Medizinrecht

Betretungsverbot für das Oktoberfest

Aktenzeichen  M 22 K 17.5127

Datum:
15.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 42510
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 6 Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 11, Art. 104
BV Art. 102 Abs. 1
LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

1. Der Begriff der Freiheit der Person im Sinne des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ist eng auszulegen und nicht als Unterfall der Freizügigkeit, sondern der Freiheitsentziehung zu verstehen. Die Freiheit der Person im engeren Sinn wird durch ein örtlich wie auch zeitlich begrenztes Betretungsverbot nicht tangiert (vgl. BayVGH BeckRS 1999, 20763 und BeckRS 1999, 19547 Rn. 20-23). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für eine gefahrenabwehrende präventive Maßnahme der Sicherheitsbehörden, die sich nach anderen Kriterien bemisst als die repressive Strafbarkeit eines Verhaltens, kommt es nicht auf die subjektive Vorwerfbarkeit einer Tat noch auf deren Rechtswidrigkeit an, sondern nur darauf, ob durch den Betroffenen nachvollziehbar eine aktuelle Gefahr für die Sicherheit und Ordnung besteht; insbesondere verstößt ein präventives Betretungsverbot auch nicht gegen die in Art. 6 Abs. 2 EMRK verbürgte Unschuldsvermutung. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die für die Annahme einer konkreten Gefahr erforderliche hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Schädigung liegt zwischen der Sicherheit und der nahezu, aber nicht völlig auszuschließenden Möglichkeit einer Schädigung. Dabei sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit desto geringer, je größer die drohende Schädigung ist, und wachsen umgekehrt, wenn deren Bedeutung gering ist.   (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage bleibt ohne Erfolg. Sie ist bereits unzulässig (Nr. 1), im Übrigen aber auch unbegründet (Nr. 2).
1. Die Klage ist unzulässig.
Die angegriffene Anordnung vom … Oktober 2017 hat sich in der Sache (Betretungsverbot für das Oktoberfest 2017 bis einschließlich … Oktober 2017) durch Zeitablauf bereits vor der zum … Oktober 2017 erfolgten Klageerhebung erledigt und ist damit unwirksam geworden (Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG).
In einem solchen Fall spricht das Gericht in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), auf Antrag – wie vorliegend geschehen – durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
Das Bestehen eines berechtigten Feststellungsinteresses ist vorliegend im für das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aber nicht erkennbar. Keine der Fallgruppen, in denen von Rechtsprechung und Lehre das Bestehen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses anerkannt wird, ist vorliegend einschlägig. Insbesondere kommt hier ein berechtigtes Interesse wegen Rehabilitierung oder eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs nicht in Betracht. Dem streitgegenständlichen Betretungsverbot kam nur für eineinhalb Tage Regelungswirkung zu, einem Zeitraum in dem der Kläger zudem ohnehin verletzungsbedingt in seiner Handlungsfreiheit beeinträchtigt war. Vor diesem Hintergrund ist für eine Außenwirkung erlangende Stigmatisierung des Klägers, die bis heute andauert, nichts ersichtlich, ebenso wenig für einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff. Dies zumal der Kläger das im Folgejahr ergangene Betretungsverbot für den gesamten Zeitraum des Oktoberfestes 2018 bestandskräftig und damit verbindlich werden ließ. Nachdem der Erlass eines weiteren Betretungsverbots von Beklagtenseite nicht beabsichtigt ist, kann ein Feststellungsinteresse des Klägers somit auch nicht auf das Vorliegen einer konkreten Wiederholungsgefahr gestützt werden. Gleiches gilt für ein berechtigtes Interesse aufgrund Präjudiziallität, da ein – hier schon nicht geltend gemachtes – präjudizielles Interesse lediglich für die Erledigung nach Klageerhebung als berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse anerkannt ist.
2. Die Klage ist überdies aber auch unbegründet. Der Bescheid vom … Oktober 2017 ist rechtmäßig.
Der Kläger wurde vorliegend zwar vor Bescheiderlass abweichend von Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG nicht angehört. Von einer Anhörung konnte hier aber gemäß Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG wegen Dringlichkeit abgesehen werden (vgl. etwa auch VG Regensburg, B.v. 9.8.2013 – RN 4 S 13.1338 -, juris).
Auch materiell ist der ausführlich begründete Bescheid nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat das gegenüber dem Kläger ausgesprochene Betretungsverbot als sachlich und örtlich zuständige Sicherheitsbehörde zutreffend auf Art. 7 Abs. 2 LStVG gestützt. Nach Art. 7 Abs. 1, Abs. 2 LStVG können die Sicherheitsbehörden bei fehlender anderweitiger gesetzlicher Ermächtigung im Einzelfall Anordnungen, die in die Rechte anderer eingreifen, zur Erfüllung ihrer Aufgaben nur treffen, um rechtswidrige Taten, die den Tatbestand eines Strafgesetzes oder einer Ordnungswidrigkeit verwirklichen, zu verhüten oder zu unterbinden (Nr. 1) und/oder um Gefahren abzuwehren oder Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder die Freiheit von Menschen oder Sachwerte, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, bedrohen oder verletzen (Nr. 3).
Art. 7 Abs. 4 LStVG schränkt die vorgenannte Befugnis der Sicherheitsbehörden dabei dahingehend ein, dass Maßnahmen der Behörden auf Grund von Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 LStVG nicht die Freiheit der Person und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 13 Grundgesetz – GG -, Art. 102 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 3 BV) einschränken dürfen. Die Vorschrift steht dem streitgegenständlichen Betretungsverbot gleichwohl nicht entgegen, insbesondere verletzt dieses nicht das Recht des Klägers aus Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 102 Abs. 1 BV, denn aus der systematischen Stellung zwischen Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 GG und der formellen Gewährleistung des Grundrechts in Art. 104 GG folgt, dass der Begriff der Freiheit der Person im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eng auszulegen und nicht als Unterfall der Freizügigkeit, sondern der Freiheitsentziehung zu verstehen ist. Da der Kläger vorliegend durch ein örtlich wie auch zeitlich begrenztes Betretungsverbot nicht generell in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit gehindert wird, sondern nur daran, bestimmte Orte für nicht legitimierte Zwecke aufzusuchen, wird die Freiheit der Person im engeren Sinn folglich nicht tangiert (vgl. BayVGH, B.v. 18.02.1999 – 24 CS 98.3198 – und vom 23.04.1999 – 24 CS 98.3551).
Das nach Art. 7 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 LStVG grundsätzlich mögliche Betretungsverbot für bestimmte Anlässe oder Örtlichkeiten durfte im konkreten Fall auch unter Berücksichtigung der der Beklagten im Zeitpunkt des Bescheiderlasses vorliegenden Erkenntnisse gegenüber dem Kläger, als verantwortlichem Handlungsstörer i.S.v. Art. 9 Abs. 1 LStVG, ausgesprochen werden.
Als Voraussetzung für den Erlass eines sicherheitsrechtlichen Bescheides nach Art. 7 Abs. 2 LStVG ist es insbesondere nicht erforderlich, dass der Kläger bereits rechtskräftig wegen eines einschlägigen Delikts verurteilt worden ist (BayVGH vom 18.2.1999, a.a.O.). Die repressive Strafbarkeit eines Verhaltens bemisst sich nach anderen Kriterien als die Prüfung gefahrenabwehrender präventiver Maßnahmen der Sicherheitsbehörden. Es kommt daher auf die subjektive Vorwerfbarkeit einer Tat nicht an, im Fall des Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG ist auch die Rechtswidrigkeit der Tat keine Tatbestandsvoraussetzung. Es muss nur nachvollziehbar feststehen, dass und warum durch die Person des Klägers aktuell eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung auf dem Oktoberfest besteht. Insbesondere verstößt ein präventives Betretungsverbot auch nicht gegen die in Art. 6 Abs. 2 EMRK verbürgte Unschuldsvermutung. Die Berücksichtigung von Sachverhalten und Verdachtsgründen ist keine Schuldfeststellung oder -zuweisung, wenn und soweit sie bei Wiederholungsgefahr anderen Zwecken, insbesondere – wie auch hier – der vorbeugenden Straftatenbekämpfung, dient (s. BVerwG, U.v. 9.6.2010 – 6 C5/09 – juris Rn. 26 unter Bezugnahme auf BVerfG, B.v. 16.05.202 – 1 BVR 2257/01).
Zu Recht ging die Beklagte aufgrund des Sachverhalts, wie er sich aus dem Polizeibericht ergibt, dabei auch von einer Gefahr im Sinne des Art. 7 Abs. 2 LStVG aus. Der Kläger setzte demzufolge im Rahmen einer (zunächst verbalen und dann) körperlich werdenden Auseinandersetzung mit einem Oktoberfestbesucher einen Maßkrug mit solcher Wucht von oben herab ein, dass sein Kontrahent eine mit acht Stichen zu nähende Wunde im Kopfbereich und damit eine nicht unerhebliche Verletzung erlitt.
Zu den nicht untypischen Konstellationen und Gefährdungslagen auf einem Volksfest wie dem Oktoberfest gehören – insbesondere, wenn die Hemmschwelle durch Alkoholgenuss herabgesetzt ist – Distanzlosigkeiten, Anzüglichkeiten, Beleidigungen, verbale Attacken und Rempeleien. Selbstverständlich muss niemand diese Übergriffe als „sozialadäquat“ hinnehmen. Entscheidend ist aber die Art der Reaktion auf solche Phänomene im Kontext eines Volksfestes. Die Reaktion darf nicht unbesonnen und unverhältnismäßig sein. Die Lage darf nicht weiter aufgeheizt werden. Eine Eskalation der Situation ist zu vermeiden. Wer – wie der Kläger – auf Missstimmigkeiten mit Rempeleien, insbesondere aber mit überzogener körperlicher Gewalt unter Einsatz eines Maßkruges antwortet, eröffnet damit eine Stufe der Auseinandersetzung, die eine neue Qualität der Gefahr für Leib (und unter widrigen Umständen auch Leben) mit sich bringt. Es gehört zu den Erfahrungen auf Volksfesten, dass körperliche Reaktionen weitere erzeugen und in unkontrollierten Schlägereien mit erheblichen Gefahren für die Sicherheit der Besucher ausarten können. Die Beklagte durfte deshalb – unabhängig von der Frage der Verurteilung oder Nichtverurteilung – das vom Kläger laut polizeilicher Mitteilung gezeigte Verhalten im Rahmen einer objektiven ex-ante Einschätzung zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses als ein Risiko für den friedlichen Ablauf des – als Massenveranstaltung besonders sicherheitssensiblen – Oktoberfestes ansehen. Unabhängig davon, dass dies für die Beurteilung durch das Gericht nicht maßgeblich ist, bestätigen aber auch die bislang ergangenen Strafurteile die Richtigkeit der Gefahrenprognose der Beklagten.
Auch war eine Wiederholung einer solchen Gefahrensituation auf dem Oktoberfest mit Blick auf die zu sichernden Rechtsgüter – ungeachtet der Verletzungen des Klägers – zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung hinreichend wahrscheinlich. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit, die der Begriff der konkreten Gefahr voraussetzt, verlangt nämlich nicht, dass eine Schädigung mit Sicherheit zu erwarten ist. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vielmehr zwischen der Sicherheit und der nahezu, aber nicht völlig auszuschließenden Möglichkeit. Dabei gilt, dass je größer die Schädigung ist, desto geringer die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit sind, und dass umgekehrt die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit wachsen, wenn die Bedeutung der drohenden Schädigung gering ist. Vorliegend erscheint eine Wiederholung des vom Kläger gezeigten Verhaltens und damit eine Gefährdung von Leib und Leben Dritter bei einem potentiellen weiteren Oktoberfestbesuchs angesichts der auf dem Oktoberfest unverändert vorherrschenden Parameter (Enge, Alkoholkonsum, Gruppendynamik, Imponierverhalten) zwar keinesfalls sicher, aber durchaus möglich.
Das ausgesprochene Betretungsverbot verstößt auch nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 8 LStVG, es ist insbesondere nicht unangemessen. Die Beklagte hat angesichts des durch den Vorfall vom … September 2017 belegten, vom Kläger aufgrund seines – jedenfalls unbesonnenen – Handelns ausgehenden Gefahrenpotentials, mit einer zeitlich wie räumlich beschränkten Maßnahme reagiert. Sie hat sich ausweislich der ausführlichen Begründung des streitgegenständlichen Bescheids, auf die gem. § 117 Abs. 5 VwGO verwiesen wird, insbesondere mit der Frage der Verhältnismäßigkeit intensiv auseinandergesetzt und die Interessen des Klägers, mit den Belangen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abgewogen. Gründe aus denen eine Anwesenheit des Klägers auf dem Festgelände im maßgeblichen Zeitraum erforderlich gewesen wäre, hat der Kläger dabei im gerichtlichen Verfahren nicht vorgetragen. Solche sind auch nicht ersichtlich Das auf Art. 7 Abs. 2 LStVG gestützte streitgegenständliche Betretungsverbot (Nr. 1 des Bescheides) erweist sich nach alledem als rechtmäßig.
Auch die Androhung eines Zwangsgeldes zur Durchsetzung der getroffenen Maßnahme ist rechtmäßig erfolgt, Art. 19 Abs. 1 Nr. 3, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Art. 30, Art. 31 und Art. 36 BayVwZVG i.V.m. Art. 5 VwZVG. Die Höhe des festgesetzten Zwangsgeldes für den Fall der Zuwiderhandlung ist ebenfalls nicht zu beanstanden, Art. 31 Abs. 2 BayVwZVG.
3. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.


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