Medizinrecht

Blindengeld: Einwand der Zweckverfehlung

Aktenzeichen  L 15 BL 5/16

Datum:
10.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 42147
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1

 

Leitsatz

1. Im Falle eines erhobenen Zweckverfehlungseinwands ist im Einzelfall zu prüfen, ob bei der Ausprägung des individuellen Krankheitsbildes blindheitsbedingte Mehraufwendungen in Betracht kommen; der pauschale Verweis auf die zugrundeliegende Gesundheitsstörung genügt nicht. (Rn. 67 und 71)
2. Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung stellen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar; es muss sich vielmehr um blindheitsspezifischen Aufwand handeln. (Rn. 73)
3. Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz. (Rn. 75)
4. Zur Frage von Kosten im Zusammenhang mit einer notwendigen zeitintensiven Beschäftigung des Betroffenen. (Rn. 84)

Verfahrensgang

S 5 BL 13/11 2012-10-26 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 26. Oktober 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG) und auch begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind oder hochgradig sehbehindert im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht.
Dies hat das SG zu Unrecht bejaht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Der Bescheid vom 20.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2011 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt,
2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und
1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder
2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile v. 12.11.2019 – L 15 BL 1/12 – und 26.11.2019 – L 15 BL 2/19) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil v. 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil v. 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil v. 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92, Beschluss v. 29.01.2018 – B 9 V 39/17 B, Urteil v. 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R). Auch dem Vollbeweis können gewisse Zweifel innewohnen; verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (z.B. BSG, Urteil v. 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R, m.w.N.).
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld.
Es spricht zwar viel dafür, dass er blind im Sinne des BayBlindG ist. Der Beklagte hat jedoch mit Erfolg den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung des BayBlindG erhoben, da das konkrete Krankheitsbild des Klägers blindheitsbedingte Aufwendungen (in seiner Situation) von vornherein ausschließt.
1. Beim Kläger lag nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. bereits die Entscheidungen v. 31.01.1995 – 1 RS 1/93 – und 26.10.2004 – B 7 SF 2/03 R; zuletzt Urteil v. 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) stehen auch zerebrale Schäden, die – für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans – zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist die beim Kläger vorliegende Einschränkung aller Sinnesfunktionen auch hochgradig. Darauf, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten, kommt es nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil v. 11.08.2015 (a.a.O.) hieran nicht mehr festgehalten (vgl. im Einzelnen auch die Ausführungen im Urteil des Senats vom 26.11.2019 – L 15 BL 2/19). Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – a.a.O. – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“ (BSG, a.a.O.). Der Senat fühlt sich an diese (neuere) Rechtsprechung des BSG gebunden (vgl. bereits das Urteil v. 19.12.2016 – L 15 BL 9/14; Urteile v. 12.11.2019 – L 15 BL 1/12 – und v. 26.11.2019 – L 15 BL 2/19).
Eine Blindheit des Klägers im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt nahe.
Durch die neuere Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) hat sich an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert (vgl. bereits die frühere Rechtsprechung des erkennenden Senats, nach der es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht mehr ankam, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden, z.B. Urteil v. 27.11.2013 – L 15 BL 4/11; so auch die Lit., vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, 134 : keine allgemeine „Entwarnung“). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden.
Vorliegend spricht Einiges für die Blindheit des Klägers. Zwar ist die exakte Sehleistung aufgrund seiner schweren Behinderung nicht zu eruieren. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht jedoch im Raum, dass beim Kläger eine Verarbeitungsstörung vorliegt, so dass er die Signale der (auch) visuellen Sinnesmodalität nicht identifizieren, mit früheren Erinnerungen nicht vergleichen und nicht benennen kann.
Aus Sicht des Senats ist aber fraglich, ob aufgrund der vorliegenden Befunde der Vollbeweis (s.o.) der Blindheit des Klägers erbracht ist. Trotz der allgemeinen Wahrnehmungsstörung des Klägers dürfte nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt sein, dass die visuelle Wahrnehmung jedoch in blindheitsrelevantem Ausmaß aufgehoben wäre. Insbesondere sind nicht die – auch für die Blindengeldverfahren maßgeblichen – Vorgaben in den VG, Teil B Vorbemerkung Nr. 4, eingehalten, dass nämlich der morphologische Befund die Sehstörung hinreichend erklärt. Wenn der Sachverständige Prof. Dr. B. in seinem neuropädiatrischen Sachverständigengutachten eine faktische Blindheit des Klägers annimmt, muss dazu festgestellt werden, dass er diese gerade nicht damit begründet, dass beim Kläger eine schwere (neurologische) Erkrankung etc. vorliege, die eine Verarbeitung der visuellen Reize im Bewusstsein des Klägers ausschließen würde; dies ist dadurch erklärbar, dass entsprechende neuroradiologische Befunddokumentationen eben nicht gegeben sind. Prof. Dr. B. hat seine Blindheits-Feststellung ausschließlich aus der Beobachtung des visuellen Verhaltens hergeleitet bzw. auf einige, letztlich eher weniger nicht aussagekräftige Tests gestützt (s. Seite 12 des Gutachtens).
2. Jedenfalls besteht ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem BayBlindG deshalb nicht, weil der Beklagte erfolgreich zutreffend den Einwand der Zweckverfehlung erhoben hat.
Wie das BSG in dem genannten Urteil vom 14.06.2018 dargelegt hat, stellt die in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG enthaltene Formulierung des Gesetzgebers hinsichtlich des Ausgleichs blindheitsbedingter Mehraufwendungen keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung dar, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung. Dennoch bleibe, so das BSG (a.a.O.), der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung, was sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz erschließe. So sehe das BayBlindG Regelungen zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen vor (Art. 4 Abs. 3 BayBlindG). Der Zweck des Blindengelds werde aber, so das BSG in der genannten Entscheidung, auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbilds des Betroffenen gar nicht erst ent- bzw. bestehen könne. Das BSG hat in der Entscheidung vom 14.06.2018 im Einzelnen Folgendes festgestellt:
„Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).
Das Gesetz geht in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein „Mehraufwand“ aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das BVerwG hat hierzu zur früheren Blindenhilfe nach § 67 Abs. 1 BSHG bereits ausgeführt, dass Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben entstehen, nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder bedingt durch sein Leiden im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muss (so BVerwG Urteil vom 4.11.1976 – V C 7.76 – BVerwGE 51, 281, 287). Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen […]. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt (vgl Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 35), weil diese in der zunehmend visualisierten Umwelt besonderen Beeinträchtigungen unterliegen (vgl Braun, MedSach 3/2016, 134, 135 mwN). So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass ua blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (vgl Bayerisches LSG, aaO; BayLT-Drucks 17/17055 S. 1 zu A und 17/21510 S. 1 zu A).
Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (zB dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann.“
Vorliegend hat der Beklagte den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung wirksam erhoben. Der Mangel an Sehvermögen des Klägers kann krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden.
Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere der Auswertung aller vorliegenden einschlägigen medizinischen und pflegerischen Unterlagen. Der Senat beruft sich hier vor allem auf die o.g. sachverständigen Feststellungen des vom SG beauftragten Gutachters Prof. Dr. B. und macht sich diese nach eigener Prüfung zu eigen.
Wie der Sachverständige in seinem o.g. Gutachten plausibel dargelegt hat, leidet der Kläger an folgenden Gesundheitsstörungen:
– schwerste Mehrfachbehinderung mit spastischer Tetraparese mit jeweils schlechtestem Funktionsniveau nach den entsprechenden Klassifikationssystemen, mit schwerster Intelligenzminderung, mit Mikrozephalie, mit therapieresistenter symptomatischer Epilepsie mit überwiegend generalisierten tonisch-klonischen-Anfällen, mit Hüftluxation links sowie mit einer zerebralen Sehstörung
– Zustand nach Adduktorentenotomie und subkutaner Tenotomie der medialen Kniebeuger (1998),
– Zustand nach nephrotischem Syndrom (1998).
Wie Prof. Dr. B. plausibel dargelegt hat, ist beim Kläger eine schwere Tetraspastik mit spontaner Beugung in Ellenbogen- und Handsowie Fingergelenken und mit Streckung in Hüft-, Knie- und Sprunggelenken feststellbar. Eine aktive Handmotorik, ein Greifen und ein Festhalten von Objekten sind nicht möglich. Ebenso gelingen dem Kläger keine aktive Rotation von der Rückenin die Seitenlage, kein freies Sitzen und nur eine mäßige Kopfkontrolle im Rollstuhl, bei gehaltenem Sitzen ohne Abstützung des Kopfes nur begrenzt. Freies Stehen, Laufen und Lokomotion sind ihm ebenfalls nicht möglich. Entsprechend den nachvollziehbaren Feststellungen von Prof. Dr. B. kann eine reproduzierbare Kontaktaufnahme bzw. Kommunikation mit dem Kläger nur in sehr eingeschränkter Weise erfolgen, nämlich durch verbale Ansprache, Geräusche oder Musik, die den Kläger erfreuen, einfache Zusammenhänge erfassen lassen (z.B. Essen oder Baden) und zu erkennbarem Lächeln, gelegentlich auch zu undifferenzierten, positive Stimmung ausdrückenden Lautäußerungen und vermehrten ungezielten Bewegungen Anlass geben. Mit dem Sachverständigen geht der Senat davon aus, dass das einzige Kommunikationsmittel des Klägers die Mimik und daneben das zum Teil damit verbundene Bewegungsverhalten darstellt. Diese Feststellungen werden im Übrigen auch gestützt von dem kurzen Eindruck, den der Senat vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, ohne dass es freilich hierauf entscheidend ankäme.
1. Maßgeblich sind die tatsächlichen beim Kläger bestehenden Verhältnisse (vgl. bereits die Urteile des Senats v. 12.11.2019 – L 15 BL 1/12 – und 26.11.2019 – L 15 BL 2/19). Ein Verweis auf die jeweilige Diagnose wäre nicht ausreichend, um dem Einzelfall gerecht zu werden (vgl. näher a.a.O. mit Verweis auf das Urteil des erkennenden Senats bereits v. 17.07.2012 – L 15 BL 11/08).
2. Mit dem BSG geht der Senat davon aus, dass der Begriff der blindheitsbedingten Mehraufwendungen weit auszulegen ist (vgl. bereits die Urteile des Senats v. 12.11.2019 und 26.11.2019, jeweils a.a.O.). Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus den Darlegungen des BSG sowie aus den vom BSG ebenfalls genannten Motiven des Landesgesetzgebers (so auch Braun, Die neuen Kriterien für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 3/2019, 94 ). Inwieweit es genügt, wenn nur ganz geringfügiger Mehraufwand im Raum steht, muss vorliegend nicht entschieden werden, da vorliegend keinerlei Mehraufwand ermittelt werden konnte.
3. Wie vom Senat ebenfalls bereits entscheiden worden ist (vgl. die o.g. Urteile v. 12.11.2019 und 26.11.2019, jeweils a.a.O.), stellen entgegen einer in der Literatur geäußerten Auffassung (vgl. Dau, in: jurisPR-SozR 9/2019 Anm. 4) Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung, wie sie hier ausschließlich bestehen, keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar (vgl. im Einzelnen a.a.O.).
4. Für den gerichtlich überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt nach der Entscheidung des BSG vom 14.06.2018 (a.a.O.) die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Dabei ist sie verpflichtet, soweit möglich den – wie oben dargelegt individuellen – Sachverhalt zu ermitteln, steht jedoch vor der Schwierigkeit, dass sie die Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer negativen Tatsache trifft, eben hinsichtlich des Nichtvorhandenseins blindheitsbedingter Mehraufwendungen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass zur Ermittlung daher neben den medizinischen/pflegerischen Unterlagen vor allem die Angaben der Personen heranzuziehen sind, die die Verhältnisse hinsichtlich des betroffenen blinden Menschen aufgrund der Sach- und Ortsnähe zutreffend beurteilen können. Die Antragsteller trifft dabei eine Mitwirkungsobliegenheit.
Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz; so kann unnötiger Aufwand o.ä. keine Berücksichtigung finden.
Entscheidend nach der Rechtsprechung des BSG ist, dass der Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden kann. In der konkreten Situation des Betroffenen objektiv nicht möglicher blindheitsbedingter Mehraufwand muss außer Betracht bleiben.
5. Nach der im Verfahren durchgeführten Prüfung der dem Kläger verbleibenden Möglichkeiten durch den Senat ergibt sich, dass wegen den plausiblen medizinischen Unterlagen und den vorliegenden Angaben davon ausgegangen werden muss, dass es das schwere Krankheitsbild des Klägers ausschließt, den Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen (auch nur teilweise) auszugleichen, worauf im Ergebnis das SG bereits zutreffend hingewiesen hat.
Wie sich aufgrund der vorliegenden medizinischen Befunde ohne jeden Zweifel ergibt, leidet der Kläger an einer schwersten Behinderung. Er ist in jeder Hinsicht schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen des täglichen Lebens vollständig von fremder Hilfe abhängig. Die Annahme des Vaters des Klägers, dass Letzterer bei einem vorhandenen Sehvermögen in der Lage sein könne, alleine zu essen und sogar handarbeitlich tätig zu sein, ist für den Senat nicht nachvollziehbar und auch nicht ansatzweise belegt. Im Übrigen wird auf die nach dem Ergebnis des Verfahrens zur Überzeugung des Senats nachgewiesenen und zwischen den Beteiligten grundsätzlich auch nicht streitigen schwersten Einschränkungen, die oben bereits im Einzelnen dargestellt worden sind, verwiesen.
Wie der Senat bereits im Urteil vom 26.11.2019 (a.a.O.) dargelegt hat, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob beim Kläger ein Restkommunikationsvermögen vorhanden ist. Dieses ist, wie sich aus der Beweisaufnahme ergibt, auf niedrigem Niveau durchaus noch vorhanden, nämlich durch akustische Reize (z.B. verbale Ansprache) seines Umfelds und Mimik des Klägers. Es ändert jedoch nichts daran – wie sich aus den Darlegungen des BSG im o.g. Urteil vom 14.06.2018 (a.a.O.) ohne Weiteres ergibt -, dass das Krankheitsbild des Klägers von vornherein blindheitsbedingte Aufwendungen nicht entstehen lässt, da der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen ausgeglichen werden kann. Denn ein solcher Ausschluss ist, wie das BSG ausdrücklich formuliert hat und wie sich aus medizinischer, pflegerischer und realistischer Sichtweise ergibt, keineswegs ausschließlich bei dauernder Bewusstlosigkeit oder Koma möglich.
Entsprechend der zutreffenden Annahme der Klägerseite besteht keine Nachweispflicht des Betroffenen, welche blindheitsbedingten Mehraufwendungen im Einzelnen entstanden sind. Dies folgt aus Sicht des Senats aufgrund der vom BSG vorgenommenen Beweislastverteilung, an die er sich gebunden fühlt.
Vorliegend ist jedoch zur Überzeugung des Senats, die dieser aufgrund der plausiblen und fundierten medizinischen Befunde gewonnen hat, ausgeschlossen, dass ein blindheitsbedingter Mehraufwand beim Kläger im Hinblick auf sein schweres Behinderungsbild besteht, da der Kläger keine Mehraufwendungen haben kann, „die aufgrund der Unfähigkeit, selbst etwas in gleicher Weise zu tun, wie bei vorhandenem Sehvermögen, entstehen, so dass entweder die Tätigkeiten von Anderen ausgeführt werden müssen oder die Unterstützung durch Andere notwendig ist bzw. spezielle Hilfsmittel eingesetzt werden müssen“ (vgl. Braun, a.a.O., S. 97, mit Verweis auf Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 239). Insbesondere die vom Beklagten im Rahmen der Berufungsbegründung aufgeführten einzelnen Aufwendungen kommen nicht in Betracht, darüber hinaus jedoch auch keine weiteren Maßnahmen des Ausgleichs mangelnden bzw. aufgehobenen Sehvermögens (vgl. Demmel, a.a.O.). Dass auch die Klägerseite letztlich keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen benennen kann, ist logische Konsequenz der schwersten Behinderung des Klägers und unterstreicht die Auffassung des Senats.
Im Hinblick auf den Vortrag der Klägerseite zu solchen Mehraufwendungen gilt Folgendes:
Der Senat kann nicht nachvollziehen, dass beim Kläger wegen aufgehobenen Sehvermögens erhöhter Aufwand bei der Hilfe beim Essen bestehen soll. Bereits aufgrund der ausdrücklichen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. B., dass beim Kläger keine aktive Handmotorik, kein Greifen und kein Festhalten von Objekten etc. möglich sind (s.o.), wird klar, dass spezieller Mehraufwand wegen Blindheit nicht gegeben ist.
Zudem hat die Klägerseite geltend gemacht, dass Mehraufwand wegen der zeitintensiven Beschäftigung des Klägers bestehe. Auch hier gilt jedoch, dass beim Kläger bereits wegen der schwersten Intelligenzminderung, wegen seiner völligen Immobilität und des Fehlens aktiver Handmotorik, des Greifens und des Festhaltens von Objekten etc. kein blindheitsbedingter Mehraufwand besteht. Die zeitintensive Beschäftigung ist, was sich als offensichtlich darstellt, vielmehr der allgemeinen Problematik der schwersten Beeinträchtigung des Klägers, nicht jedoch einer Blindheit geschuldet. Zusätzliche abschätzbare, auch nur ansatzweise quantifizierbare Erschwernisse bei der Beschäftigung des Klägers kommen nicht hinzu und konnten von Klägerseite auch nicht benannt werden. Dass der Kläger mit Blick auf sein Sehvermögen nicht in der Lage sein dürfte, „zum Zeitvertreib“ Bilder, Filme o.ä. anzusehen, um dabei „unterhalten“ zu werden, ist dabei nicht von Relevanz, da dies wegen der schweren geistigen Behinderung des Klägers bzw. der nicht möglichen Inhaltserfassung etc. keine Rolle spielt.
Schließlich kann auch die geschilderte Notwendigkeit, sehr häufig zum Kläger zu kommen, um die Anwesenheit der Eltern zu bestätigen, keinen Mehraufwand im oben genannten Sinn begründen. Zwar werden vom „blindheitsbedingten Mehraufwand“ im Sinne des BayBlindG grundsätzlich auch immaterielle Bedürfnisse des blinden Menschen berücksichtigt, jedoch muss es sich im Hinblick auf den wirtschaftlichen Charakter des Blindengelds um materiellen Aufwand handeln. Der Senat hat bereits entschieden (Urteile v. 26.11.2019 – L 15 BL 2/19 – und bereits v. 27.11.2013 – L 15 BL 4/12), dass Maßnahmen nur des psychischen Beistands o.ä. keinen blindheitsbedingten Aufwand darstellen, da insoweit keine Betreuungsleistungen (im weiteren Sinn) betroffen sind. Schließlich gleicht die Herstellung von Nähe auch keine blindheitsspezifischen Nachteile aus (vgl. die therapeutisch empfohlene Ansprache etc. bewusstloser Menschen; siehe das Urteil des Senats v. 26.11.2019).
Weitere Ermittlungen sind nicht erforderlich. Vor allem aufgrund der ausführlichen Darlegungen im Gutachten von Prof. Dr. B., der die tatsächliche Situation des mehrfach schwerstbehinderten Klägers fundiert geschildert hat, stehen weitere Ermittlungen nicht im Raum. Sie sind denn auch nicht beantragt worden; entsprechende Hinweise oder Anträge sind auch von der Klägerseite in keiner Weise erfolgt.
Die Berufung des Beklagten hat somit Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von Blindengeld durch den Beklagten. Der Gerichtsbescheid des SG ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 20.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2011 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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