Medizinrecht

Arzthaftungsprozess: Anforderungen an die Aufklärung des Patienten bei Anwendung einer nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode; vollständige Aufklärung des Patienten als Voraussetzung der hypothetischen Einwilligung und eines Entscheidungskonflikts; Anforderungen an die Substantiierung des klagebegründenden Vortrags

Aktenzeichen  VI ZR 401/19

Datum:
18.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:180521UVIZR401.19.0
Normen:
§ 280 Abs 1 S 1 BGB
§ 823 BGB
§ 138 Abs 1 ZPO
§ 286 ZPO
Spruchkörper:
6. Zivilsenat

Leitsatz

1. Bei der Anwendung einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode sind zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung zu stellen. Dem Patienten müssen nicht nur das Für und Wider dieser Methode erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht medizinischer Standard ist. Eine Neulandmethode darf nur dann am Patienten angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt.
2. Gedankliche Voraussetzung der hypothetischen Einwilligung ist die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung. Diese Hypothese ist auch der Beurteilung der Frage zugrunde zu legen, ob der Patient einen Entscheidungskonflikt plausibel gemacht hat. Der Tatrichter hat dem Patienten vor seiner – zur Feststellung der Frage, ob dieser in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, grundsätzlich erforderlichen – Anhörung mitzuteilen, welche Aufklärung ihm vor dem maßgeblichen Eingriff richtigerweise hätte zuteilwerden müssen.
3. Zu den Anforderungen an die Substantiierung des klagebegründenden Vortrags.

Verfahrensgang

vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 11. September 2019, Az: 5 U 81/19vorgehend LG Aurich, 26. Februar 2019, Az: 5 O 1141/16

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 11. September 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die gegen die Beklagten zu 1 und 2 gerichtete Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Aurich vom 26. Februar 2019 zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 3 in der Revisionsinstanz, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Der im September 1977 geborene Kläger nimmt die Beklagten auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung in Anspruch.
2
Am 2. März 2011 ließ sich der Kläger in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Klinikum eine Bandscheibenendoprothese implantieren. Den Eingriff führte der Beklagte zu 2 durch, der damals Chefarzt der Klinik für Wirbelsäulenchirurgie war. Er verwendete eine von der mittlerweile insolventen R. T. Limited (nachfolgend: Fa. R.) hergestellte Bandscheibenendoprothese des Typs “Cadisc-L”, die vollständig aus Kunststoff gefertigt war und anders als die übrigen am Markt gebräuchlichen Implantate keinen äußeren Titanmantel aufwies. Am 31. März 2011 rief die Fa. R. eine Charge dieses Prothesentyps, der auch die dem Kläger implantierte Prothese angehörte, zurück. Am 29. September 2014 rief die Herstellerin sämtliche Prothesen dieses Typs zurück. Im Jahr 2014 traten beim Kläger Schmerzen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule auf. Die daraufhin veranlassten bildgebenden Untersuchungen zeigten, dass sich Teile des Prothesenkerns gelöst hatten, in den Spinalkanal gewandert waren und auf die Wurzel S 1 links drückten. Die Prothese wurde deshalb am 30. Juni 2014 durch den Beklagten zu 2 entfernt und durch einen Cage ersetzt. Ein weiterer Eingriff zur Fixierung des Segmentes L 4/5 erfolgte am 2. Juli 2014. Operateur war zunächst der Beklagte zu 2 und im weiteren Verlauf der ehemalige Beklagte zu 3. Wegen einer Fehlpositionierung der Pedikelschraube L 5 rechtsseitig nahm der Beklagte zu 2 einen Revisionseingriff am 7. Juli 2014 vor.
3
Der Kläger macht geltend, der Einsatz der Kunststoffendoprothese sei behandlungsfehlerhaft gewesen, weil die Herstellerin bereits im Jahr 2010 sämtliche Kliniken über Probleme mit den Prothesen der genannten Charge informiert und Rückrufaktionen durchgeführt habe und der Beklagte zu 2 hiervon Kenntnis gehabt haben müsse. Weiterhin sei der Eingriff vom 2. März 2011 mangels Aufklärung über die mit dem Einsatz der neuartigen Kunststoffprothese verbundenen Risiken nicht durch eine Einwilligung gedeckt.
4
Das Landgericht hat die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, Ersatz materieller Schäden und Feststellung der Ersatzverpflichtung der Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit der vom Senat in Hinblick auf die Beklagten zu 1 und 2 zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.


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