Medizinrecht

Blindengeld: Blindengeldanspruch nach dem BayBlindG

Aktenzeichen  L 15 BL 1/12

Datum:
12.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 31449
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1

 

Leitsatz

1. Einem Blindengeldanspruch nach dem BayBlindG steht nicht entgegen, dass nicht der eigentliche Sehvorgang betroffen, sondern die Verminderung bzw. Aufhebung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit durch eine allgemeine zerebrale Beeinträchtigung des sehbehinderten Menschen verursacht ist – etwa bedingt durch eine schwere Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung (Fortsetzung der Rechtsprechung des Senats v. 19.12.2016 – L 15 BL 9/14). (Rn. 42 – 44)
2. Im Falle eines erhobenen Zweckverfehlungseinwands ist im Einzelfall zu prüfen, ob bei der Ausprägung des individuellen Krankheitsbildes blindheitsbedingte Mehraufwendungen in Betracht kommen; der pauschale Verweis auf die zugrundeliegende Gesundheitsstörung genügt nicht. (Rn. 46 – 47)
3. Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung stellen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar; es muss sich vielmehr um blindheitsspezifischen Aufwand handeln. (Rn. 53)
4. Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz. (Rn. 56)
5. Für den Einwand der Zweckverfehlung trägt die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Bei notwendigen Ermittlungen trifft den Antragsteller die (allgemeine) Mitwirkungsobliegenheit. (Rn. 55)

Verfahrensgang

S 5 BL 3/09 2011-12-05 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 5. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG), jedoch nicht begründet.
Die Klägerin ist als Rechtsnachfolgerin der Antragstellerin aktivlegitimiert. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Antragstellerin blind oder hochgradig sehbehindert im Sinne des BayBlindG war und ihr deshalb ab dem Monat der Antragstellung bis zu ihrem Ableben Blindengeld zustand. Letzteres hat das SG zu Recht verneint.
Die Antragstellerin hatte keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 31.10.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.05.2009 ist im Ergebnis rechtmäßig und hat die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt. Damit scheidet auch eine Rechtsverletzung der Klägerin aus.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1.deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt,
2.bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile v. 26.09.2017 – L 15 BL 8/14 – und v. 20.12.2018 – L 15 BL 6/17) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil v. 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil v. 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil v. 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92, Beschluss v. 29.01.2018 – B 9 V 39/17 B, Urteil v. 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R). Auch dem Vollbeweis können gewisse Zweifel innewohnen; verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (z.B. BSG, Urteil v. 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R, m.w.N.). Dabei ist u.a. auch zu beachten, „dass sich die Gerichte mit demjenigen Gewissheitsgrad zu begnügen haben, den die medizinische Wissenschaft im Einzelfall leisten kann“ (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2012, S. 51, mit Verweis auf Bender/Nack/Treuer).
Die Antragstellerin hatte keinen Anspruch auf Blindengeld.
Sie war zwar während ihres Lebens blind im Sinne des BayBlindG. Der Beklagte hat jedoch mit Erfolg den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung des BayBlindG erhoben, da das Krankheitsbild der Antragstellerin blindheitsbedingte Aufwendungen in der konkreten Situation der Antragstellerin von vornherein ausgeschlossen hat.
1. Bei der Antragstellerin lag nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund (massiver) zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. bereits die Entscheidungen v. 31.01.1995 – 1 RS 1/93 – und 26.10.2004 – B 7 SF 2/03 R; zuletzt Urteil v. 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) stehen auch zerebrale Schäden, die – für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans – zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Diese Festlegung wurde in der Literatur positiv bewertet (vgl. Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2015, 81 ), wenngleich auch zu Recht auf sich hierdurch ergebende gravierende Schwierigkeiten in der Praxis bzgl. des Blindheitsnachweises aufmerksam gemacht wurde (a.a.O.).
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens war die bei der Antragstellerin vorliegende Einschränkung aller Sinnesfunktionen hochgradig. Die Antragstellerin litt an einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung nach reanimationspflichtiger peripartaler Asphyxie; zusätzlich bestand eine Epilepsie mit BNS-Anfällen sowie Sauerstoffbedarf bei rezidivierender respiratorischer Insuffizienz. Die hochgradige Einschränkung aller Sinnesfunktionen folgt eindeutig u.a. aus dem plausiblen neuroradiologischen Sachverständigengutachten von Dr. Sch./Prof. Dr. S. vom 02.08.2011 und entspricht auch den Ergebnissen aller weiteren medizinischen Untersuchungen und Feststellungen, insbesondere auch der in der versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten vom 15.09.2011.
Darauf, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten, kommt es nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/17 R) hieran nicht mehr festgehalten. Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung hat sich das BSG aufgrund von Erkenntnisschwierigkeiten sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst gesehen (vgl. näher a.a.O.). Ebenfalls aufgegeben in der genannten Entscheidung hat das BSG die in der früheren Rechtsprechung getroffene Unterscheidung zwischen dem „Erkennen“ und dem „Benennen“ als so verstandene Teilaspekte bzw. Teilphasen des Sehvorgangs, da die Differenzierung gerade bei zerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen, d.h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – a.a.O. – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“ (BSG, a.a.O.). Der Senat fühlt sich an diese (neuere) Rechtsprechung des BSG gebunden (vgl. bereits das Urteil v. 19.12.2016 – L 15 BL 9/14).
Die Antragstellerin war blind im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG. Es ist zur Gewissheit des Senats nachgewiesen, dass bei ihr eine Verarbeitungsstörung vorlag, so dass sie die Signale der (auch) visuellen Sinnesmodalität nicht identifizieren, mit früheren Erinnerungen nicht vergleichen und nicht benennen konnte.
a. Durch die neuere Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) hat sich an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert (vgl. bereits die frühere Rechtsprechung des erkennenden Senats, nach der es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht mehr ankam, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden, z.B. Urteil v. 27.11.2013 – L 15 BL 4/11; so auch die Lit., vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, 134 : keine allgemeine „Entwarnung“). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden.
b. Hinsichtlich der Antragstellerin ist dieser erbracht.
In dem genannten Urteil vom 11.08.2015 hat das BSG, wie bereits dargelegt, den Sehvorgang im Sinne des BayBlindG (neu) definiert und im Urteil vom 14.06.2018 (a.a.O.) dies bestätigt. Im Rahmen eines umfassenden Verständnisses des Sehvorgangs sieht das BSG nicht nur die optische Reizaufnahme – und wohl ebenfalls die Reizweiterleitung, ohne dass dies in der genannten Entscheidung ausdrücklich festgehalten worden wäre -, sondern auch die weitere Verarbeitung der optischen Reize im Bewusstsein des Menschen als vom Begriff des Sehens im rechtlichen Sinne mit umfasst an; dabei hat das BSG insoweit keine weitere Einschränkung gemacht. Es ist daher im Hinblick auf die Verarbeitungsvorgänge von einem weiten Begriffsverständnis auszugehen (s.u.). Dieses erklärt sich auch mit Blick auf die nach der neuen Rechtsprechung des BSG nun entfallende (in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderungen früher vorzunehmende), in Problemfällen äußerst schwierige und kaum zu leistende Differenzierung, ob das Sehvermögen (Sehen- bzw. Erkennen-Können) beeinträchtigt war, oder ob – bei vorhandener Sehfunktion – (nur) eine Störung des visuellen Benennens vorlag, sodass das Gesehene nicht richtig benannt werden konnte. Der Senat hat im Urteil vom 19.12.2016 (a.a.O.) bereits dargestellt, dass die Aufgabe dieser schwierigen Differenzierung von der Literatur denn auch als sachgerecht begrüßt und als gewisse Vereinfachung auf dem Weg zum Blindheitsnachweis verstanden worden ist, und hat hervorgehoben, dass er diese Auffassung teilt.
Somit ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) jedenfalls in den Fällen zerebraler Schäden auch zu prüfen, ob die Fähigkeit zur „Verarbeitung im Bewusstsein“ des sehbehinderten Menschen beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist.
Eine solche (auch) visuelle Verarbeitungsstörung ist zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme und wird nicht nur von der Klägerin, sondern auch vom Beklagten, wie dieser mit Schriftsatz vom 28.01.2019 ausdrücklich zugestanden hat, so gesehen. Während Schäden speziell des optischen Systems „bei den sehr ausgeprägten pathologischen Veränderungen“ entsprechend den nachvollziehbaren sachverständigen Feststellungen von Dr. Sch./Dr. S. gegebenenfalls nur „sehr wahrscheinlich“ sind, stehen die globalen bzw. generalisierten schwersten Schädigungen des gesamten Gehirns der Antragstellerin fest. Ihre Hirnrinde war insgesamt deutlich verschmächtigt bzw. verdünnt, die schweren Signalveränderungen und die Verschmächtigung der weißen Substanz haben das gesamte Marklager betroffen.
Weitere Feststellungen des Senats sind daher nicht erforderlich. Vorliegend kann somit offenbleiben, ob die Antragstellerin das Augenlicht vollständig verloren hat oder ob bei ihr die Sehschärfe auf dem besseren Auge und auch beidäugig nicht mehr als 1/50 betragen sowie ob eine im Sinne der Richtlinien der DOG gleichzusetzende Sehstörung (Fallgruppenkatalog, s. oben) vorgelegen hat.
2. Ein Anspruch der Antragstellerin auf Blindengeld nach dem BayBlindG bestand jedoch nicht, da der Beklagte zutreffend den Einwand der Zweckverfehlung erhoben hat.
Wie das BSG in dem genannten Urteil vom 14.06.2018 dargelegt hat, stellt die in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG enthaltene Formulierung des Gesetzgebers hinsichtlich des Ausgleichs blindheitsbedingter Mehraufwendungen keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung dar, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung. Dennoch bleibe, so das BSG (a.a.O.), der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung, was sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz erschließe. So sehe das BayBlindG Regelungen zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen vor (Art. 4 Abs. 3 BayBlindG). Der Zweck des Blindengelds werde aber, so das BSG in der genannten Entscheidung, auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbilds des Betroffenen gar nicht erst ent- bzw. bestehen könne. Das BSG hat in der Entscheidung vom 14.06.2018 im Einzelnen Folgendes festgestellt:
„Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).
Das Gesetz geht in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein „Mehraufwand“ aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das BVerwG hat hierzu zur früheren Blindenhilfe nach § 67 Abs. 1 BSHG bereits ausgeführt, dass Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben entstehen, nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder bedingt durch sein Leiden im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muss (so BVerwG Urteil vom 4.11.1976 – V C 7.76 – BVerwGE 51, 281, 287). Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen […]. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt (vgl Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 35), weil diese in der zunehmend visualisierten Umwelt besonderen Beeinträchtigungen unterliegen (vgl Braun, MedSach 3/2016, 134, 135 mwN). So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass ua blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (vgl Bayerisches LSG, aaO; BayLT-Drucks 17/17055 S. 1 zu A und 17/21510 S. 1 zu A).
Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (zB dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann.“
Vorliegend hat der Beklagte den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung zu Recht erhoben. Der Mangel an Sehvermögen der Antragstellerin konnte krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden.
Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere der Auswertung aller vorliegenden einschlägigen medizinischen und pflegerischen Unterlagen. Der Senat beruft sich hier vor allem auf die sachverständigen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. O. und im ärztlichen Bericht der Kinder- und Poliklinik des Universitätsklinikums W-Stadt vom 14.08.2008 und macht sich diese nach eigener Prüfung zu eigen.
1. Maßgeblich sind die tatsächlichen bei der Antragstellerin bestehenden Verhältnisse im Zeitraum der begehrten Leistungsgewährung. Auch wenn in dem oben genannten Urteil des BSG von einer „näheren Bestimmung aller relevanten Krankheitsbilder …, welche blindheitsbedingte Aufwendungen ausschließen“ die Rede ist, würde es nicht genügen, wenn der Beklagte abstrakt alle insoweit einschlägigen Krankheitsbilder auflisten würde. Aus naheliegenden Gründen ist ein Verweis auf die jeweilige Diagnose nicht ausreichend, um dem Einzelfall gerecht zu werden (vgl. bereits das Urteil des erkennenden Senats v. 17.07.2012 – L 15 BL 11/08, in dem im Einzelnen dargelegt worden ist, dass auch bei der Diagnose eines „vollständigen Apallischen Syndroms“ die individuellen Verhältnisse mit Blick auf die der Feststellung immanenten diagnostischen Unsicherheit und der Begrenztheit medizinischer Erfahrungssätze im Einzelnen untersucht werden müssen); es ist zu überprüfen, ob bei der konkreten Ausprägung des Krankheitsbildes blindheitsbedingte Mehraufwendungen in Betracht kommen (so auch Braun, in: MedSach 3/2019, 94 ).
2. Mit dem BSG geht der Senat davon aus, dass der Begriff der blindheitsbedingten Mehraufwendungen grundsätzlich weit auszulegen ist. Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus den Darlegungen des BSG (s.o.) sowie aus den vom BSG ebenfalls genannten Motiven des Landesgesetzgebers (s.o.; so auch Braun, a.a.O.). Zu berücksichtigen sind alle objektiv möglichen Mehraufwendungen, die aufgrund der „Unfähigkeit, selbst etwas in gleicher Weise zu tun, wie bei vorhandenem Sehvermögen“, entstehen können, „so dass entweder die Tätigkeiten von anderen ausgeführt werden müssen oder die Unterstützung durch andere notwendig ist bzw. spezielle Hilfsmittel eingesetzt werden müssen“ (Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 239).
Inwieweit es genügt, wenn nur ganz geringfügiger Mehraufwand im Raum steht, muss vorliegend nicht entschieden werden, da vorliegend keinerlei Mehraufwand ermittelt werden konnte bzw. letztlich auch von Klägerseite nicht benannt worden ist.
3. Entgegen einer vereinzelt in der Literatur geäußerten Auffassung (vgl. Dau, in: jurisPR-SozR 9/2019 Anm. 4) stellen Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar. Der Senat kann der Argumentation nicht folgen, es sei zweifelhaft, ob es einen Fall mit einem anspruchsvernichtenden Zweckverfehlungseinwand im Freistaat Bayern jemals geben werden könne, weil das BayBlindG unter blindheitsbedingten Mehraufwendungen entsprechend den gesetzgeberischen Motiven in erster Linie Aufwendungen für die pflegerische Betreuung verstehe. Wachkomapatienten und zerebral schwerstgeschädigte Menschen bedürften jedoch in jedem Fall intensiver pflegerischer Betreuung, so dass sich der Leistungszweck des BayBlindG bei ihnen deshalb gar nicht verfehlen lasse.
Denn zum einen lässt sich aus den Motiven des Gesetzgebers (vgl. Bayer. Landtag, Drs. 13/458, S. 5) eine Verengung auf die – wie auch immer verstandene – pflegerische Betreuung gar nicht ableiten. Zum anderen kann sich der Senat dieser eher formalen Argumentation auch nicht anschließen, da in den einschlägigen Fällen naheliegenderweise auf blindheitsspezifische Betreuung abzustellen ist. Anderenfalls würden die Vorgaben des BSG auch im Wesentlichen ins Leere laufen.
4. Für den gerichtlich überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt nach der Entscheidung des BSG die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Dabei ist sie verpflichtet, soweit möglich den – wie oben dargelegt individuellen – Sachverhalt zu ermitteln, steht jedoch vor der Schwierigkeit, dass sie die Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer negativen Tatsache trifft, eben hinsichtlich des Nichtvorhandenseins blindheitsbedingter Mehraufwendungen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass zur Ermittlung daher neben den medizinischen/pflegerischen Unterlagen vor allem die Angaben der Personen heranzuziehen sind, die die Verhältnisse hinsichtlich des betroffenen blinden Menschen aufgrund der Sach- und Ortsnähe zutreffend beurteilen können. Die Antragsteller trifft dabei eine Mitwirkungsobliegenheit.
Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz; so kann unnötiger Aufwand o.ä. keine Berücksichtigung finden.
Entscheidend nach der Rspr. des BSG ist, dass der Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden kann. In der konkreten Situation des Betroffenen objektiv nicht möglicher blindheitsbedingter Mehraufwand muss außer Betracht bleiben.
5. Vorliegend ist wegen der konkreten plausiblen medizinischen Unterlagen davon auszugehen, dass es aufgrund des Krankheitsbilds der Antragstellerin ausgeschlossen war, dass der Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden konnte. Die Antragstellerin war massiv geschädigt und konnte mit ihrer Umwelt so gut wie nicht kommunizieren, selbst wenn noch minimale kognitive Verarbeitungsvorgänge stattgefunden haben mögen. Wie der Sachverständige Prof. Dr. O. in seinem plausiblen Gutachten vom 03.04.2010 unmissverständlich dargelegt hat, lag die Antragstellerin bei der Untersuchung am 25.02.2010 (in der M.-Kinderklinik) lediglich unter Sauerstoffassistenz apathisch im Arm der Mutter. Sie hat sich nur sporadisch geregt. Allenfalls konnte festgestellt werden, dass die Antragstellerin auf eine sanfte Fußsohlenmassage hin diskrete Reaktionszeichen, u.a. in der Art eines tiefen Einschnaufens, gezeigt hat. Eine Fixation ist nicht aufgenommen worden.
Dieses Bild wird durch die weiteren medizinischen Unterlagen und Feststellungen bestätigt, so unter anderem auch im vom Beklagten eingeholten Gutachten des Arztes für Kinder- und Jugendmedizin des Frühdiagnosenzentrums W-Stadt Prof. Dr. S. (vom 08.10.2008). Die mangelnde Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit der Antragstellerin ist auch bereits im vom Beklagten beigezogenen ärztlichen Bericht der Kinder- und Poliklinik des Universitätsklinikums W-Stadt vom 14.08.2008 deutlich geworden, wo als Aufnahmebefund u.a. geschildert worden ist, dass die – damals neun Monate alte – Antragstellerin keinen Kontakt aufgenommen und nicht (auf Geräusche oder Licht) reagiert hat.
Entsprechend der zutreffenden Darstellung durch die Ärztin Dr. P. des Beklagten kann zusammenfassend festgestellt werden, dass alle vorhandenen klinischen Befunde bestätigen, dass eine Kontaktaufnahme mit der Antragstellerin auf keiner Ebene möglich gewesen ist. Ein Ausgleich des Mangels an Sehvermögen, etwa durch Assistenzleistungen oder weitere Maßnahmen hinsichtlich von Pflege, Wartung, hauswirtschaftlicher Versorgung, Mobilität, Information, Kommunikation, lebenspraktischen Fertigkeiten, Kleiderwie Materialverschleiß, erhöhtem Wohnraumbedarf o.ä., war demnach nicht möglich und ist denn auch nicht vorgetragen worden.
Dass die Antragstellerin auf zahlreiche dieser Maßnahmen, auf umfassendste Hilfe angewiesen war, ist offensichtlich und bedarf keinerlei weiterer Begründung. Dies beruht jedoch bereits auf der massiven, unabhängig von der Blindheit bestehenden Behinderung der Antragstellerin und nicht auf der Störung speziell ihres Sehvermögens. Aus der Blindheit der Antragstellerin folgte keinerlei eigenständige objektiv mögliche Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht.
Weitere Ermittlungen stehen nicht im Raum. Zielführende Aufklärungsmaßnahmen sind nicht (mehr) möglich. Dass zu blindheitsbedingten Mehraufwendungen der Antragstellerin heute auch keine Angaben mehr zu erhalten sind, hat die Klägerseite am 10.05.2019 und in der mündlichen Verhandlung am 12.11.2019 ausdrücklich bestätigt.
Nach alldem kann die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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