Medizinrecht

Betreibensaufforderung, fiktive Klagerücknahme, Zurückverweisung

Aktenzeichen  L 7 BA 62/21

Datum:
20.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 32580
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 102
SGG § 159

 

Leitsatz

Das bloße Übersenden eines Schriftsatzes zur Stellungnahme erfüllt nicht die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Betreibensaufforderung iSd § 102 SGG zur Annahme einer fiktiven Klagerücknahme.

Verfahrensgang

S 20 BA 62/19 2021-06-29 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 29. Juni 2021 wird aufgehoben und die Rechtssache an das Sozialgericht Nürnberg zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht begründet.
Die Voraussetzungen der Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG lagen nicht vor. Es fehlt an den materiellen Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Eine Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 102 Rz 8a). In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass Vorschriften über eine Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG, Beschlüsse vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95 – und vom 17. September 2012 – 1 BvR 2254/11; vgl. auch BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 74/09 R).
Mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) setzt die Anwendung von § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG voraus, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der – den formalen und inhaltlichen Anforderungen genügenden – Betreibensaufforderung unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, B 4 AS 2/16 R Rz 22, 27) und auch nach der Betreibensaufforderung keine Umstände hinzutreten, die Zweifel daran begründen könnten, dass kein Rechtsschutzinteresse mehr besteht.
Vorliegend bestehen schon im Hinblick auf die bloße Aufforderung, zu einem Schriftsatz der Beklagten „Stellung“ zu nehmen erhebliche Zweifel, ob das Sozialgericht aufgrund sachlich begründeter Anhaltspunkte von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin ausgehen konnte. Denn die Klägerseite hatte zwar zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung auf die zuvor ergangene, auch unter Fristsetzung wiederholte Aufforderung zur Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten nicht reagiert, hatte aber bereits in Schriftsätzen Inhaltliches vorgetragen (vgl HessLSG, Urteil vom 28.04.2015, L 3 U 205/14 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG). Dass die von der Beklagten in ihrem Schriftsatz zur Stellungnahme geäußerte Einschätzung der Sach- und Rechtslage von der zuvor in den Schriftsätzen des Klägers vorgenommenen Bewertung abweicht, liegt in der Natur des Rechtsstreits, erfordert für dessen Fortsetzung und die Annahme des Fortbestehens des Rechtsschutzbedürfnisses des Klägers aber nicht zwingend eine erneute Stellungnahme (vgl HessLSG aaO). Dies gilt umso mehr, als das Sozialgericht wegen seiner Amtsermittlungspflicht gehalten ist, den Sachverhalt von sich aus aufzuklären und damit gehalten ist, den Beteiligten konkrete Vorgaben im Hinblick auf eine evtl noch notwendige Sachverhaltsaufklärung zu machen. Dieser Pflicht ist das Sozialgericht nicht nachgekommen, wenn es einen Schriftsatz ohne weitere Kommentierung lediglich „zur Kenntnis und Stellungnahme“ weiterleitet.
Dem Sozialgericht hätte aber zumindest aufgrund des Schriftsatzes der Klägerseite vom 27.10.2020, mit dem die Klägerseite auf die Betreibensaufforderung vom 06.10.2020 reagiert hat, erkennen müssen, dass der neu bestellte Bevollmächtigte der Klägerin das Verfahren ernsthaft betreibt und die Annahme des Wegfalls eines Rechtsschutzinteresses – gerade auch angesichts der hohen verfassungsrechtlichen Vorgaben – abwegig ist. Dies gilt umso mehr, als der Bevollmächtigte erneut um Einsicht in die Gerichtsakte gebeten hat, was ihm seitens des Sozialgerichts aber mit Schreiben vom 02.11.2020 mit unhaltbarer Argumentation verwehrt wurde. Die Argumentation des Sozialgerichts, dass ein – noch dazu im Laufe des Verfahrens neu bestellter – Bevollmächtigter die Gerichtsakte nicht einsehen dürfe, da Verfahrensbeteiligte alle Schriftsätze des Verfahrens haben müssten, ist schon deshalb unverständlich, weil die Akteneinsicht u.a auch dazu dient, gerade die Vollständigkeit der Übermittlung aller Schriftsätze durch das Gericht zu überprüfen.
Hinzu kommt, dass es auch an einer wirksamen Betreibensaufforderung fehlt. Die Betreibensaufforderung des Sozailgerichts entspricht in keinster Weise den an eine Betreibensaufforderung zu stellenden inhaltlichen Anforderungen.
Inhaltlich ist die Betreibensaufforderung an strengere Voraussetzungen geknüpft als die Annahme des fehlenden Rechtsschutzinteresses (HessLSG, Urteil vom 28.04.2015, L 3 U 205/14).
Selbst wenn man vorliegend davon ausgehen würde, dass aus der fehlenden Stellungnahme der Klägerseite zu dem Schriftsatz der Beklagten auf ein weggefallenes Rechtsschutzinteresse des Klägers geschlossen werden könnte (offengelassen vom HessLSG, Urteil vom 28.04.2015, L 3 U 205/14), kann die Betreibensaufforderung und im Ergebnis auch die Klagerücknahmefiktion regelmäßig nicht allein an eine fehlende Stellungnahme geknüpft werden. Die Regelung dient nicht der Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 74/09 R Rz 51).
Für eine Betreibensaufforderung im Sinne des §§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG genügt nur das Unterlassen solcher Mitwirkungshandlungen, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam und nach der Rechtsansicht des Gerichts notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Entscheidung zu treffen (BSG Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 74/09 R). Der Gesetzgeber nimmt insoweit auf die sich aus § 103 SGG ergebenden Mitwirkungspflichten Bezug (HessLSG, Urteil vom 28.04.2015, L 3 U 205/14). Die Betreibensaufforderung muss bestimmt sein und sich auf konkrete verfahrensfördernde Handlungen beziehen (HessLSG aaO).
Die vorliegend seitens des Sozialgerichts geforderte, nicht näher definierte Stellungnahme diente nicht erkennbar der Feststellung für das weitere Verfahren und dessen abschließender Entscheidung notwendiger Tatsachen, sondern hätte allenfalls in einer erneuten rechtlichen Würdigung seitens der Klägerin zu den von diesem selbst vorgelegten und den übrigen bereits aktenkundigen Unterlagen bestehen können, die die Klägerseite aber bereits mit ihrer Klagebegründung und den weiteren Schriftsätzen aus ihrer Sicht vollkommen ausreichend vorgenommen hatte. Damit hat die Betreibensaufforderung aber gerade nicht konkrete verfahrensfördernde Handlungen (vgl insoweit HessLSG, Urteil vom 28.04.2015, L 3 U 205/14) zum Gegenstand gehabt.
Sofern das Sozialgericht für die weitere Durchführung des Verfahrens weiteren konkreten Vortrag des Klägers für erforderlich gehalten hat, hätte es insoweit auch konkrete Fragen zur Sachverhaltsaufklärung an diesen richten oder zur Vorlage konkreter Beweismittel oder Erbringung sonstiger konkreter Mitwirkungshandlungen auffordern müssen. Die pauschale und nicht konkretisierte Aufforderung, zu einem rechtliche Wertungen vornehmenden Schriftsatz der Gegenseite Stellung zu nehmen, genügt dem nicht, denn es ist nicht ersichtlich, dass oder inwieweit diese Stellungnahme zur Feststellung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen oder zur Klärung des Sachverhaltes zwingend erforderlich hätte sein können. Das Sozialgericht hätte auch ohne diese Stellungnahme entweder im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 106 SGG weiter ermitteln oder aber entscheiden können (HessLSG, Urteil vom 28.04.2015, L 3 U 205/14 Rz 29).
Nachdem die Klagefiktion des § 102 Abs. 2 SGG nicht eingetreten ist, wird die Sache gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist eröffnet. Es liegt kein bloßer Zwischenrechtsstreit über den Eintritt der Klagerücknahmefiktion vor. Das Klageverfahren ist vielmehr mit der Berufung der Kläger in vollem Umfang in der Berufungsinstanz angefallen. Deshalb würde die bloße Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils ohne den zusätzlichen Ausspruch der Zurückverweisung nicht dazu führen, dass der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht fortzusetzen wäre (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 27.02.2020, L 5 AS 412/19; aA zB LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012, L 2 AS 132/12)
Im Rahmen seines nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG auszuübenden Ermessens hält das Berufungsgericht eine Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht für sachgerecht. Dem Interesse an einer zügigen Erledigung des Rechtsstreits steht insbesondere gegenüber, dass den Beteiligten damit eine Tatsacheninstanz vorenthalten bliebe. Insoweit ist vorliegend zu berücksichtigen, dass der Streitstoff vom Sozialgericht bisher noch nicht einmal ansatzweise aufbereitet worden ist. Sachgerecht ist, dass zunächst das Sozialgericht die entscheidungserheblichen Tatsachen ermittelt und rechtlich bewertet. Dies gilt umso mehr, als das Sozialgericht durch die notwendigen Beiladungen (vgl BSG, Urteil vom 16.12.2015, B 12 R 1/14 R, Urteil vom 31.10.2012, B 12 R 1/11 R; vgl auch § 75 Abs. 2a SGG) sicherzustellen hat, dass alle Betroffenen sich in das Verfahren einbringen zu können.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 159 Rz 5f).
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.


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