt kein Anspruch des Antragstellers auf Berücksichtigung zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV sollen die Länder und der Bund die Anspruchsberechtigten in der durch die §§ 2 bis 4 CoronaImpfV vorgezeichneten Reihenfolge berücksichtigen.
Es handelt sich hierbei um eine Soll-Vorschrift, d. h. im Regelfall ist die Verwaltung an die von der Verordnung vorgegebene Priorisierung gebunden. Nur in atypischen Ausnahmefällen ist eine Abweichung von den Priorisierungsvorgaben im Rahmen eines insoweit eingeschränkten Ermessens zulässig. Ob ein Ausnahmefall, mithin ein entsprechender atypischer Fall vorliegt, der eine solche Abweichung ermöglicht oder gebietet, unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung (vgl. BVerwG, U. v. 2.7.1992 – 5 C 39.90 – juris m. w. N.).
Bei der Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt ist der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung in den Blick zu nehmen.
Im vorliegenden Fall steht der Sinn und Zweck der Priorisierungsvorschriften allerdings der Annahme eines atypischen Falles entgegen.
(a) § 1 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. §§ 2 bis 4 CoronaImpfV stellt eine Auswahlentscheidung darüber, wer zuerst geimpft werden soll, dar. Dabei wurde die Empfehlung der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO) zur COVID-19-Impfung hinsichtlich der Priorisierungsentscheidungen zu Grunde gelegt (vgl. Referentenentwurf der CoronaImpfV des Bundesministeriums für Gesundheit vom 17.12.2020, abrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/CoronaImpfV_mit_Begruendung.pdf). Dem vorausgegangen war ein Positionspapier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina (Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt wer…, abrufbar unter https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/gemeinsames-positionspapier-stiko-der-leopoldina-impfstoffpriorisierung.pdf).
Diesem Positionspapier lässt sich auf S. 2 f. entnehmen, dass die Priorisierungsentscheidungen an dem Aspekt der Dringlichkeit zu orientieren sind, also an der Wahrscheinlichkeit, im Fall einer Erkrankung intensivmedizinische Behandlung zu benötigen, schwerwiegende bleibende Schäden zu erleiden oder zu versterben, oder am berufs- oder privatbedingten Kontaktumfeld und dem daraus resultierenden höheren Gesundheitsrisiko für sich selbst oder für andere. Allerdings müssten die Priorisierungsentscheidungen unter den Bedingungen einer räumlich wie zeitlich schnell ausgreifenden Pandemie notwendig pauschalieren, also auf Personengruppen bezogen werden, um die erhoffte positive Wirkung zu entfalten.
Diese gebotene pauschalierende Priorisierungsentscheidung wird im Rahmen der STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung (Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, 2/2021, 14. Januar 2021, Beschluss der STIKO zur 1. Aktualisierung der COVID-19-Empfehlung) durch die Bildung von Personengruppen orientiert am Kriterium der Dringlichkeit umgesetzt und liegt der CoronaImpfV zugrunde. Die STIKO empfiehlt, aufgrund begrenzter Impfstoffverfügbarkeit die Impfung zunächst nur Personengruppen anzubieten, die ein besonders hohes Risiko für schwere oder tödliche Verläufe einer COVID-19-Erkrankung haben oder die beruflich entweder besonders exponiert sind oder engen Kontakt zu vulnerablen Personengruppen haben. Die Priorisierungsstrategie verfolgt dabei das übergreifende ethische Ziel, möglichst viel gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schaden durch die Covid-19-Pandemie zu verhindern (S. 47). Dabei stellt die STIKO im Rahmen der Bewertung der Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf in erster Linie auf das Alter der Betroffenen ab. Das zunehmende Alter sei der unabhängige Faktor, der mit Abstand die höchste Risikoerhöhung mit sich bringe. Daneben spielten bestehende Vorerkrankungen und eine Schwangerschaft eine untergeordnete Rolle (S. 33). Auf die Empfehlungen der STIKO nimmt die Verordnung ausdrücklich Bezug (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV).
(b) Aus dem zuvor Ausgeführten wird ersichtlich, dass der Impfprozess durch Priorisierungsentscheidungen verschlankt und somit beschleunigt werden soll, während ein jedem Einzelfall vollumfänglich Rechnung tragender Impfprozess der gegenwärtig vorherrschenden pandemischen Lage und dem Versuch, durch die Verabreichung des zum gegenwärtigen Zeitpunkt knappen COVID-19-Impfstoffes dem Pandemiegeschehen möglichst effektiv entgegenzuwirken, nicht gerecht werden würde.
Es entspricht somit nicht dem Sinn und Zweck der CoronaImpfV, die Auswahlentscheidung, wer vorrangig bei der Impfung zu berücksichtigen ist, im Rahmen von (aufwändigen) Einzelfallentscheidungen zu treffen. Infolgedessen sind auch einzelfallbedingte, Risiko erhöhende Umstände wie im vorliegenden Fall die chemotherapeutisch zu behandelnde Krebserkrankung des Antragstellers bei der Auswahlentscheidung und der damit einhergehenden Priorisierung grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.
(c) Ein derartiges Verständnis führt auch nicht dazu, dass kein Anwendungsspielraum für atypische Fälle bleibt und somit der Charakter von § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV als Soll-Vorschrift verkannt wird.
Vielmehr kann sich eine von der in § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV vorgezeichneten Reihenfolge abweichende, vorgezogene Berücksichtigung von Personen etwa dann als notwendig und sachgerecht erweisen, wenn am Ende einer Impfaktion Reste an Impfstoff verbleiben, die – um sie vor dem Verfall zu retten – an kurzfristig verfügbare Personen verimpft werden, die nach den Priorisierungsregeln an sich noch nicht an der Reihe wären (vgl. hierzu VG Gelsenkirchen, B. v. 11.1.2021 – 20 L 1812/20 – juris Rn. 59: Verabreichung von bereits aufbereitetem Impfstoff als Reste einer in einem Pflegeheim durchgeführten Impfaktion an Feuerwehrleute, um eine Vernichtung des Impfstoffes zu vermeiden).
Das hohe Alter des Antragstellers in Kombination mit seiner Krebserkrankung stellt somit keinen atypischen Fall dar, der eine Abweichung von der Soll-Vorgabe erlauben würde.
(4.) Im Übrigen kommt es auf die Verfassungswidrigkeit der Verordnung nicht an, da sich der behauptete Anspruch des Antragstellers weder aus der Verordnung selbst noch aus den Grundrechten ergibt (siehe hierzu die nachfolgenden Ausführungen).
bb) Ein Anspruch auf vorgezogene Berücksichtigung bei der Impfung ergibt sich für den Antragsteller auch nicht unmittelbar aus dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Teilhabeanspruch an den vorhandenen Impfkapazitäten.
Stellt der Staat eine gesundheitliche Leistung zur Verfügung, so folgt für den Einzelnen aus den genannten Grundrechten ein Anspruch auf gleiche und chancengleiche Zuteilung dieser Leistungen. Dies ist im vorliegendem Zusammenhang umso bedeutsamer, als dem Staat die Pflicht zukommt, das menschliche Leben und die menschliche Gesundheit vor Beeinträchtigungen durch das Coronavirus zu schützen und die staatlich initiierte und organisierte Impfung einen wesentlichen Baustein der Schutzstrategie des Staates zur Bekämpfung des Coronavirus darstellt.
Der Teilhabeanspruch findet seine Grenzen in den vorhandenen Kapazitäten. Dabei muss die Vergabe so geregelt werden, dass eine gleichheitsgerechte Verteilung sichergestellt ist (vgl. hierzu etwa BVerfG, U. v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 u. a. – beckonline Rn. 107), was ein sachgerechtes Kriterium für die Vergabe der jeweiligen Leistung erfordert (BVerfG, a. a. O., Rn. 128, 132). Dabei darf sich die Antragsgegnerin in einem Massenverfahren wie der hier streitgegenständlichen Impfkampagne gegen das SARS-CoV-2-Virus bei der Frage nach sachgerechten Kriterien auch Generalisierungen, Typisierungen und Pauschalierungen bedienen, ohne dass damit unvermeidlich verbundene Härten im Einzelfall einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz begründen (vgl. OVG NRW, B.v. 22. Januar 2021 – 13 B 58/21 – juris Rn. 10). Außerdem kommt dem Verordnungsgeber und im Falle eines direkten Teilhabeanspruchs auch der vollziehenden Gewalt ein Gestaltungsspielraum zu, so dass nicht zwingend nur eine einzige denkbare Lösungsmöglichkeit der Priorisierungsproblematik in Betracht kommt (ebenso im Zusammenhang mit COVID-19-Impfungen SG Oldenburg, B. v. 21.1.2021 – S 10 SV 1/21 ER – juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, B. v. 11.1.2021 – 20 L 1812/20 – juris Rn. 50).
Im vorliegenden Fall ist die von der Antragsgegnerin verfolgte Impfreihenfolge von sachlichen Kriterien getragen und hält sich im Rahmen des Gestaltungsspielraums. Die derzeitig vorrangig durchgeführte Impfung von Personen, die unter die höchste Priorisierungsstufe nach den der CoronaImpfV zugrundeliegenden Kriterien fallen, ist nicht zu beanstanden. Das Risiko für schwere oder tödliche Verläufe einer COVID-19-Erkrankung, das berufsbedingte Infektionsrisiko, die Zugehörigkeit zu Berufsgruppen der kritischen Infrastruktur sowie der Gefährdung aufgrund der Wohn-, Lebens- und/oder Arbeitsverhältnisse stellen tragfähige sachliche Gründe dar, die Priorisierung bei der Impfstoffvergabe zugrunde liegen. Soweit die Impfpriorisierung an gesundheits- bzw. altersbedingten Risikofaktoren fest gemacht wird, beruht dies auf wissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, 2/2021, 14. Januar 2021, Beschluss der STIKO zur 1. Aktualisierung der COVID-19-Empfehlung, S. 33 ff.), im Übrigen auf Beobachtungen, Einschätzungen von Fachexperten und Gemeinwohlüberlegungen (a. a. O., S. 40 ff.) und erweist sich als naheliegend und nachvollziehbar. Dem Beschluss der STIKO lässt sich etwa entnehmen, dass das Risiko für einen Krebspatienten, infolge einer COVID-19-Erkrankungen hospitalisiert zu werden (Risikowert 1,15) oder an COVID-19 zu versterben (Risikowert: 1,15) deutlich geringer ist als das Risiko einer Person von 80 Jahren oder älter, infolge einer COVID-19-Erkrankungen hospitalisiert zu werden (Risikowert 4,5) oder zu versterben (Risikowert 16,9).
Dass die Impfpriorisierung dabei in pauschalierender Weise erfolgt, ist, wie bereits dargelegt wurde, gerechtfertigt, um dem Pandemiegeschehen möglichst effektiv entgegenzuwirken zu können. Einzelfallentscheidungen bedarf es somit grundsätzlich nicht.
Soweit der Antragsteller darzulegen versucht hat, dass ihm wegen der besonderen Schwere seiner Krebserkrankung ein ungleich höheres Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer Covid-19-Erkrankung droht, ist dies unabhängig von der grundsätzlich mangelnden Berücksichtigungsfähigkeit individueller, Risiko erhöhender Umstände in der Kürze der Zeit anhand der vorgelegten Unterlagen für das Gericht nicht hinreichend nachvollziehbar. Es erschließt sich dem Gericht insbesondere nicht, inwieweit sich das den Antragsteller treffende Sterblichkeitsrisiko im Verhältnis zu dem Sterblichkeitsrisiko von Bewohnern eines Pflegeheims bewerten lässt, die nicht an einer vergleichbaren Erkrankung leiden, aber gegebenenfalls. älter sind, an Grunderkrankungen leiden und einem ungleich höheren Ansteckungsrisiko wegen ihrer Unterbringung in einer ausbruchsgefährdeten Einrichtung ausgesetzt sind. Dies würde eine umfassende Bewertung aller Umstände erfordern, die das Gericht anhand der vorgelegten Unterlagen und in der Kürze der Zeit nicht leisten kann. Selbst wenn sich individuell ein höheres Sterberisiko des Antragstellers ergäbe, wären nach dem den Empfehlungen der STIKO und von der Antragsgegnerin angewandten Priorisierungssystem auch epidemiologische Erwägungen in die Betrachtung einzubeziehen wie etwa die Verhinderung weiterer Ausbruchsgeschehen in Alten- und Pflegeheimen. Es ist nach alledem nicht ersichtlich, dass die von der Antragstellerin vorgenommene Priorisierung sachwidrig wäre. Es ist auch nicht ersichtlich, dass einzig und allein die vorrangige Impfung des Antragstellers eine sachgerechte Entscheidung darstellen würde. Zudem würde die vorrangige Impfung des Antragstellers gleichzeitig zu einer Zurückstellung eines an sich mit höchster Priorität impfberechtigten darstellen, die angesichts der knappen Verfügbarkeit des Impfstoffs nicht sachgerecht wäre.
Das Gericht verkennt nicht die den Antragsteller im Einzelfall treffende Härte. Gleichwohl erweist sich die von der Antragstellerin vollzogene vorgenommene Priorisierung insgesamt nicht nur als sachgerecht, sondern trotz der mit ihr einhergehenden möglichen Benachteiligung Einzelner infolge des Außerachtlassens individueller risikoerhöhender Umstände der jeweiligen Einzelperson auch als angemessen, dient sie doch der bestehenden Schutzpflicht des Staates hinsichtlich Leben und Gesundheit der gesamten Bevölkerung sowie dem Erhalt der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems.
Soweit der Antragsteller zuletzt auf einen Zeitungsartikel Bezug nimmt, wonach in einem … Klinikum ein studentischer Mitarbeiter mit einem Schreibtischjob bereits geimpft wurde, führt dieses pauschale Vorbringen zu keinem anderen Ergebnis, da die Hintergründe dieses Einzelfalls nicht bekannt sind. So ist es denkbar, dass trotz dieser Tätigkeit ein sehr hohes Expositionsrisiko aufgrund des Kontaktes zu anderen Personen besteht, so dass der Student zu der von § 2 Nr. 4 CoronaImpfV erfassten Gruppe zählt und im Einklang mit den aktuellen Vorgaben geimpft wurde.
2. Der Antrag ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
3. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz i. V. m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Angesichts der Vorwegnahme der Hauptsache erachtet es das Gericht für sachgerecht, den Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.


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