Medizinrecht

Bewertung von Präimplantationsdiagnostik

Aktenzeichen  RO 5 K 17.335

Datum:
24.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 4480
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ESchG § 3a Abs. 2, Abs. 3 Nr. 2
StGB § 6 Abs. 4
PIDV § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 2, Abs. 6, § 218a Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1, § 155 Abs. 1 S. 3
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Psychische, soziale und ethische Gesichtspunkte des Einzelfalles i.R. v. § 6 Abs. 4 PIDV sind bei der Prüfung des Merkmals „schwerwiegend“ des § 3a Abs. 2 ESchG einzubeziehen. (Rn. 32)
2. Ein Schwangerschaftsabbruch mittelbar infolge einer festgestellten Erbkrankheit indiziert eine zustimmende Entscheidung über die PID. (Rn. 44 – 52)
3. Bei der Prüfung des Merkmals „schwerwiegend“ i.R.v. § 3a Abs. 2 ESchG kommt der Ethikkommission ein Beurteilungsspielraum zu, der aber (eingeschränkt) gerichtlich überprüfbar ist. (Rn. 39)

Tenor

I. Der Bescheid der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik vom 28.07.2016, Az. G32g-G8090.1-2016/44-3, wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Antrag der Klägerin vom 10.04.2016 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist in Ziffer II vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des gegen ihn festzusetzenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage zulässig, insbesondere, da es sich bei der begehrten zustimmenden Bewertung zur Präimplantationsdiagnostik um einen Verwaltungsakt, der von einer Behörde erlassen wird, handelt (so auch mit ausführlicher Begründung VG München, Urteil vom 10. Mai 2017 – M 18 K 16.1738 -, Rn. 17, juris).
2. Die Klage ist dabei aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet und war im Übrigen abzuweisen. Die Ablehnung der beantragten zustimmenden Bewertung zur Präimplantationsdiagnostik ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Da der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik aber ein Beurteilungsspielraum verbleibt, konnte das Gericht aufgrund fehlender Spruchreife den Beklagten nur dazu verpflichten, den Antrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (vgl. § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO).
a) Die Klägerin hat dabei einen entsprechenden Anspruch aus § 3a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG i.V.m. § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV. Nach § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV hat die Ethikkommissionen den Antrag auf Durchführung einer PID zustimmend zu bewerten, wenn sie (…) unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten zu dem Ergebnis kommen, dass die in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Nach § 3a Abs. 2 S.1 ESchG ist eine PID insbesondere unter der Voraussetzung nicht rechtswidrig, dass auf Grund der genetischen Disposition der Frau, von der die Eizelle stammt, oder des Mannes, von dem die Samenzelle stammt, oder von beiden für deren Nachkommen das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht. Ausweislich der BT-DrS 17/5451 S.8 wird als hohes Risiko eine Wahrscheinlichkeit von 25 bis 50% bezeichnet. Ebenfalls nach dieser Gesetzesbegründung ist eine Erbkrankheit schwerwiegend in diesem Sinne insbesondere, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheidet.
Auch wenn dies nicht der Bescheidsbegründung, sondern erst den Äußerungen im gerichtlichen Verfahren entnommen werden kann, so ist angesichts des vorliegenden 25%-igen Risikos einer Erbkrankheit davon auszugehen, dass zwischen den Beteiligten letztlich die Anwendung des Merkmals „schwerwiegend“ im Streit steht.
Hinsichtlich der Prüfung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ist dabei vorauszuschicken: Aus Gründen der Normenhierarchie und der Verordnungsermächtigung in § 3a Abs. 3 S. 3 ESchG wird die PIDV keine zusätzlichen materiellen Anforderungen aufstellen können. Vielmehr, soweit hier relevant, handelt es sich bei § 6 Abs. 4 PIDV um eine Regelung der Verfahrensweise der Ethikkommission im Sinne von § 3a Abs. 3 Nr. 2 ESchG, wenn dort die Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte vorgeschrieben wird. Damit wird letztlich verdeutlicht, dass das Merkmal „schwerwiegend“ nicht anhand einer (auch nicht durch bloße Verwaltungspraxis entstehenden) Indikationsliste zu bewerten ist, sondern in jedem Einzelfall zu beurteilen ist, wie schwer die Erbkrankheit, bzgl. der das Risiko besteht, wiegt (vgl. BT-DrS 17/5451 S.7). Wie dann bei dieser Einzelfallprüfung zu verfahren ist, nämlich dass die psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte des Einzelfalls insbesondere im Rahmen des Merkmals „schwerwiegend“ zu beurteilen sind, kann dann auch die PIDV ergänzend unter dem Aspekt der Verfahrensweise regeln, da die Regelung im Wesentlichen durch den Gesetzgeber des Embryonenschutzgesetzes getroffen wurde und der Bezug auf den Einzelfall statt einer Auflistung von Krankheiten sich schon nach juristischer Methodik aus der Gesetzeshistorie ergibt. (Im Ergebnis ähnlich: Benjamin Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 72, 250 f.) Aufgrund des somit aus verschiedenen Disziplinen stammenden gesetzlichen Prüfprogramms, welches sich in der Zusammensetzung der Kommission mit Medizinern, Ethikern, Psychologen und Patientensowie Behindertenvertretern sowie Juristen wiederspiegelt, mag die Bezeichnung „Ethikkommission“ zu Recht als zu eng kritisiert worden sein (u.a. Spickhoff/Müller-Terpitz, 3. Aufl. 2018, ESchG § 3a Rn. 21 m.w.N.). Relevant ist dies jedoch nur insofern, als zu beachten ist, dass allein aus dem Namen des Gremiums kein Rückschluss auf die Art der getroffenen Entscheidung oder ein Rangverhältnis der beteiligten Disziplinen zueinander gezogen werden darf (so aber unterstützend VG München, Urteil vom 10. Mai 2017 – M 18 K 16.1738 -, Rn. 25, juris zur Begründung des der Ethikkommission zustehenden Beurteilungsspielraums).
b) Auch nach Ansicht des entscheidenden Gerichts kommt der Ethikkommission bei der Beurteilung der Frage, ob eine Erbkrankheit schwerwiegend in diesem Sinne ist, ein Beurteilungsspielraum zu.
Ein Beurteilungsspielraum steht einer Behörde zu, wenn der Gesetzgeber nach dem Sinn und Zweck einer Regelung die Beurteilung der Behörde als prinzipiell maßgeblich für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes ansieht. Dabei bedarf es für die gesetzliche Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds (BVerfG, Beschluss v. 31.5.2011 – Az: BvR 857/07, Leitsätze 2. und 3.) Maßgeblich für die Auslegung ist dabei insbesondere Sinn und Zweck der entsprechenden materiell-rechtlichen Vorschriften, ferner auch die Natur der Sache oder der Gesichtspunkt, dass die Rechtsprechung sonst an Funktionsgrenzen stoßen würde (Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 18. Auflage, § 114 Rz. 24). Indizien, die für die Annahme eines Beurteilungsspielraums sprechen, sind unter anderem die besondere pluralistische Zusammensetzung und/oder Sachkunde eines mit der Entscheidung betrauten, weisungsfreien Gremiums, das Fehlen hinreichend bestimmter Entscheidungsvorgaben in der gesetzlichen Ermächtigung und/oder die Maßgeblichkeit von Erwägungen, die außerhalb des rechtlich exakt erfassbaren Bereichs liegen (Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 18. Auflage, § 114 Rz. 25).
Die genannten Indizien treffen dabei auf die Ethikkommission zu: Sie ist in Form der bereits genannten Disziplinen (§ 4 Abs. 1 PIDV, Art. 2 Abs. 3 S.1 BayAGPIDV) pluralistisch zusammengesetzt, gerade um so die Sachkunde aus diesen Disziplinen zu gewinnen, da, wie dargestellt, die materielle Entscheidung über das Merkmal „schwerwiegend“ unter Einbeziehung mehrerer Disziplinen (insb. Medizin: Beurteilung von Lebenserwartung, Schwere des Krankheitsbilds, Behandelbarkeit, Vergleich mit anderen Erbkrankheiten; psychische, soziale und ethische Gesichtspunkte des Einzelfalls) erfolgt. Die Kommission handelt weisungsfrei, § 4 Abs. 2 S. 1 PIDV. Maßgebliche gesetzliche Entscheidungsvorgaben sind unbestimmte Rechtsbegriffe und man mag daran denken, dass die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung erreicht würden, wenn man im Gerichtsverfahren aus jeder Disziplin Sachverständigengutachten einholen müsste (so VG München, Urteil vom 10. Mai 2017 – M 18 K 16.1738 -, Rn. 30, juris).
Unter dem Aspekt des Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG, reicht allein eine (auch durch Auslegung erkannte) Einräumung eines Beurteilungsspielraums durch den Gesetzgeber nicht aus. Es muss auch eine Legitimation für die Ausnahme vom Grundsatz der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit durch einen hinreichend gewichtigen Sachgrund vorliegen. (Vgl. Kment/Vorwalter: Beurteilungsspielraum und Ermessen, JuS 2015, 193, 197f. m.w.N., auch zu den im folgenden erwähnten Fallgruppen)
Diesbezüglich nicht vergleichbar ist die von der Ethikkommission zu treffende Entscheidung mit den anerkannten Fallgruppen der Prüfungsentscheidungen oder Entscheidungen wertender Art durch Gremien. Beiden Fallgruppen ist zueigen, dass der Beurteilungsspielraum dadurch begründet wird, dass eine bestimmte Leistung oder ein bestimmter Gegenstand in einer bestimmten Situation zu beurteilen ist, etwa der Prüfungssituation. Keinen Beurteilungsspielraum würde man bei Gremienentscheidungen zuerkennen, wenn die Beurteilung zu jedem Zeitpunkt unter denselben Bedingungen gleichermaßen vorgenommen werden kann und der Beurteilungszeitpunkt, der zwischen Behörde und Gericht notwendigerweise auseinanderfallen wird, damit keine Rolle spielt. Bei der hier zu treffenden Entscheidung hängen die maßgeblichen Faktoren aber nicht von der Beurteilungssituation ab. Der Antrag der Klägerin ist nicht in einer bestimmten Situation zu beurteilen, er bleibt darüber hinaus gleich und eignet sich dann noch genauso zur Beurteilung.
Eine Vergleichbarkeit zu einer anerkannten Fallgruppe, in der ein hinreichend gewichtiger Sachgrund für das Vorliegen eines Beurteilungsspielraums spricht, kann aber erkannt werden in Form der Prognosen und Risikobewertungen, bei denen künftige Entwicklungen abgeschätzt und deren Auswirkungen bewertet werden. Prognoseelemente und die Einschätzung von künftigen Risiken können nämlich auch bei der durch die Ethikkommission zu treffenden Entscheidung erkannt werden, z.B. bei der Beurteilung der Lebenserwartung, der Behandelbarkeit oder der Abschätzung psychischer Folgen.
c) Nachdem bei der Prüfung des Merkmals „schwerwiegend“ ein Beurteilungsspielraum anerkannt wird, ist von einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung auszugehen. Da sich aber schon die Spielräume von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet unterschiedlich darstellen, kann auch die gerichtliche Kontrolldichte differieren (Eyermann/Rennert, 15. Aufl. 2019, VwGO § 114 Rn. 77). Gemeinsam scheint jedoch zu sein, dass vom Gericht zu überprüfen ist, ob (1) die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind; (2) ob die Behörde von einem richtigen Verständnis (Auslegung) des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist; (3) ob sie den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat; (4) ob sie sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemein gültige Wertungsmaßstäbe gehalten und (5) das Willkürverbot nicht verletzt hat. Schließlich ist zu verlangen (6), dass die Beurteilung so ausführlich begründet ist, dass dem Gericht die ihm obliegende Kontrolle möglich wird; zudem muss der Betroffene prüfen können, ob er Rechtsschutz in Anspruch nehmen soll. (Eyermann/Rennert, 15. Aufl. 2019, VwGO § 114 Rn. 78 m.w.N. auf höchstrichterliche Rechtsprechung, ähnlich Jacob/Lau: Beurteilungsspielraum und Einschätzungsprärogative, NVwZ 2015, 241, 248 und Kment/Vorwalter: Beurteilungsspielraum und Ermessen, JuS 2015, 193, 197) Bezogen auf die dargestellten enthaltenen Prognoseelemente, kann die gerichtliche Überprüfung auch umfassen, ob die Behörde von einer vollständig und zutreffend ermittelten Prognosebasis ausgegangen ist, ob sie den gesetzlich gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat und ob die Prognose – innerhalb dieses Rahmens – sachangemessen und methodisch einwandfrei erarbeitet wurde (Eyermann/Rennert, 15. Aufl. 2019, VwGO § 114 Rn. 83 m.w.N.).
3. Ausgehend von diesem gerichtlichen Prüfprogramm, wurde der zuzubilligende Beurteilungsspielraum bei der vorliegenden Ablehnungsentscheidung in gerichtlich überprüfbarer Weise überschritten.
a) Bei der Beurteilung des Merkmals „schwerwiegend“ gab die Ethikkommission zunächst keine ausreichende Begründung im unter 2c) geschilderten Sinne ab und die später gegebene Begründung zeugt von einem unrichtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs in der Art und Weise, wie der vorausgegangene Spätabbruch der Klägerin infolge der damaligen Diagnose des TAR-Syndroms beim ungeborenen Kind der Entscheidung (nicht) zugrunde gelegt wurde.
aa) Nach der Bescheidsbegründung und der Klageerwiderung, habe die Ethikkommission berücksichtigt, dass die Klägerin unter dem bereits durchgeführten Schwangerschaftsabbruch sehr gelitten habe, man sei gleichwohl aber nach ausführlicher Beratung zu dem Ergebnis gekommen, dass keine schwerwiegende Erbkrankheit vorliege. Diese Aussage allein stellt schon keine Begründung im oben genannten Sinne dar, da keinerlei sachlich-inhaltliche Aussage getroffen wird. Für eine zustimmende Bewertung sprechende Argumente aufzulisten und dann zu benennen, dass Beratung und Abstimmung anders verlaufen sind, ohne einen Grund anzugeben, weshalb dies so ist, genügt nicht. Das ablehnende Ergebnis wirkt aufgrund der fehlenden Begründung geradezu überraschend, angesichts dessen, was (vermeintlich) berücksichtigt wurde. Ob sich die Kommission bei der Entscheidung innerhalb ihres Beurteilungsspielraums bewegt hat, kann so weder von der Klägerin noch vom Gericht überprüft werden, was aber, wie dargestellt, gerade im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes und die betroffenen Grundrechtspositionen geboten wäre.
bb) Mit Schreiben vom 13.11.2018 bringt die Beklagtenseite weiter vor, die Kommission habe sich ausweislich der Bescheidsbegründung und des Protokolls ausführlich mit den Belastungsfaktoren beschäftigt, erkannt und einfließen habe lassen sowie angemessen gewichtet. Dass dem so gewesen ist, ist jedenfalls anhand des sechseinhalbzeiligen Protokolls (soweit es die Diskussion betrifft) und der – wie unter aa) dargestellt – letztlich nicht vorhandenen Bescheidsbegründung zu diesem Punkt, nicht hinreichend klar erkennbar.
cc) Mit gleichem Schreiben wird schließlich vorgebracht, der Schwangerschaftsabbruch per se könne noch nicht zu einer anderen Bewertung führen. Zu beachten sei nämlich, dass der Schwangerschaftsabbruch aufgrund der begrenzten Zeit immer in einer psychischen Ausnahme- bzw. Konfliktsituation stattfinde, bei der eine schwerwiegende Erbkrankheit gerade nicht zwingender Rechtfertigungsgrund sei.
Damit macht die Beklagtenseite letztlich geltend, selbst in der Situation eines bereits erfolgten Spätabbruchs bestehe keine Widersprüchlichkeit darin, dass bei einer erneuten Schwangerschaft, bei der die Erkrankung etwa durch Pränataldiagnose festgestellt wird, ein Schwangerschaftsabbruch voraussichtlich wieder nach § 218a Abs. 2 StGB möglich wäre, nicht jedoch eine für die Mutter wohl weniger belastende PID.
Hinsichtlich dieses Arguments kann dahinstehen, ob es überhaupt noch zu berücksichtigen ist, da es erst im Gerichtsverfahren nachgeschoben wurde. Ebenfalls kann dahinstehen, ob es schon dadurch entkräftet wird, dass die Klägerin sich, wie sie geltend macht, auch in der besonderen Situation vor der Abtreibungsentscheidung sehr tiefgehend mit den Folgen beschäftigt hat und damit gerade nicht anders gehandelt hat, als sie dies mit mehr Zeit im Vorlauf vor einer künstlichen Befruchtung mit PID tun würde.
Dieses Argument ist der Ethikkommission als Begründungsansatz nämlich schon im Ausgangspunkt dadurch verwehrt, dass so nicht vom richtigen Verständnis bei der Gesetzesanwendung ausgegangen wird, da die Gesetzesauslegung (namentlich anhand historisch-teleologischer Erwägungen) ergibt, dass § 3a ESchG und die darauf aufbauenden Regelungen gerade wegen dieser Widersprüchlichkeit geschaffen wurden. Selbst eine Kommission, der ein Beurteilungsspielraum zukommt, kann dann aber nicht den Anlass für die gesetzliche Regelung allgemein anzweifeln und als Begründung für ablehnende Entscheidungen heranziehen. Der Beurteilungsspielraum kann schließlich nicht weiter reichen, als er vom Gesetzgeber der Exekutive eingeräumt wurde. Würde man davon ausgehen, der Gesetzgeber hätte einen Beurteilungsspielraum so weitgehend einräumen wollen, dass auch das Bestehen der mit dem Gesetz zu beseitigenden Problemlage angezweifelt werden dürfte, bestünde zudem ein Problem mit dem Wesentlichkeitsgrundsatz, da dann die Entscheidung im Wesentlichen nicht mehr durch den Gesetzgeber, sondern durch die Exekutive getroffen würde.
Ein Hauptziel ist es nämlich gewesen, Paaren in der Situation der Klägerin zu ermöglichen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. BT-Drucks. 17/5451, S.7f. führt dazu aus:
„Genetisch stark vorbelasteten Eltern, die zum Teil bereits ein schwer krankes Kind haben oder die nach einer Pränataldiagnostik und einer ärztlichen Beratung eine Abtreibung haben vornehmen lassen, gibt diese Methodik die Möglichkeit, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen.
… Zudem ist die PID geeignet, schwerwiegende Gefahren infolge eines späteren ärztlich angezeigten Schwangerschaftsabbruchs zu vermeiden.
… Als gesetzgeberischer Anknüpfungspunkt für den neuen § 3a Abs. 2 ESchG ist § 218a Abs. 2 StGB gewählt worden, weil hier wie dort (…) das Vorliegen einer ärztlichen Indikation festgestellt werden muss.“
Aus den drei zur Abstimmung stehenden Gesetzesentwürfen hatte sich damit gerade derjenige durchgesetzt, dem anders als den beiden anderen, nicht entgegengehalten werden konnte, dass er den Wertungswiderspruch, einen Spätabbruch zu erlauben, aber eine PID in den gleichen Konstellationen zu verbieten, nicht auflösen würde (Kunz-Schmidt, Präimplantationsdiagnostik (PID) – der Stand des Gesetzgebungsverfahrens und der aktuellen Diskussion, NJ 2011, 231 (239), V. 2. 2.2 b) (2)). Zwar ist richtig, dass eine Erkrankung des Kindes gerade nicht Voraussetzung im Rahmen des § 218a Abs. 2 StGB ist, sondern Lebensverhältnisse und körperliche wie seelische Gesundheit der Schwangeren. Anerkannt („mittelbare embryopathische Indikation“, BeckOK StGB/Eschelbach, 41. Ed. 1.2.2019, StGB § 218a Rn. 24) ist aber, dass diese gerade im Einzelfall durch eine entsprechende Erkrankung des Kindes beeinflusst sein können. So zeigt sich gerade die vom Gesetzgeber herausgearbeitete Parallele zum Entscheidungsmaßstab der Ethikkommission, da wie gezeigt auch die im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten zu berücksichtigen sind. Dass also wie im vorliegenden Fall bereits einmal infolge einer bestimmten Erbkrankheit des Kindes im Mutterleib die Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB als vorliegend anerkannt wurden und so unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse und körperlichen wie seelischen Gesundheit der Schwangeren ein Schwangerschaftsspätabbruch als nicht rechtswidrig erkannt wurde, stellt ein starkes Indiz dar, dass bei der Prüfung der PID psychische oder soziale Gesichtspunkte dafür sprechen, dass die Erbkrankheit im konkreten Einzelfall als schwerwiegend zu beurteilen ist.
Zudem ist nur eine Handhabung, die nicht diese Widersprüchlichkeit grundsätzliche verneint, EMRKkonform. So hat der EGMR in seinem Urteil „Costa und Pavan gg. Italien“ vom 28.08.2012, 54270/10, Rn 64ff. (abrufbar unter http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-112993) anerkannt, dass es gegen Art. 8 EMRK verstoßen würde, dass es widersprüchlich ist, die PID in einer Konstellation zu verbieten, in der die Eltern gesundes Merkmalsträger der Krankheit sind, eine Abtreibung aber zu erlauben. Es sei nach dem EGMR offensichtlich, dass der einzig verbleibende Weg zu einem gesunden Kind derjenige verbleibe, auf natürlichem Wege schwanger zu werden und sie dann zu beenden, falls die Krankheit mittels Pränataldiagnostik festgestellt werde, wie dies auch im Fall des EGMR einmal zuvor geschehen war. Derartige Inkonsistenz sei eine unverhältnismäßig Verletzung von Art. 8 EMRK. Auch wenn der EGMR selbst (ebd. Rn. 29ff. und 70) davon ausgeht, dass eine vergleichbare Situation nach rechtsvergleichender Betrachtung nur in Österreich, Italien und der Schweiz bestand, so muss die genannte Argumentation jedoch gleichermaßen in vorgehend beschriebener Weise auch in deutschen Fällen Eingang finden. Der EGMR ging nämlich nur deshalb von einer geringen Zahl an betroffenen Konventionsstaaten aus, da er z.B. Deutschland als ein Land eingeordnet hat, in dem die PID autorisiert ist und daher wohl meinte, die genannte Konfliktsituation für die Frau bzw. das Paar, dem im Ergebnis zugemutet würde, es auf natürlichem Wege „zu versuchen“ und ggf. abzutreiben, würde dann in diesen Ländern nicht entstehen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann sie jedoch auch dann entstehen, wenn die PID mit der (jedenfalls im Gerichtsverfahren deutlich werdenden) Begründung verweigert wird, es bestehe keine Widersprüchlichkeit zwischen der Verweigerung der PID und der Zulässigkeit eines Schwangerschaftsspätabbruchs. Nach der Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts muss dies auch genauso gelten, wenn für den Spätabbruch die Erkrankung des Kindes nicht die unmittelbare Voraussetzung ist, sondern nur mittelbar über den seelischen Gesundheitszustand der Mutter einfließt. Die Konfliktlage, die gerade zur Feststellung des Verstoßes gegen Art. 8 EMRK geführt hatte, besteht ja genau gleich, ob nun zur Erkrankung noch der schlechte seelische Gesundheitszustand der Schwangeren hinzutreten muss, oder dieser nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit der Abtreibung ist.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, eine vom Gesetzgeber als „eng begrenzte Anwendung“ (BT-Drucks. 17/5451, S.7, III.) gedachte Zustimmung würde so zum Regelfall gemacht werden entgegen der ebenfalls geäußerten gesetzgeberischen Intention, zu vermeiden, dass ein Recht zu PID einmal quasi zur Pflicht werden könnte (BT-Drucks. 17/5451, S.7). Zum einen wäre die Frage, ob die PID noch als enge Ausnahme gehandhabt wird, eher anhand eines Verhältnisses „Schwangerschaften bzw. Geburten nach PID zu Gesamtzahl an Schwangerschaften bzw. Geburten“ zu beurteilen (wozu nicht substantiiert vorgetragen wird) als etwa danach, wie viele Anträge auf PID von den gestellten genehmigt werden. Vor allem aber bleiben Argumente im Einzelfall gegen die Beurteilung als „schwerwiegend“ auch bei vorausgegangenem Spätabbruch möglich, z.B. wenn sich im konkreten Einzelfall die psychischen Gesichtspunkte erkennbar und damit konkret begründbar anders darstellen als während der vorausgegangenen Schwangerschaft oder wenn sich die Prognosen zu Lebenserwartung und Behandelbarkeit im konkreten Einzelfall positiv darstellen bzw. sich dem jeweiligen Paar ein in diesem Fall konkreter Weg aufzeigen lässt, zumutbarerweise das Wagnis einzugehen, ein Kind, das von der Erbkrankheit betroffen ist, großzuziehen. Zu allgemein und in ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit nicht belegt sind in diesem Sinne jedoch die (erst im Gerichtsverfahren nachgeschobenen) Argumentationsansätze, bestimmte Symptome seien vorübergehend, man könne in speziellen Zentren behandeln und im Erwachsenenalter sei meist keine Behandlung mehr nötig. An keiner Stelle ist nämlich erkennbar, wie wahrscheinlich das Erreichen des Erwachsenenalters ist. Schließlich fällt die von der Kommission anzustellende Prognose gänzlich anders aus, wenn durch problemlos verfügbare, weitgehend risikolose Behandlungsmöglichkeiten praktisch jeder das Erwachsenenalter erreicht, als wenn (etwa aufgrund eines erhöhten Komplikationsrisikos durch die Blutungsneigung) die Behandlungsmöglichkeiten sehr risikoreich wären und (etwa aufgrund der Seltenheit der Erkrankung) nur schwer in ausreichender Qualität zu erlangen wären. Von welchen speziellen Zentren die Rede war, wurde auch nicht im Gerichtsverfahren konkretisiert. Dass mit großer Wahrscheinlichkeit von einer normalen Lebenserwartung auszugehen sei und schlechte Behandelbarkeit nicht allein aus der Seltenheit der Erkrankung folge, bleibt als bloße allgemeine Behauptung stehen, eine zugrundeliegende Tatsachengrundlage ist nicht genannt, deren Breite und Belastbarkeit nicht zu beurteilen. Zudem erscheint die während der Schwangerschaft im konkreten Fall getroffene Entscheidung auf einer sehr breiten Informationsgrundlage getroffen zu sein, sodass eine umso tiefergehende Begründung gegen die Indizwirkung nötig sein wird. Es muss insofern für das Gericht und das betroffene Paar klar erkennbar werden (z.B. durch Heranziehung statistisch belastbarer Studien zu Überlebenswahrscheinlichkeiten oder jedenfalls einer breiteren Informationsgrundlage als die des betroffenen Paares), dass trotz des Spätabbruchs eine PID verwehrt werden darf, etwa weil Behandelbarkeit und Lebenserwartung (wider Erwarten) so gut sind, dass auch psychische Gesichtspunkte, die noch während der Schwangerschaft gegen die Fortsetzung dieser sprachen („seelischer Gesundheitszustand der Schwangeren“ § 218a Abs. 2 StGB), nicht mehr für die Durchführung einer PID sprechen.
Soweit eine derartige Begründung im Einzelfall nicht möglich ist, führt die hier herausgearbeitete Indizwirkung eines entsprechenden Spätabbruchs zu einer zustimmenden Entscheidung der Ethikkommission. Fehlen belastbare Erkenntnisse, die für ausreichend gute Behandelbarkeit etc. sprechen und führt eine breite Informationsgrundlage bei der Schwangeren zu einem seelischen Gesundheitszustand im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB, spricht dies dafür, die Krankheit als im Einzelfall schwerwiegend zu beurteilen. Das Gericht verkennt bei dieser Betonung der Wichtigkeit des Begründungserfordernisses zur Überwindung der genannten Indizwirkung nicht, dass damit eine erhebliche Erhöhung des Aufwands für die Ethikkommission einhergehen mag. Durch die allseitig betroffenen Grundrechtspositionen (der Eltern, des Embryos, der Erkrankten) ist jedoch die Vermeidung des entsprechenden Aufwands kein ausreichender Rechtfertigungsgrund, auf eine nachprüfbare Begründung zu verzichten. Sollte die Beachtung der psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte etwa eine weitergehende Abfrage im Antragsformular erfordern, so ist die Ethikkommission, wie in der mündlichen Verhandlung von Beklagtenseite andeutungsweise eingewandt, jedenfalls nicht durch § 5 PIDV an einer solchen Abfrage gehindert. Dass der Antrag einen bestimmten Inhalt haben muss, um demnach als vollständig zu gelten, heißt nicht, dass ein Formular nicht zusätzlich Raum für freiwillige weitergehende Angaben zu bestimmten Punkten bieten könnte. Vielmehr läge nahe, die Formulierung, der Antrag habe alle Angaben und Unterlagen zu enthalten, die die Ethikkommission für die Prüfung des Vorliegens der in § 3a Absatz 2 des Embryonenschutzgesetzes genannten Voraussetzungen benötigt, dahingehend zu verstehen, dass auch Angaben zu psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten in diesem Sinne benötigt werden. Schließlich hat sich oben gezeigt, dass diese Gesichtspunkte bei der Beurteilung des Merkmals „schwerwiegend“ in § 3a Abs. 2 ESchG heranzuziehen sind und damit für die Prüfung dieser genannten Voraussetzung benötigt werden.
b) Daneben geht die Beklagtenseite von einem unrichtigen Verständnis eines anzuwendenden Gesetzesbegriffs im Sinne von 2c) aus, wenn sie (im Gerichtsverfahren nachgeschoben, dessen Zulässigkeit offen bleibt) argumentiert, das Merkmal „schwerwiegend“ sei nicht gegeben, weil bei Bluterkrankheit und angeborenen Herzfehlern ähnliche Gefahren bestehen und somit kein negatives Abweichen von anderen Erbkrankheiten im Sinne der Definition aus BT-Drucks. 17/5451 S.8 vorliege. Hierbei handelt es sich um einen Zirkelschluss, der sich auf jede Erbkrankheit so anwenden ließe, zu der es auch nur eine andere, ähnliche Erbkrankheit gibt. Eine tragfähige Begründung lässt sich so nicht finden. Vor allem entspricht dies aber nicht dem richtigen Verständnis der vom Gesetzgeber entwickelten Definition. Formuliert dieser, dass sich die Krankheit in Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden muss, kann damit nicht gemeint sein, dass es andere, ähnliche Erbkrankheiten nicht geben darf. Zuzugeben ist, dass nicht die Formulierung gewählt wurde, sie müsse sich von „durchschnittlichen“ Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden oder in den „schlimmsten“ x Prozent liegen. So hätte sich angesichts einer Vielzahl von Krankheitsbildern das Problem nur dahingehend verschoben, zu bewerten, wie sich ein durchschnittliches Bild einer Erbkrankheit darstelle und die Beurteilung letztlich wohl nur erschwert. Dennoch muss für diesen Vergleich mit anderen Erbkrankheiten eine breitere Basis an Erbkrankheiten herangezogen werden und die in Frage stehende in dieses Spektrum eingeordnet werden. Allein, dass es eine weitere Erbkrankheit (hier vermeintlich die Bluterkrankheit) gibt, zu der sich die in Frage stehende eventuell nicht wesentlich unterscheiden mag (hier das TAR-Syndrom), stellt ein falsches Verständnis des Merkmals „schwerwiegend“ dar.
Dahinstehen kann daher, ob es allgemein gültigen Wertungsmaßstäben entspricht, die Bluterkrankheit als nicht wesentlich verschieden heranzuziehen, da wohl nicht von vornherein abgelehnt werden kann, dass das Blutungsrisiko (insb. auch für Schädelblutungen) beim TAR-Syndrom wesentlich anders zu bewerten ist als bei der Bluterkrankheit. Jedenfalls im ersten Ansatz erscheint es nachvollziehbar, dass Kinder in den ersten beiden Lebensjahren mit TAR-Syndrom ein deutlich höheres Risiko an Schädelblutungen haben als diejenigen mit Bluterkrankheit, da Beeinträchtigungen der (insb. oberen) Gliedmaßen nachvollziehbarerweise weitergehende Folgen bei Stürzen bzw. im Rahmen des Laufenlernens allgemein nach sich ziehen können.
c) Da bereits zwei gerichtlich prüfbare Verstöße feststehen, kann dahinstehen, ob auch in Folgendem ein Verstoß zu erkennen wäre:
aa) Im Hinblick auf Verfahrensbestimmungen, die auch gemäß 2c) in der gerichtlichen Prüfungsumfang fallen, hat sich ergeben, dass mit Einfluss auf die Beratung neben den 8 Mitgliedern der Ethikkommission 4 Vertreter ohne Vorliegen eines Vertretungsfalles mitgewirkt haben, die nach § 7 Abs. 2 S. 3 der Geschäftsordnung mangels Vertretungsfall gar nicht zu laden gewesen wären. Zudem kann dem Protokoll nicht klar entnommen werden, welche der 12 Anwesenden abgestimmt haben, sondern nur gehofft und vermutet werden, dass es sich um die 8 zur Entscheidung berufenen Mitglieder nach Art. 2 Abs. 3 BayAGPIDV handelt. Zwar macht die Beklagtenseite geltend, es handle sich nur um einen Innenrechtsverstoß, in Richtung Durchschlagen auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung deutet jedoch, dass bei einem pluralistisch besetzten Gremium auch der Proporz der Fachrichtungen nicht mehr gewahrt ist, wenn in manchen Fachrichtungen mehr Personen Diskussionsbeiträge liefern als vorgesehen. Diese Argumentation findet sich so jedenfalls in Entscheidungen zur Anwesenheit von Vertretern in Prüfungskommissionen bei der Beratung über Prüfungsergebnisse wider (BFH, Urteil vom 18. September 2012 – VII R 41/11, VG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 10. Dezember 2002 – 12 A 818/01, VG Frankfurt, Beschluss vom 04. April 1979 – II 2 G 783/79)
bb) Weiterhin erscheint zumindest problematisch, dass das Protokoll derart spät unterzeichnet wurde, namentlich nach Bescheidserlass, Eingang des Briefs der Klägerin vom 30.07.2016 bei der Beklagten und nach Klageerhebung. Das Protokoll dokumentiert die Entscheidungsfindung und das erwogene Für und Wider. Es verwirklicht somit Anforderungen an die Transparenz des Entscheidungsprozesses und ermöglicht Klägerseite und Gericht die Nachprüfung, wie unter 2c) dargestellt. Es ist denknotwendig der bescheidsförmigen Entscheidung vorgelagert. Auch wenn im konkreten Fall, auch wegen der Knappheit der Protokollierung, kein Anlass zur Vermutung einer Manipulation im Hinblick auf die vorgebrachten Gegenargumente und die fristgebunden einzureichende und eingereichte Klage bestehen, sondern der Bescheid wohl aufgrund nicht mehr vorliegender Notizen gefertigt wurde, aus denen dann auch das Protokoll erstellt wurde, läge es nicht fern, von einem beachtlichen Verfahrensfehler auszugehen oder aber davon, dass ein nachträglich gefertigtes Protokoll die nötige Transparenz und Nachprüfbarkeit des Entscheidungsprozesses nicht sicherstellen kann.
cc) Dahinstehen kann auch, ob insofern von einer nicht vollständig und zutreffend ermittelten Prognosebasis im Sinne von Abschnitt 2c) ausgegangen worden ist, als dem Protokoll zu entnehmen ist, dass ein Kommissionsmitglied über einen Einzelfall berichtete, in dem es zu keinen wesentlichen Problemen gekommen sei. Berichte aus eigener Behandlungserfahrung mögen gewisse Aspekte sicherlich veranschaulichen können. Ein Rückschluss daraus, dass es in diesem einen Fall keine Probleme gab darauf, dass die Erkrankung überhaupt problemlos verlaufe, ist jedoch nicht möglich. Dieser Einzelfall kann sich genau gleich darstellen, egal ob es sich um einen seltenen Ausnahmefall handelt, in dem es der Patient durch die ersten beiden Lebensjahre geschafft hat oder ob es sich um einen ganz und gar typischen Verlauf handelt. Die eigentliche Beurteilung der Lebenserwartung, des Krankheitsbildes und Behandelbarkeit wie sie sich für das künftige Kind wahrscheinlich darstellt, wird durch Berichte über einen Einzelfall nicht ersetzt, solange nicht klar ist, ob es sich um einen ganz und gar typischen oder extrem untypischen Einzelfall handelt. Wie es sich hier beim TAR-Syndrom verhält, mit welcher Wahrscheinlichkeit und unter Hinnahme welcher Einschränkungen und Risiken durch nötig Behandlungen man also unkritische Stadien erreichen kann, liegt im Verfahren keinerlei Erkenntnis vor.
dd) Weiter kann offen bleiben, wie schon jeweils angedeutet, ob im Gerichtsverfahren nachgeschobene Begründungen noch zu berücksichtigen sind, da sie an den jeweiligen Stellen bereits als materiell nicht ausreichend erkannt wurden. Gegen das Nachschieben der jeweiligen Begründung spricht jedoch schon, dass sie durch die dem Ministerium zugeordneten Geschäftsstelle, nicht aber durch die zur Entscheidung berufene Ethikkommission gegeben wurde und damit nicht klar ist, ob es sich wirklich um eine von der Kommission als Gremium getragene Begründung handelt. Zudem ist ein Nachschieben von Gründen nicht möglich, soweit überhaupt erstmals eine Begründung erfolgt oder die Entscheidung im gerichtlichen Verfahren mit einem neuen argumentativen Unterbau versehen wird (BeckOK VwGO/Decker, 48. Ed. 1.1.2019, VwGO § 114 Rn. 41, 43 m.w.N.). Die Bescheidsbegründung jedoch beschränkt sich darauf, Tatsachen zur Konstellation der Klägerin und der in Rede stehenden Krankheit zu referieren, Definitionen wiederzugeben und festzustellen, dass die Abstimmung negativ ausgefallen ist. Eine Subsumtion unter die Definitionen aber erfolgt nicht und damit im Kern auch keine Begründung für die getroffene Entscheidung, sodass von Klägerseite nicht ohne Grund das gefundene Ergebnis als überraschend bezeichnet wird. Somit spricht viel dafür, dass jegliche im Gerichtsverfahren nachgeschobene Begründung als neuer argumentativer Unterbau im oben genannten Sinne zu werten wäre.
4. Das Urteil musste dabei als Verpflichtung zur Neuverbescheidung ergehen, da die Sache nicht spruchreif im Sinne von § 113 Abs. 5 VwGO ist. Der Ethikkommission verbleibt ein Beurteilungsspielraum. Festzustellen, ob die für die Entscheidung nötige breite Prognosegrundlage besteht, eine zustimmende oder ablehnende Entscheidung trägt und ggf. mittels Sachverständigengutachten die verschiedenen Disziplinen einzubringen, obliegt nicht dem Gericht (vgl. BeckOK VwGO/Decker, 48. Ed. 1.1.2019, VwGO § 113 Rn. 73, 73.1, Eyermann/Rennert, 15. Aufl. 2019, VwGO § 114 Rn. 9). Soweit der Antrag über Neuverbescheidung hinausging, war er folgerichtig abzuweisen.
5. Da der abzuweisende Teil insgesamt aber nur gering ins Gewicht fällt und die materiellen Argumente der Klägerseite sich letztlich durchsetzen, unterlag die Klägerseite nur zu einem geringen Teil im Sinne von § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO. Der Beklagtenseite wurden damit nicht nur ein Teil, sondern die vollen Kosten auferlegt. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Berufung wurde zugelassen, die die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Ob der Ethikkommission überhaupt ein Beurteilungsspielraum zukommt oder sie eine rein subsumierende Entscheidung trifft, wenn auch unter Zugrundelegung mehrerer Disziplinen, ist, wie dargelegt in Literatur und Rechtsprechung nicht geklärt.
Selbst wenn man diesen, wie das erkennende Gericht, anerkennt, folgen aus dem der Anerkennung zugrundeliegenden Grund (wertende, prognostische oder gemischte Natur der Entscheidung) ggf. verschieden weitgehende, jedenfalls unterschiedlich formulierte Prüfungsmaßstäbe des Gerichts (vgl. Eyermann/Rennert, 15. Aufl. 2019, VwGO § 114 Rn. 77-83). Der hier angewandte orientiert sich an einer Übertragung allgemeiner Kriterien auf die durch die Ethikkommission zu treffende Entscheidung. Eine Klärung der gerichtlichen Kontrolldichte bei Überprüfung der Entscheidung einer Ethikkommission ist bislang – soweit bekannt – jedoch noch nicht erfolgt.
Zuletzt wurde – ebenfalls soweit bekannt – vorliegend erstmals herausgearbeitet, dass ein bereits rechtmäßig erfolgter Schwangerschaftsspätabbruch infolge der Feststellung einer vorliegenden Erbkrankheit eine Indizwirkung dahingehend hat, dass das Merkmal „schwerwiegend“ im konkreten Einzelfall vorliegt und es einer tiefgehenden, fundierten Einzelfallbegründung bedarf, wenn dennoch die PID verweigert werden soll, weil regelmäßig in diesen Konstellationen nicht von der Gefahr des Vorantreibens eugenischer Methoden auszugehen ist. Kontrolldichte, nötige Begründungtiefe und die genannte Indizwirkung sind aber in einer Mehrzahl von Fällen für die Arbeit der Ethikkommissionen von entscheidender Bedeutung.


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