Medizinrecht

Besoldungsgruppe, Disziplinarverfahren, Marke, Soldat, Dienstvergehen, Medizin, Kollision, Soldaten, Berufung, Wiedereinstellung, Beschwerde, Fahrer, Arbeitssuchender, Zeitpunkt, amtliches Kennzeichen, Soldat auf Zeit, Leib oder Leben

Aktenzeichen  S 5 VL 36/18

Datum:
27.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 53379
Gerichtsart:
Truppendienstgericht Süd
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Soldat wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Soldaten erwachsenen notwendigen Auslagen hat der Bund zu tragen.

Gründe

I.
Der 32 Jahre alte Soldat, der nach Einbürgerung deutscher Staatsangehöriger ist, erwarb im Juni 2003 den Hauptschulabschluss an der Sturmiusschule – Grund- und Hauptschule der Stadt F – und wurde nach einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme ab August 2005 bis Juni 2008 erfolgreich zum Maurer ausgebildet.
Nach einer kurzen Tätigkeit im erlernten Beruf trat er am 7. Januar 2009 seinen neunmonatigen Grundwehrdienst bei der 7./Bataillon elektronische Kampfführung Y in H an. Nachdem der Soldat anschließend freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst von 14 Monaten geleistet und danach die Bundeswehr verlassen hatte, wurde er nach einer Tätigkeit als Maurer und Fabrikarbeiter sowie einer Zeit als Arbeitssuchender zum 2. Juli 2012 bei der 1./Lazarettregiment V in U als Soldat auf Zeit im Dienstgrad Hauptgefreiter wiedereingestellt. Am 20. Juli 2012 wurde er in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Seine Dienstzeit wurde zunächst auf fünf Jahre und 11 Monate und zuletzt auf zwölf Jahre festgesetzt; sie endet planmäßig mit Ablauf des 31. Juli 2022.
Der Soldat wurde zuletzt am 11. März 2016 zum Oberstabsgefreiten befördert.
Nach seiner Wiedereinstellung bei der 1./Lazarettregiment VV in U wurde er unter Wechsel der Teilstreitkraft von der Luftwaffe zum Heer und unter Wechsel der Truppengattung von Allgemeiner Medizin zur Sanitätstruppe zum 1. Januar (Dienstantritt: 7. Januar) 2015 zur 1./Sanitätsregiment X in D versetzt. Dort wird er gegenwärtig als Sanitätssoldat und Kraftfahrer CE eingesetzt.
Der Soldat wechselte mehrfach die Teilstreitkraft und damit den Uniformträgerbereich; zuletzt wurde am 5. April 2018 vom Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr ein Dienstpostenwechsel mit Wechsel der Teilstreitkraft von Marine zur Luftwaffe und der Truppengattung von Humanmedizin zu Flugabwehrraketen-Kampf verfügt.
Vom 16. September 2013 bis 8. Februar 2014 hatte der Soldat im Rahmen des I. Deutschen Einsatzkontingents KFOR Dienst im Zug Elektronische Kampfführung KFOR Gate 2 in P geleistet.
Der Soldat wurde bisher nicht beurteilt.
In einer „Stellungnahme zur Aushändigung der Dienstfahrerlaubnis“ vom 21. März 2019 beschrieb ihn der Kompaniechef 1./Sanitätsregiment X, Major W, insbesondere als Soldaten, der sich sehr motiviert und positiv zeige und die ihm übertragenen Aufgaben sehr gewissenhaft und im Sinne der übergeordneten Führung erfülle. Er besteche durch ein sehr gutes Kommunikations- und Informationsverhalten. Sowohl sein sehr vorbildliches militärisches Verhalten als auch der Umgang mit Vorgesetzten und Kameraden sei beispielgebend in der Kompanie. Diese positiven Eigenschaften würden zusätzlich durch die Tatsache untermauert, dass er als Vertrauensperson der Mannschaften gewählt worden sei.
Der Kompaniechef der 1./Sanitätsregiment X, Major J, beschrieb als Leumundszeuge den Soldaten, den er mit Kompanieübernahme seit dem 1. Oktober 2020 kenne, als sehr loyal, ehrlich, eher introvertiert, zuverlässig und ruhig. Jener, der Vertrauensperson der Mannschaften sei, zeige eine hohe Einsatzbereitschaft und erbringe gute Leistungen. Der Leumundszeuge verortete ihn leistungsmäßig im oberen Feld des mittleren Drittels.
Der Soldat verfügt über keine Auszeichnungen, Abzeichen, etc.. Ihm wurde am 23. Oktober 2017 eine Leistungsprämie gemäß § 42a des Bundesbesoldungsgesetzes in Höhe von 800 € als Einmalzahlung gewährt.
Sowohl die Auskunft aus dem Zentralregister vom 10. November 2020 als auch der Auszug aus dem Disziplinarbuch vom 16. November 2020 weisen keine Eintragungen auf.
Ausweislich einer Mitteilung des Bundesverwaltungsamtes – Außenstelle S -vom 2. Dezember 2020 erhält der ledige Soldat, der Vater zweier, im Haushalt mit ihm lebender Kinder (im Alter von zwei und drei Jahren) ist, Dienstbezüge nach der Besoldungsgruppe A5 EZ in der fünften Stufe. Die monatlichen Bezüge für Dezember 2020 betrugen 3.097,58 € brutto und 2.508,05 € netto, die tatsächlich ausgezahlt wurden.
Der Soldat hat monatliche Verpflichtungen in Höhe von ca. 2.000 bis 2.200 €.
Seine finanziellen Verhältnisse bezeichnete er als sehr angespannt.
II.
Mit Verfügung vom 3. April 2018, dem Soldaten ausgehändigt am 11. April 2018, hat der Kommandeur Kommando Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung, (damalig) Generalstabsarzt K, das gerichtliche Disziplinarverfahren eingeleitet.
Die zuständige Vertrauensperson, Oberstabsgefreiter L, war am 21. Februar 2018 gehört und das Ergebnis der Anhörung dem Soldaten vor Einleitung bekanntgegeben worden Auf die Durchführung des Schlussgehörs verzichtete der Soldat durch Schriftsatz seiner Verteidiger vom 21. Juni 2018. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich des Kommandos Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung (im Folgenden: Wehrdisziplinaranwaltschaft) hat dem Soldaten mit Anschuldigungsschrift vom 27. September 2018, beim Truppendienstgericht eingegangen am 19. Oktober 2018, dem Soldaten ausgehändigt am 30. Oktober 2018, folgenden Sachverhalt als Dienstvergehen zur Last gelegt:
„Der Soldat führte am 04.12.2017 gegen 08.30 Uhr auf dem Truppenübungsplatz N in O als Fahrer den mit 32 Teilnehmern der ELUSA IV 2017 besetzten Dienst-KOM, amtliches Kennzeichen 005, unter Abweichung von der befohlenen Fahrtstrecke in für den Verkehr gesperrte Gefahrenbereiche, wobei er Einfahrverbotsschilder, welche gleichzeitig auf Schießbetrieb und Lebensgefahr hinwiesen, missachtete und selbst Warnbarken öffnete und danach wieder verschloss sowie Schilder verrückte, um die Einfahrt für den Bus zu ermöglichen, obwohl ihm als Kraftfahrer bekannt war, dass Straßen und Wege nicht befahren werden dürfen, die durch Verbotsschilder gesperrt sind. Auf Grund seiner Handlungen geriet er mit dem KOM, was er billigend in Kauf nahm, sich ihm zumindest aber hätte aufdrängen müssen, in den Zielbereich der Schießbahn 6, auf der ein Schießen einer Fremdtruppe bereits begonnen hatte.“
Der Vertreter der Wehrdisziplinaranwaltschaft erklärte in der Hauptverhandlung auf Nachfrage des Vorsitzenden, dass bezüglich der Formulierung „befohlene Fahrtstrecke“ keine Befehlsverletzung gemeint sei. An dem vorgeworfenen Ungehorsam werde nicht festgehalten.
III.
Die Truppendienstkammer (im Folgenden: Kammer) hat aufgrund der Einlassung des Soldaten, soweit ihr gefolgt werden konnte, der Aussage des Zeugen Oberstleutnant Q, der verlesenen schriftlichen Aussagen der Zeugen Hauptfeldwebel R und Oberstabsgefreiter T, von Inaugenscheinnahmen und der zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachten Urkunden folgenden Sachverhalt festgestellt:
Am Morgen des 4. Dezember 2017 (Montag) fuhr der Soldat 32 Hörsaalangehörige aus dem Bereich Allgemeinmilitärische Kompetenz des Ausbildungs- und Simulationszentrums Sanitätsregiment 3 sowie den – anderweitig verfolgten – Hörsaalleiter Oberstabsfeldwebel AB mit einem Kraftomnibus der Marke Mercedes-Benz Tourismo (im Folgenden: Bus) der Bundeswehr Fuhrpark Service GmbH, amtliches Kennzeichen: 005, von D zum Truppenübungsplatz N bei O zwecks Teilnahme an der Abschluss(schieß)übung im Rahmen der sog. Einsatzlandunspezifischen Ausbildung (ELUSA) IV 2017.
Der Soldat kannte trotz mehrfachen, aber erfolglos gebliebenen Bemühens das genaue Fahrtziel und den Weg dorthin nicht; er war zuvor noch nicht auf dem Truppenübungsplatz N gewesen. Ihm war seitens Angehöriger des Ausbildungs- und Simulationszentrums Sanitätsregiment X gesagt worden, dass er am Morgen vor der Abfahrt unterrichtet werde. Zu einer für den Soldaten hilfreichen Information kam es dann aber nicht. Dem Soldaten wurde jedoch bei Fahrtbeginn durch Hauptfeldwebel BC (Ausbildungs- und Simulationszentrum Sanitätsregiment X) vermittelt, dass Oberstabsfeldwebel AB der – in der Truppe üblicherweise so genannter – „Führer des Busses“ sei. Ursprünglich sollte Letztgenannter in einem anderen Fahrzeug mitfahren. Wegen eines Planungsversäumnisses des für die Abschlussübung verantwortlichen Hauptfeldwebel BC in Bezug auf die Einteilung eines Sicherungssoldaten – die im Bus mitfahrenden Hörsaalangehörigen führten Waffen mit, Oberstabsfeldwebel AB trug (wohl) als Einziger eine Pistole mit „scharfer“ Munition -, aber auch auf eigenen Wunsch – wegen seiner damaligen Funktion als Hörsaalleiter – fuhr Oberstabsfeldwebel AB schließlich aufgrund einer Festlegung vor Ort im Bus mit. Er hatte von den Businsassen nicht den höchsten Dienstgrad; darunter befanden sich Stabsoffiziere, Dienstgradhöchste war eine Oberfeldärztin. Er saß im Bus auf dem Beifahrersitz neben dem Soldaten.
Die Navigation zum Zielort (Schießbahn 9, Truppenübungsplatz N) gestaltete sich kurz vor Erreichen des Truppenübungsplatzes schwierig: Der Soldat kannte den Weg zum Zielort nicht; ihm war nur gesagt worden, dass er in die Kaserne in O fahren solle. Zu Beginn der Fahrt hatte er diesen Ort in das Navigationsgerät eingegeben. Da jenes aber später Probleme verursachte und keine Route für den Truppenübungsplatz auswies und der Versuch des Anforderns einer Begleitung des Busses durch einen angeforderten „Wolf“ (Mercedes-Benz Geländewagen der Bundeswehr) misslang, ergriff Oberstabsfeldwebel AB, der sich auf eine Kenntnis des Fahrers verlassen hatte und ebenfalls den Weg vom jeweiligen Standort zur Schießbahn 9 trotz vorheriger Erkundung nicht kannte, ab EE die Initiative und gab dem Soldaten die verbleibende Fahrtstrecke mittels einer Handynavigation (mit vorheriger Standortbestimmung via WhatsApp) vor.
Der Bus erreichte den Truppenübungsplatz N über eine schmale, nach Angabe des Soldaten schneebedeckte Seiten straße vom Ort FF kommend. Nach abschüssiger Zufahrt auf die vorfahrtsberechtigte Ring straße des Truppenübungsplatzes N, die als solche weder vom Soldaten noch von Oberstabsfeldwebel AB erkannt wurde – nach deren Angaben war sie schneebedeckt, was der Zeuge Oberstleutnant Q als ortskundiger Kommandant des Truppenübungsplatzes im Hinblick auf die regelmäßige Schneeräumtätigkeit des Winterdienstes ab etwa 5 Uhr morgens und mangels starken Schneefalls an diesem Tag bezweifelte -, wies Oberstabsfeldwebel AB den Soldaten an, über die – nicht als solche erkannte – Ring straße hinweg geradeaus zu fahren. Wäre der Bus nach rechts abgebogen, hätte er die Schießbahn 9 auf der Ring straße nach kurzer Zeit auf direktem Weg erreicht. Die Ring straße hätte nach Einschätzung des Zeugen Oberstleutnant Q aufgrund der Beschilderung an der Kreuzung (Vorfahrtsstraße, Hinweisschilder zu Schießbahnen) und der Breite der Straße erkannt werden können. Weniger als 50 m weiter auf der rechten Straßenseite der tatsächlich befahrenen ansteigenden und nach Angabe des Soldaten ebenfalls schneebedeckten Straße gab es eine teilweise in die Fahrbahn hineinragende, rot-weiße Schranke mit dem (Verkehrs-) Zeichen 250 „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (i.S.d. Nr. 28, Anlage 1 der Straßenverkehrsordnung) und der Aufschrift „Durchfahrt verboten“ am linken Ende zur Fahrbahnmitte hin. Mittiglinks an der Schranke war ein rechteckiges Schild mit der Aufschrift „Halt! Scharfschießen! Lebensgefahr!“ angebracht. Links von der Schranke war bis zur einige Meter weiter entfernten „gespiegelten“ Schranke auf der Gegenfahrbahn jedoch ausreichend Platz, diese zu umfahren.
Der Einlassung des Soldaten, die vorgenannten Schilder und Schranken aufgrund der Wetterverhältnisse und wegen seiner starken Konzentration auf den Weg, um ein Wegrutschen des Busses zu verhindern, nicht wahrgenommen zu haben, schenkte die Kammer letztlich Glauben. Da die genauen Sicht- und Witterungsverhältnisse an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu ermitteln waren, der Soldat insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck machte und sonst begangene Fehler zugestand, nahm die Kammer an, dass der Soldat tatsächlich den Warncharakter der Schranken und Schilder dort nicht erkannte. Der Zeuge Oberstleutnant Q bestätigte allgemein, dass Schilder dort im Winter bei entsprechenden Windverhältnissen zugeschneit und nicht mehr lesbar sein könnten. Da es sich zumal um versetzte Teilschranken handelte, liegt es innerhalb der Wahrscheinlichkeit, dass diese bei der herrschenden winterlichen Witterung für nicht mit den Gegebenheiten des Truppenübungsplatzes N Vertraute nicht als Sperre erkannt wurden. Auch war der Untergrund der befahrenen Straße mit einem alten, rutschigen Kopfsteinpflaster versehen, das keine Griffigkeit entstehen ließ und damit einem Busfahrer bei Schneebedeckung verstärkte Aufmerksamkeit abverlangte und somit die behauptete Fokussierung und Ausblendung anderer „Informationen“ nachvollziehbar erscheinen lässt. Der Soldat sprach – trotz seiner Erfahrung als Busfahrer bei hoher Kilometerleistung (ca. 17.000 km in einem Jahr) – von einer Reizüberflutung, der er bei der Fahrt über den Truppenübungsplatz ausgesetzt gewesen sei und die ihn stark gefordert habe. Er habe ein Wegrutschen des Busses in einen Graben und eine Kollision mit Gegenständen (wie später im Wald) durch Spiegelarbeit und hohe Konzentration unbedingt vermeiden wollen. Das sei anstrengend gewesen.
Der Soldat fuhr dann nach Vorgabe des Oberstabsfeldwebels AB an der (Halb-) Schranke vorbei weiter, bis er nach etwa eineinhalb Kilometern auf einen Baustellenbereich stieß (ehemalige Schießbahn 10). Auf der Fahrbahn standen, um wenige Meter versetzt, rot-weiße (mobile) Schranken der Baufirma, wobei die vordere auf der rechten Seite, etwa bis zur Fahrbahnmitte reichende mit einem rechteckigen Schild mit der Aufschrift „Halt! Scharfschießen! Lebensgefahr!“ versehen war. Außerdem befand sich dahinter neben der rechten Fahrbahn ein (Verkehrs-) Zeichen 250 (i.S.d. Straßenverkehrsordnung) „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (Nr. 28, Anlage 1 der Straßenverkehrsordnung) mit der Aufschrift „Scharfschießen“. Ob Letzteres fest verankert oder wie die Schranken auch mobil einsetzbar war, konnte nicht sicher aufgeklärt werden. Als der Soldat diese Schranken und das Schild sah, drehte er zunächst eigenständig mit dem Bus, um wieder zurückzufahren, und stellte ihn zunächst quer zur Fahrtrichtung ab. Seine Absicht teilte er Oberstabsfeldwebel AB mit, der daraufhin ausstieg und die rechte Schranke zur Seite trug. Vermutlich trug der Soldat die linke Schranke weg, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnerte; dies ergibt sich aus der verlesenen Aussage des Zeugen Oberstabsgefreiter T. Stimmig dazu ist, dass der Soldat nach eigener Aussage aus dem Bus ausstieg, um zu urinieren und schnell eine Zigarette zu rauchen, und dabei eine auf der Fahrbahn liegende schwarze Fußplatte aus Kunststoff wegräumte. Der Soldat fuhr danach nach Vorgabe des Oberstabsfeldwebels AB mit dem Bus durch die freigemachte Sperre. Danach stellten der Soldat und Oberstabsfeldwebel AB die Schranken und die Fußplatte wieder an den vorherigen Ort. Mit Durchqueren der Baustelle gelangte der Bus in den (abstrakten) Gefahrenbereich des Truppenübungsplatzes N.
Der sog. Tagesgefahrenbereich, der an einem Tag den konkreten Gefahrenbereich des Truppenübungsplatzes angibt, hängt davon ab, welche Schießbahnen tatsächlich genutzt werden. Am 4. Dezember 2017 wurde laut „Platz-Frei-Meldung“ als erste die Schießbahn 4 – ab 9:34 Uhr – genutzt und als zweite die Schießbahn 6 – ab 9:51 Uhr -, jeweils für ein Schießen mit Handwaffen.
Oberstabsfeldwebel AB wollte trotz der vom Soldaten geäußerten Bedenken und dessen Vermutung, dass er mit dem Bus nicht mehr herauskomme, dass der Soldat sodann in den Wald einfährt. Dies geschah dann auch. Der Forstweg im Wald wurde enger, Äste ragten hinein, auf der linken Seite war eine stark abfallende Böschung, auf der rechten ging es zum Teil steil bergauf; am Rand befanden sich hin und wieder Holzstapel. Der Soldat musste sich stark konzentrieren und hatte Mühe, dort ohne Schäden am Bus durchzukommen. Im Wald gab Oberstabsfeldwebel AB die Anweisung, einen Weg steil nach rechts bergauf zu fahren. Dies scheiterte in zwei Versuchen. An einem nicht näher feststellbaren Ort im Wald kam es zu einem ca. 60-70 cm langen Lackkratzer an der linken unteren Fahrzeugseite des Busses an einer dort befindlichen Gepäckraumklappe. Dies bemerkte der Soldat allerdings erst später an der Schießbahn 6; er meldete dies sofort seiner Einheit.
Der Bus verließ sodann den Wald und fuhr weiter auf einer asphaltierten Straße am Waldesrand in Richtung Schießbahn 5 (Nachbarschießbahn der Schießbahn 6), bevor Oberstabsfeldwebel AB den Soldaten anwies, nach rechts in den Wald hineinzufahren. Das tat jener auch. Nach etwa 300 m, um ca. 10:00 Uhr, gelangte der Bus auf eine freie Fläche und durchquerte diese in einem Halbbogen zu einer Schranke hin, wo auf der anderen Seite ein Torposten stand, was den Soldaten verwunderte. Bei der zuletzt durchfahrenen Strecke handelte es sich, was weder der Soldat noch Oberstabsfeldwebel AB realisiert hatte, um den nordöstlichen Teil der Schießbahn 6. Der Soldat steuerte den Bus (unbewusst) durch Zielgruppen dieser Schießbahn, auf der seit 09:51 Uhr geschossen wurde (gemäß Schießanmeldung Gewehr G 36, Maschinengewehr MG 3 und Signalpistole). Mit welchen Waffen genau die Soldaten der 1./Feldwebel-/Unteroffizierbataillon XX, Unteroffizierschule des Heeres, zu diesem Zeitpunkt schossen, ist nicht bekannt. Beim Sichten des Busses befand sich die 1. Gruppe dieser Einheit gerade in den Stellungen beim „Drillschießen“ (hier vermutlich gemeint: ein Schießen unter Zeitdruck mit höherem Munitionsverbrauch) im „scharfen“ Schuss. Das Schießen wurde sofort unterbrochen und der Vorfall an die Range Control der Truppenübungsplatzkommandantur gemeldet. Erst nach deren Eintreffen und einer ersten Lagefeststellung durfte der Bus die Schießbahn 6 verlassen und über die Ring straße zur Schießbahn 9 fahren.
Um die Mittagszeit mussten sich der Soldat zusammen mit Oberstabsfeldwebel AB bei der Truppenübungsplatzkommandantur anlässlich der Erstellung eines sog. Besonderen Vorkommnisses einfinden.
IV.
Der Soldat war freizusprechen, da er durch das festgestellte Verhalten kein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 des Soldatengesetzes (SG) begangen hat.
Zwar hat er objektiv und subjektiv gegen verschiedene Disziplinartatbestände verstoßen (dazu 1.). Er unterlag jedoch einem unvermeidbaren Irrtum über einen Entschuldigungsgrund (Handeln aufgrund eines zwar rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehls), der zum Wegfall der Schuld führt (dazu 2.).
Damit fehlt es an der für die Bejahung eines Dienstvergehens erforderlichen Schuldhaftigkeit der einzelnen Dienstpflichtverletzungen.
1. Der Soldat hat objektiv und subjektiv mehrere Disziplinartatbestände verwirklicht.
Durch das verbotene Einfahren in den Gefahrenbereich des Truppenübungsplatzes N, gesteigert durch das Durchqueren der genutzten Schießbahn 6, als Fahrer eines mit über 30 Soldaten besetzten Busses und durch die damit einhergehende Gefährdung der Insassen des Busses an Leib oder Leben hat er objektiv gegen die Treuepflicht (§ 7 1. Alternative SG), die Kameradschaftspflicht (§ 12 Satz 2 SG) und die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 1 2. Alternative SG) verstoßen.
Er handelte dabei bezüglich der erstgenannten Pflicht teils vorsätzlich, teils fahrlässig und hinsichtlich der anderen fahrlässig.
a) Der Soldat hat gegen die Treuepflicht in Ausprägung der Pflicht, dienstlichen Anweisungen nachzukommen, verstoßen, weil er durch sein Verhalten die Nrn. 501 und 527 der ihm als Kraftfahrer zumindest in den Grundzügen bekannten Allgemeinen Regelung A-1050/11 („Betrieb von Dienstfahrzeugen“) missachtete, welche die Einhaltung von straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen verlangen. Zu Letzteren zählen das oben unter III. angeführte (Verkehrs-) Zeichen 250 „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (i.S.d. Nr. 28, Anlage 1 der Straßenverkehrsordnung) mit der Aufschrift „Durchfahrt verboten“ am linken Ende zur Fahrbahnmitte hin an der ersten Schranke sowie das rechteckige Schild an der Baustelle mit der Aufschrift „Halt! Scharfschießen! Lebensgefahr!“ und das dahinter neben der rechten Fahrbahn stehende (Verkehrs-) Zeichen 250 „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (i.S.d. Nr. 28, Anlage 1 der Straßenverkehrsordnung) mit der Aufschrift „Scharfschießen“.
Nach Nr. 328 der „VS-Nur für den Dienstgebrauch“-eingestuften Zentralrichtlinie A2-220/0-0-5 („Übungsplätze und Schießanlagen im Standort“) gilt auf öffentlichen Straßen eines Übungsplatzes, wozu nach Nr. 206 Truppenübungsplätze zählen, die Straßenverkehrsordnung; für nichtöffentliche Straßen muss danach das Verhalten der Verkehrsteilnehmer grundsätzlich diesen Bestimmungen entsprechen. Nach Nr. 204 der Allgemeinen Regelung A-1050/11 kommt bei einer notwendigen Abweichung von Schutz- und Sicherheitsbestimmungen zudem dem Schutz von Leib und Leben beim Abwägen der Möglichkeiten die höchste Priorität zu.
b) Ein Verstoß gegen die Kameradschaftspflicht ist trotz eines fehlenden Schadenseintritts im Hinblick auf Leben und/oder körperliche Unversehrtheit der anderen Businsassen als sonstige Rechte i.S.d. § 12 Satz 2 SG deshalb anzunehmen, weil aufgrund der Umstände die Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden, konkreten Schadenseintritts bestand, was nach dem Wortlaut („achten“) insoweit ausreicht (vgl. auch Eichen/Metzger/Sohm, Soldatengesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2020, § 12 Rn. 10 mit Rechtsprechungsfundstellen). Die Gefährdung ist ihm aufgrund seines Vorverhaltens auch zuzurechnen, da sich darin das vorher geschaffene Risiko verwirklichte.
c) Wer Kameraden, für die der Soldat als Kraftfahrzeugführer/Busfahrer verantwortlich war, durch bewusste Missachtung von nicht nur einmaligen, zudem objektiv eindeutigen Warnhinweisen einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben aussetzt, verliert potentiell an dienstlichem Ansehen bei Gleichgestellten und Vorgesetzten. Der Eintritt eines konkreten Ansehensverlustes ist bei § 17 Abs. 2 Satz 1 SG nicht erforderlich.
d) Was § 7 1. Alternative SG betrifft, handelte er hinsichtlich der Schilder und Schranken unmittelbar nach Überqueren der Ring straße nach dem oben zum Sachverhalt Gesagten nur fahrlässig, da er nach Ansicht des Gerichts diese nicht erkannte; ein vorbildlicher Fahrer hätte jedoch diese – auch unter Beachtung der Witterungsverhältnisse noch erkennbaren – erkannt und beachtet. Der Soldat war ein erfahrener Kraftfahrzeugführer. Hinsichtlich der Einfahrt in den hinter dem Baustellenbereich liegenden Gefahrenbereich handelte er vorsätzlich. Er wusste durch das eigenhändige Wegschaffen der mobilen Schranke, dass die Weiterfahrt untersagt war, und setzte seine Fahrt trotz dessen fort (zur rechtlichen Würdigung der Anweisung dazu siehe unten).
Was § 12 Satz 2 SG betrifft, war ihm zwar nicht bewusst, dass er die Businsassen mit dem Ignorieren der Schilder, die auf Scharfschießen und Gefahrenbereiche hinwiesen, einer – später konkret gewordenen – Gefahr für Leib oder Leben aussetzte. Er hätte dies aber erkennen können und müssen, da die Schranken und Schilder eindeutig waren und die Gefahren eines Truppenübungsplatzes jedem Soldaten bekannt sind. Als gewissenhafter Busfahrer hätte er grundsätzlich nicht weiterfahren dürfen.
Hinsichtlich § 17 Abs. 2 Satz 1 SG sah er zwar gleichfalls nicht voraus, dass er Kameraden konkret an Leib und Leben gefährdet und damit sein Handeln zu einem Ansehensverlust führen kann – was sich z.B. später in der Reaktion der Angehörigen der 1./Feldwebel-/Unteroffizieranwärterbataillon XX, Unteroffizierschule des Heeres, nach überraschendem Auftauchen des Busses auf der Schießbahn 6 zeigte; er hätte dies aus dem vorgenannten Grund aber erkennen können und müssen.
2. Der Soldat beging trotz des Vorhergesagten kein Dienstvergehen, weil er für sein rechtswidriges Handeln entschuldigt ist. Denn er glaubte irrtümlich, aufgrund eines für ihn verbindlichen Befehls zu handeln (dazu a)). Dieser Irrtum war für ihn unvermeidbar (dazu b)).
a) Tatsächlich lag bereits deshalb kein Befehl (i.S.d. § 2 Nr. 2 des Wehrstrafgesetzes) vor, da Oberstabsfeldwebel AB kein Vorgesetzter des Soldaten war.
Der Soldat war aufgrund seiner Zugehörigkeit zur 1./Sanitätsregiment X weder nach § 1 Abs. 1 der Vorgesetztenverordnung (VorgV) noch nach § 4 Abs. 1 oder 2 VorgV potentieller Befehlsadressat. Weitere Varianten der VorgV sind nicht einschlägig, insbesondere nicht § 4 Abs. 3 VorgV, da sich beide nicht in einer geforderten umschlossenen (ortsfesten) Anlage aufhielten. Der Truppenübungsplatz N ist jedenfalls nicht durch Schutzvorrichtungen – wie eine Umzäunung oder eine Mauer – gegen unbefugtes Eindringen gesichert (vgl. zur Voraussetzung der Umschlossenheit Hucul in: Eichen/Metzger/Sohm, Soldatengesetz, Kommentar, 4. Auflage 2020, Anhang zu § 1 Rn. 38). Der Bus unterfällt als beweglicher Gegenstand nicht einer „Anlage“.
Der Soldat ging aber davon aus, dass Oberstabsfeldwebel AB ihm vorgesetzt war. Das bekundete er glaubhaft in der Hauptverhandlung. Dies erscheint auch gut nachvollziehbar, da jener im Spitzendienstgrad der Portepeeunteroffiziere war/ist und ihm zudem als „Führer des Busses“ vorgestellt wurde, der in seiner Funktion regelmäßig in der Praxis mit – zumindest angenommener – Weisungsbefugnis verknüpft ist.
Der Soldat nahm die Richtungsbestimmungen durch Oberstabsfeldwebel AB als (An-) Weisungen mit Anspruch auf Gehorsam auf, da sie eindeutig (verkürzt: „geradeaus, rechts, links“) waren und keinen Raum für Interpretation oder „Mitgestaltung“ ließen. So kam es bei Annäherung an die Baustelle vor, dass der Soldat zwar vorschlug, umzukehren, was Oberstabsfeldwebel AB aber mit eindeutigen Vorgaben nicht annahm; vielmehr äußerte er klar seinen Willen, die Baustelle zu durchqueren und dann in den Wald einzufahren.
Wäre Oberstabsfeldwebel AB Vorgesetzter gewesen, hätte damit ein – wegen Missachtung von Dienstvorschriften – zwar rechtswidriger (vgl. § 10 Abs. 4 SG), aber verbindlicher Befehl vorgelegen, der Anspruch auf Gehorsam geboten hätte.
Ein Unverbindlichkeitsgrund, insbesondere nach § 11 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 SG, wäre nicht gegeben gewesen, da das Einfahren in den noch abstrakten Gefahrenbereich hinter der Baustelle mangels konkret absehbarer Gefahr (noch) nicht unzumutbar gewesen wäre oder eine Straftat beinhaltet hätte. Der einzig ansatzweise in Betracht kommende Straftatbestand der Gefährdung im Straßenverkehr (§ 315c Abs. 1, 3 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs [StGB]) scheiterte bereits daran, dass es sich bei den befahrenen Wegen auf dem Truppenübungsplatz N nicht um (öffentlichen) „Straßenverkehr“ i.S.d. Norm handelte und auch die mangels Betäubungs- oder Alkoholeinnahme lediglich denkbare Nr. 2 des § 315c Abs. 1 StGB nicht einschlägig gewesen wäre.
Ein (jeweils) tatsächlich vorliegender rechtswidriger, verbindlicher Befehl wäre als Schuldausschließungsgrund zu werten gewesen, da der Untergebene aufgrund seiner – zudem strafrechtlich bewehrten (vgl. § 20 des Wehrstrafgesetzes) – Gehorsamspflicht nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SG keine rechtliche Alternative zum Handeln gehabt hätte (vgl. im Ergebnis auch Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 67. Auflage 2020, vor § 32 Rn. 8). Der Soldat wäre danach entschuldigt gewesen und hätte kein Dienstvergehen begangen, wenn Oberstabsfeldwebel AB ihm vorgesetzt gewesen wäre.
Dasselbe Ergebnis ist hier anzunehmen, da der Irrtum darüber, dem der Soldat offenkundig unterlag, unvermeidbar war (vgl. § 17 Satz 1 StGB analog).
Von Vermeidbarkeit ist (bei einem wesensähnlichen Verbotsirrtum) auszugehen, wenn dem Täter zum Zeitpunkt der Tathandlung sein Vorhaben unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse hätte Anlass geben müssen, über dessen mögliche Rechtswidrigkeit nachzudenken oder sich zu erkundigen, und wenn er auf diesem Weg zur Unrechtseinsicht gekommen wäre (Fischer, a.a.O., § 17 Rn. 7).
Vorliegend hatte der Soldat aufgrund der besonderen Umstände der Situation (Agieren als Busfahrer bei Zeitdruck und schlechter Witterung mit Fokus auf widrige Straßenverhältnisse; keine realitätsnahe situative Möglichkeit, Kameraden zum Thema zu fragen oder gar Rechtsrat einzuholen; „Dienstgradgefälle“ gegenüber Oberstabsfeldwebel AB und Bestimmtheit dessen Auftretens) und der Eigenart seiner Person (Mannschaftsdienstgrad ohne tiefgehende Ausbildung im Befehlsrecht; Autoritätsgläubigkeit; fehlende Durchsetzungsstärke; Vertrauen auf richtige Entscheidung eines erfahrenen Vorgesetzten) keinen Grund zur Annahme, dass er der angenommenen grundsätzlich bestehenden Gehorsamspflicht nicht nachkommen bräuchte oder dürfte.
Dem Soldaten war deshalb ausnahmsweise kein Schuldvorwurf zu machen.
VI.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 138 Abs. 3 und 4 WDO, die Entscheidung über den Ersatz der notwendigen Auslagen des Soldaten ist § 140 Abs. 1 1. Alternative WDO zu entnehmen.

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