Medizinrecht

Blindheit ist trotz möglicherweise bestehenden Sehvermögens auch bei erheblicher Verarbeitungsstörung in Folge einer schweren Demenz anzunehmen

Aktenzeichen  L 15 BL 9/14

Datum:
19.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 111616
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 u. S. 2 Nr. 2
SGG § 124 Abs. 2, § 143, § 151, § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 193, § 202

 

Leitsatz

1. Eine der Blindheit entsprechende zerebrale Störung des Sehvermögens setzt keine spezifische Sehstörung voraus (Fortsetzung der Rechtsprechung des BayLSG vom 05.07.2016 L 15 BL 17/12). (amtlicher Leitsatz)
2. Im Falle zerebraler Störungen ist zu prüfen, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (optische Reizaufnahme und Verarbeitung) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen. (amtlicher Leitsatz)
3. Einem Blindengeldanspruch nach dem BayBlindG steht nicht entgegen, dass nicht der eigentliche Sehvorgang betroffen, sondern die Verminderung bzw. Aufhebung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit durch eine allgemeine zerebrale Beeinträchtigung des sehbehinderten Menschen verursacht ist etwa bedingt durch eine schwere Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung. (amtlicher Leitsatz)

Verfahrensgang

S 15 BL 3/13 2014-11-20 GeB SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I.
Auf die Berufung werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 20. November 2014 sowie der Bescheid des Beklagten vom 26. Februar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juni 2013 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab Antragstellung Blindengeld zu gewähren.
II.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
III.
Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 SGG. Hieran war er auch nicht im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention gehindert (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 153, Rdnr. 13a), weil das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Denn für die Klägerin bestand im Berufungsverfahren die Möglichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung; sie hat hierauf jedoch verzichtet (vgl. auch das Urteil des Senats vom 14.03.2016, Az.: L 15 SB 156/15, vom BSG bestätigt mit Beschluss vom 17.11.2016, Az.: B 9 SB 23/16 B).
Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i. V. m. §§ 143, 151 SGG) und begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG (unter Berufung auf die frühere, zwischenzeitlich aufgegebene Rechtsprechung des BSG) zu Unrecht verneint. Die Klägerin hat Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 26.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.06.2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 24.07.2013 (GVBl. S. 464) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung (vgl. das Urteil des BSG vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, s. hierzu unten).
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 (0,02) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. die Urteile vom 31.01.2013, Az.: L 15 BL 6/07, sowie vom 05.07.2016, Az.: L 15 BL 17/12) ist in besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder die Annahme von Blindheit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG auch außerhalb dieser Fallgruppen möglich.
Bei der Klägerin liegt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Entscheidungen vom 31.01.1995, Az.: 1 RS 1/93, 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, 20.07.2005, Az.: B 9a BL 1/05 R, und 11.08.2015, Az.: B 9 BL 1/14 R) stehen auch zerebrale Schäden, die – für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans – zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Diese Festlegung wird in der Literatur positiv bewertet (vgl. Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2015, S. 81, 82), wenngleich auch – zu Recht – auf sich hierdurch ergebende gravierende Schwierigkeiten in der Praxis bzgl. des Blindheitsnachweises aufmerksam gemacht wird (a. a. O.).
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist die bei der Klägerin vorliegende Einschränkung aller Sinnesfunktionen hochgradig. Dies folgt eindeutig u. a. aus dem fundierten neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten von Dr. D. vom 08.09.2014 und entspricht auch den Ergebnissen aller weiteren medizinischen Untersuchungen und Feststellungen. Darauf, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten, kommt es nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil vom 11.08.2015 (a. a. O.) hieran nicht mehr festgehalten. Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung hat sich das BSG aufgrund von Erkenntnisschwierigkeiten sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst gesehen (vgl. näher a. a. O.). Ebenfalls aufgegeben in der genannten Entscheidung hat das BSG die in der früheren Rechtsprechung getroffene Unterscheidung zwischen dem „Erkennen“ und dem „Benennen“ als so verstandene Teilaspekte bzw. Teilphasen des Sehvorgangs, da die Differenzierung gerade bei zerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen, d. h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“ (BSG, a. a. O.). Der Senat fühlt sich an diese (neue) Rechtsprechung des BSG gebunden.
Die Klägerin ist blind im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG. Es ist zur Gewissheit des Senats nachgewiesen, dass bei ihr eine Verarbeitungsstörung vorliegt, so dass sie die Signale der (auch) visuellen Sinnesmodalität nicht identifizieren, mit früheren Erinnerungen nicht vergleichen und nicht benennen kann.
1. Wie der Senat wiederholt (vgl. z. B. Urteil vom 20.01.2015, Az.: L 15 BL 16/12) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d. h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92).
2. Der Beklagte nimmt zutreffend an, dass sich durch die neue Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert hat. Nach der Rechtsprechung des Senats kam es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht (mehr) an, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden (vgl. Urteil vom 27.11.2013, Az.: L 15 BL 4/11). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden (vgl. auch Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, S. 134, 135: keine allgemeine „Entwarnung“).
3. Im Falle der Klägerin ist der Blindheitsnachweis erbracht.
a. Es kann vorliegend offen bleiben, ob die Klägerin das Augenlicht vollständig verloren hat. Hieran hat der Senat auch Zweifel. Denn die Wahrnehmung ist, wie der Sachverständige Dr. D. plausibel dargelegt hat, nicht durch Schädigungen im Sinnesorgan und der Leitung zum Gehirn gestört. Demzufolge lässt sich auch kein Schaden im Bereich der Sehbahn etc. lokalisieren. Eine Bestimmung des Sehvermögens aufgrund einer quantitativen Bestimmung der Hirnschädigungen ist ebenfalls nicht möglich; dies hat Dr. D. nachvollziehbar aufgezeigt.
b. Entsprechendes gilt auch für die Annahmen, dass bei ihr die Sehschärfe auf dem besseren Auge und auch beidäugig nicht mehr als 1/50 betragen sowie dass eine im Sinne der Richtlinien der DOG gleichzusetzende Sehstörung (Fallgruppenkatalog, s.o.) vorliegen würde.
c. Gleichwohl ist die Klägerin blind im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG.
aa) In dem genannten Urteil vom 11.08.2015 hat das BSG, wie bereits dargelegt, den Sehvorgang im Sinne des BayBlindG (neu) definiert. Im Rahmen eines umfassenden Verständnisses des Sehvorgangs sieht das BSG nicht nur die optische Reizaufnahme – und wohl ebenfalls die Reizweiterleitung, ohne dass dies in der genannten Entscheidung ausdrücklich festgehalten worden wäre -, sondern auch die weitere Verarbeitung der optischen Reize im Bewusstsein des Menschen als vom Begriff des Sehens im rechtlichen Sinne mit umfasst an; dabei hat das BSG insoweit keine weitere Einschränkung gemacht. Es ist daher im Hinblick auf die Verarbeitungsvorgänge von einem weiten Begriffsverständnis auszugehen (s.u.). Dieses erklärt sich auch mit Blick auf die nach der neuen Rechtsprechung des BSG nun entfallende (in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderungen früher vorzunehmende), in Problemfällen äußerst schwierige und kaum zu leistende Differenzierung, ob das Sehvermögen (Sehen- bzw. Erkennen-Können) beeinträchtigt war, oder ob – bei vorhandener Sehfunktion – (nur) eine Störung des visuellen Benennens vorlag, so dass das Gesehene nicht richtig benannt werden konnte. Die Aufgabe dieser schwierigen Differenzierung ist von der Literatur denn auch als sachgerecht begrüßt und als gewisse Vereinfachung auf dem Weg zum Blindheitsnachweis verstanden worden (vgl. Braun, a. a. O.); der Senat teilt diese Auffassung.
Somit ist im Hinblick auf diese Rechtsprechung des BSG jedenfalls in den Fällen zerebraler Schäden auch zu prüfen, ob die Fähigkeit zur „Verarbeitung im Bewusstsein“ des sehbehinderten Menschen beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist.
bb) Eine solche (auch) visuelle Verarbeitungsstörung ist zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen.
Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Der Senat stützt sich dabei insbesondere auf das überzeugende und fundierte Gutachten von Dr. D.. Der Gutachter hat die bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigungen vollständig erfasst und unter Beachtung der maßgeblichen Vorgaben zutreffend gewürdigt. Der Senat macht sich die Feststellungen des genannten Sachverständigen, die auch in Übereinstimmung mit der gesamten vorliegenden Befunddokumentation stehen, zu eigen.
Danach leidet die Klägerin an einer sehr schweren Demenz bei Alzheimerkrankheit mit frühem Beginn. Ihre (visuelle) Wahrnehmung ist massiv gestört, nicht durch Schädigungen im Sinnesorgan und der Leitung zum Gehirn, sondern durch Verlust der kognitiven Verarbeitung, worauf der Sachverständige nachvollziehbar hingewiesen hat. Dementsprechend lässt sich auch kein Schaden in den genannten Gehirnbereichen sicher nachweisen. Wie Dr. D. nachvollziehbar dargestellt hat, besteht die Störung der Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darin, dass die Signale der verschiedenen Sinnesmodalitäten nicht identifiziert, mit früheren Erinnerungen nicht verglichen und nicht benannt werden können. Entsprechend den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen besteht eine Verarbeitungsstörung aller Sinnesqualitäten, wobei Hauptursache die generalisierte Kognitionsstörung ist. Ohne Schäden im Bereich des Empfangsorgans bzw. der Leitung einer Sinnesqualität können die aufgenommenen Signale wegen fehlender Verarbeitung nicht mehr genutzt werden; dies gilt auch für das Sehen. Bei der Klägerin besteht der Verlust von kognitiver Bearbeitung aller eingehenden Informationen auf kortikaler Ebene.
Dies steht aufgrund des plausiblen Gutachtens von Dr. D. fest. Insbesondere steht auch der morphologische Befund nicht entgegen, sondern erklärt vielmehr die eben festgestellte Beeinträchtigung der Klägerin in vollem Umfang. Schließlich hat auch der Beklagte die Auffassung vertreten, dass die Fähigkeit der Verarbeitung optischer Signale bei der Klägerin aufgehoben ist; so hat die Fachärztin B. in ihrer Stellungnahme vom 25.07.2016 diese Schlussfolgerung des Sachverständigen Dr. D. als schlüssig bezeichnet. Sie hat insoweit lediglich die Voraussetzungen für die Entstehung eines Blindengeldanspruchs nicht für gegeben erachtet und damit letztlich eine juristische Bewertung vorgenommen.
Dass die mangelnden Sehleistungen der Klägerin auf der allgemeinen Herabsetzung ihrer Fähigkeiten beruhen, steht der Annahme einer schweren Sehstörung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG nach Auffassung des Senats nicht entgegen. Denn selbst wenn tatsächlich nicht der eigentliche Sehvorgang betroffen, sondern die Verminderung oder Aufhebung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit (nur) durch eine allgemeine Beeinträchtigung wie eine schwere Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung verursacht ist, vermag dies nach der neuen Rechtsprechung des BSG einen Blindengeldanspruch nach dem BayBlindG zu begründen (a. A. wohl Braun/Zihl, a. a. O., die von „sekundärer“ Verursachung sprechen). Denn wie das BSG in seinem Urteil vom 11.08.2015 (a. a. O.) entschieden hat, kommt es auf eine spezifische Sehstörung gerade nicht an. Wenn hier vom BSG (a. a. O.) wegen allgemein angesprochenen Erkenntnisschwierigkeiten und unter dem Aspekt der Gleichbehandlung an dem Nachweis spezieller Merkmale von Sehstörungen nicht mehr festgehalten worden ist, kann es nicht angehen, gerade die Betroffenen aus dem anspruchsberechtigten Personenkreis auszuschließen, bei denen die Störungen auf der kognitiven Ebene (Aufmerksamkeit und Gedächtnis) verortet sind. Denn wie das BSG für die Prüfung der spezifischen Sehstörung zutreffend festgestellt hat, lassen sich gerade bei schwerstbehinderten Menschen die exakten Störungsbereiche hinsichtlich der Wahrnehmung mangels geeigneter Untersuchungsmethoden kaum verlässlich feststellen. Mit anderen Worten: Eine verlässliche Feststellung ist nicht nur hinsichtlich der Unterschiede in den Wahrnehmungsmodalitäten kaum möglich, sondern dies gilt erst recht auch für die Abgrenzung, ob der Sehvorgang selbst betroffen ist oder die Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmung durch allgemeine Störungen verursacht ist.
Dieses im Hinblick auf die Verarbeitungsvorgänge (als Elemente des Sehvorgangs) vom BSG vertretene weite Begriffsverständnis des Sehvorgangs ist – wie oben (Ziff. 3.b.aa.) dargelegt – sachgerecht. Es steht auch zu den gesetzlichen Voraussetzungen des BayBlindG nicht im Widerspruch. Zwar sieht das Gesetz die Gewährung von Blindengeld ausdrücklich zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen vor und sind solche Mehraufwendungen im Falle allgemeiner Wahrnehmungsstörungen zweifelhaft (vgl. das Argument „kein Bewusstlosengeld“, s.o.), jedoch stellt die genannte Formulierung nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R), die für den Senat ebenfalls verbindlich ist, keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung dar, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, hier für Klarheit zu sorgen.
Soweit die Klägerin bei Untersuchungen und Beobachtungen auf verschiedene Reize Reaktionen gezeigt hat, handelt es sich entsprechend den plausiblen Darlegungen des Gutachters Dr. D. lediglich um sogenannte Startlereaktionen im Sinne einer raschen, schützenden Reflexantwort der Muskulatur auf überraschende Reize. Diese bieten aber, wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (vgl. z. B. das Urteil vom 27.03.2014, Az.: L 15 BL 5/11, m. w. N.), keine Anhaltspunkte für das Funktionieren eines Sinns; eine visuelle Schreckreflexreaktion kann sogar bei blinden Personen ausgelöst werden (a. a. O.). Startlereaktionen dürfen nicht als reizspezifische Antworten bzw. willensgesteuerte motorische Reaktionen fehlgedeutet werden.
Etwas anderes ergibt sich im Übrigen auch nicht aufgrund der Bescheinigung der Pflegeeinrichtung vom 05.03.2013 und auch nicht aufgrund der in der mündlichen Verhandlung des SG gezeigten Videosequenzen, ferner nicht aus dem Bericht von Dr. S. (vom 23.01.2014). Soweit in der Bescheinigung der Pflegeeinrichtung festgestellt wird, dass die Klägerin bei jeder Berührung und Ansprache mit den Augen reagiere, die sich hin und her bewegen würden, was angesichts der Feststellungen des Gutachters Dr. D. für den Senat ohnehin kaum nachvollziehbar ist, spricht vieles dafür, dass es sich auch insoweit lediglich um Startlereaktionen gehandelt hat. Soweit behauptet wird, dass die Klägerin „so nonverbal mit dem Pflegepersonal“ kommuniziere, kann dies den Senat nicht überzeugen. Denn die Bescheinigung ist in sich widersprüchlich. Sie geht nämlich selbst ausdrücklich von einem Verlust der visuellen Wahrnehmung aus. Zudem steht aufgrund des plausiblen und fundierten Gutachtens von Dr. D. fest, dass mit der Klägerin keine Kommunikation möglich ist; der Sachverständige hat dies ausdrücklich im Hinblick auf die fehlende kognitive Leistung festgestellt. Entsprechendes gilt für den Bericht des (insoweit fachfremd argumentierenden) Hausarztes Dr. S.
Im Übrigen besteht hier auch Einigkeit mit dem Beklagten. So hat die Ärztin Dr. P. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 07.06.2013 ausdrücklich festgestellt, dass eine sinngebende Kommunikation mit der Klägerin nicht möglich sei. Das von der Hausleitung des Seniorenzentrums L. beschriebene Abwehrverhalten sei keine sinngebende bzw. spezifische Reaktion bzw. nicht Ausdruck einer adäquaten Verarbeitung von Sinneseindrücken. Entsprechendes gilt schließlich für die gezeigten Videosequenzen. Insbesondere ist auch hier in keiner Weise nachgewiesen, dass es sich um eine Reaktion aufgrund Wahrnehmung aus kognitiver Verarbeitung handeln würde. Wie der Gutachter im Einzelnen herausgearbeitet hat, liegt bei der Klägerin keine (erkennbare) Auffassungsgabe und Aufmerksamkeit vor.
Die Berufung hat daher in vollem Umfang Erfolg. Der Beklagte ist unter Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidungen zur Gewährung von Blindengeld zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat lässt die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der hier maßgeblichen Rechtsfragen zu.


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