Medizinrecht

Coronavirus, SARS-CoV-2, Wirksamkeit, Anordnung, Verbreitung, Gleichbehandlungsgrundsatz, Verfahren, Lebensmittelsicherheit, Hauptsache, Zugangsvoraussetzung, Voraussetzungen, Erfolgsaussichten, Zeitpunkt, Erlass, Verordnung, Deutschland, einstweilige Anordnung, Wirksamkeit der Verordnung, Freistaat Bayern

Aktenzeichen  20 NE 21.2903

Datum:
12.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 5026
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin, die in Bayern Spielhallen betreibt, wendet sich mit ihrem Antrag vom 26. November 2021 zuletzt gegen § 4 Abs. 1 Nr. 2 der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (15. BayIfSMV) vom 23. November 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 816) in der Fassung vom 23. Dezember 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 949), dessen vorläufige Außervollzugsetzung sie beantragt.
Sie ist der Auffassung, der zusätzliche Testnachweis („2Gplus“) als Zugangsvoraussetzung zu ihren Betrieben verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da vergleichbare Beschränkungen des Zugangs für gastronomische Betriebe nicht bestünden. Außerdem fehle es an einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage, die Regelung sei unverhältnismäßig und es liege ein Verstoß gegen § 28a Abs. 5 IfSG vor, weil die Begründung zur 15. BayIfSMV erst 24 Stunden nach der Veröffentlichung der 15. BayIfSMV in den späten Abendstunden des 24. November 2021 erfolgt sei.
Sie beantragt,
§ 4 Abs. 1 Nr. 2 15. BayIfSMV vorläufig außer Vollzug zu setzen.
Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
Mit Schreiben vom 28. Dezember 2021 hat der Senat die Antragstellerin auf seinen Beschluss vom 21. Dezember 2021 (20 NE 21.2946), veröffentlicht auf der Homepage des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, hingewiesen. Eine Äußerung dazu erfolgte seitens der Antragstellerin nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache gegen § 4 Abs. 1 Nr. 2 15. BayIfSMV sind unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO bei der nur möglichen summarischen Prüfung als offen anzusehen. Eine Folgenabwägung geht zulasten der Antragstellerin aus.
1. Zur Begründung wird zunächst auf den der Antragstellerin bekannten Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2021 (20 NE 21.2946) Bezug genommen.
2. Zweifel an der Wirksamkeit der Norm bestehen in der vorliegenden Fallkonstellation auch nicht, weil die nach § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG erforderliche Begründung (BayMBl. 2021 Nr. 827) zur Verordnung erst in den späten Abendstunden des Tages ihres Inkrafttretens am 24. November veröffentlicht wurde (§ 18 Abs. 1 15. BayIfSMV in der Fassung vom 23. November 2021). Denn eine Veröffentlichung der Begründung am Tag des Inkrafttretens dürfte noch in einem Zeitraum liegen, der als „möglichst zeitnah“ zum Erlass der Rechtsverordnung anzusehen ist (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 74 zu Absatz 5), weshalb die Wirksamkeit der Verordnung voraussichtlich nicht in Frage gestellt ist.
3. Die Ausführungen in dem Beschluss vom 21. Dezember 2021 beanspruchen angesichts der aktuellen pandemischen Situation weiterhin Geltung. Die Infektionslage stellt sich nach der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts (RKI) in dem wöchentlichen Lagebericht vom 30. Dezember 2021 und der Risikobewertung vom 21. Dezember 2021 wie folgt dar:
Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung durch COVID-19 für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein. Ursächlich hierfür ist das Auftreten und die rasante Verbreitung der Omikronvariante, die sich nach derzeitigem Kenntnisstand (aus anderen Ländern) deutlich schneller und effektiver verbreitet als die bisherigen Virusvarianten. Dadurch ist mit einer schlagartigen Erhöhung der Infektionsfälle zu rechnen und es kann zu einer schnellen Überlastung des Gesundheitssystems und ggf. weiterer Versorgungsbereiche kommen. Die Infektionsgefährdung wird für die Gruppe der Ungeimpften als sehr hoch, für die Gruppen der Genesen und Geimpften mit Grundimmunisierung (zweimalige Impfung) als hoch und für die Gruppe der Geimpften mit Auffrischimpfung (dreimalige Impfung) als moderat eingeschätzt. Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern. Die aktuelle Version der Risikobewertung findet sich unter https://www.rki.de/covid-19-risikobewertung
Die 7-Tages-Inzidenzen sind derzeit in allen Altersgruppen insbesondere in der Gruppe der Ungeimpften sehr hoch. Die Fallzahlen sind deutlich höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Auch die Zahl schwerer Erkrankungen an COVID-19, die im Krankenhaus aufgenommen und ggf. auch intensivmedizinisch behandelt werden müssen, befindet sich weiter auf einem hohen Niveau. Die Zahl der Todesfälle ist sehr hoch.
Es lassen sich viele Infektionsketten nicht nachvollziehen, Ausbrüche treten in vielen verschiedenen Umfeldern auf. SARS-CoV-2 verbreitet sich überall dort, wo Menschen zusammenkommen, insbesondere in geschlossenen Räumen. Häufungen werden oft in Privathaushalten und in der Freizeit (z.B. im Zusammenhang mit Besuchen von Bars und Clubs) dokumentiert, Übertragungen und Ausbrüche finden aber auch in anderen Zusammenhängen statt, z.B. im Arbeitsumfeld, in Schulen, bei Reisen, bei Tanz- und Gesangsveranstaltungen, Weihnachtsfeiern und anderen Feiern, besonders auch bei Großveranstaltungen und in Innenräumen. COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen und Krankenhäusern treten wieder zunehmend auf. Davon sind auch geimpfte Personen betroffen.
Die Ausbreitung der Omikronvariante ist sehr beunruhigend. Sie wird mit steigender Tendenz zusätzlich zur Deltavariante in Deutschland nachgewiesen. Die Omikronvariante ist deutlich übertragbarer und es bestehen noch Unsicherheiten hinsichtlich der Effektivität und Dauer des Impfschutzes sowie der Schwere der Erkrankung.
Die aktuelle Entwicklung ist daher sehr besorgniserregend, und es ist zu befürchten, dass es bei weiterer Verbreitung der Omikronvariante in Deutschland wieder zu einer weiteren Zunahme schwerer Erkrankungen und Todesfällen kommen wird und die deutschlandweit verfügbaren intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten überschritten werden.
Der Antragsgegner hat in der auf § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG beruhenden Begründung der 15. BayIfSMV (zuletzt zur Verordnung zur Änderung der 15. BayIfSMV vom 23. Dezember 2021, BayMBl. 2021 Nr. 950) folgendes Lagebild zur Grundlage der angefochtenen Regelung gemacht:
Ab Mitte Oktober war ein starker Anstieg der Meldefälle zu beobachten. Die Infektionszahlen übersteigen weiterhin das Niveau der zweiten und der bisher intensivsten Corona-Welle. Der in Bayern seit 25. November 2021 zu beobachtende leichte Rückgang der Infektionsdynamik bei den Meldefällen scheint sich fortzusetzen. Die Fallzahlen sowie die daraus errechnete Reproduktionszahl müssen weiterhin im Kontext der Überlastung der Gesundheitsämter betrachtet werden. Eine weiter fortschreitende und dauerhafte Entspannung der Situation ist vor dem Hintergrund der aufkommenden, sehr infektiösen Omikron-Variante aber nicht anzunehmen. Am 23. Dezember 2021 liegt die 7-Tage-Inzidenz der Meldefälle in Bayern mit 246,0 unter dem Bundesdurchschnitt von 280,3. Seit 29. Oktober 2021 überschreitet die 7-Tage-Inzidenz in Bayern den bisherigen Höchststand von 217,8 vom 20. Dezember 2020.
Insgesamt verzeichnen nach den Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) am 23. Dezember 2021 alle Landkreise und kreisfreien Städte in Bayern eine 7-Tage-Inzidenz der Meldefälle von über 100. Im Einzelnen liegen zwei Landkreise und kreisfreie Städte über 500, weitere 3 über 400 sowie weitere 17 über 300. 52 Landkreise und kreisfreie Städte weisen einen Wert der 7-Tage-Inzidenz von 200 bis 300 auf und 22 Kreise einen Wert von 100 bis 200 (https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4/page/page_1). Dabei reicht die Spannbreite der Werte der 7-Tage-Inzidenz von 138,8 in der kreisfreien Stadt Erlangen bis 561,4 im Landkreis Coburg. In der Gesamtbetrachtung zeigt sich in Bayern damit weiterhin ein hohes Infektionsgeschehen mit regionalen Unterschieden.
In Deutschland ist zum jetzigen Zeitpunkt die Delta-Variante noch dominierend. Mit Datenstand 23. Dezember 2021, 8:00 Uhr, wurden dem Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) insgesamt 685 Fälle der Omikron-Variante (B.1.1.529) in Bayern übermittelt. Dabei handelt es sich bei 75 Fällen um mittels Gesamtgenomsequenzierung bestätigte Fälle, und bei 610 um Verdachtsfälle mit Hinweis auf die Omikron-Variante in der variantenspezifischen PCR.
In vielen Ländern weltweit wird derzeit eine extrem kurze Verdoppelungsrate der Omikron Fälle zwischen 2 und 4 Tagen beobachtet; es wird erwartet, dass sich die Variante innerhalb kurzer Zeit gegenüber der Delta-Variante durchsetzt. Dies ist besorgniserregend, da bislang erst wenige wissenschaftlich gesicherte Daten zu Virulenz, Wirksamkeit von Impfstoffen und therapeutischen Antikörpern sowie zur Übertragbarkeit zur Verfügung stehen. Omikron zeigt eine ungewöhnlich hohe Zahl von ca. 30 Aminosäureänderungen innerhalb des Spike-Proteins, darunter einige mit bekanntem Einfluss, die z. B. eine Erhöhung der Übertragungsfähigkeit sowie eine Immunevasion bewirken können; letztere führt dazu, dass die Viren der Erkennung durch das Immunsystem entgehen und daher eine verringerte Wirksamkeit von Impfungen bzw. eines verringerten Schutzes vor Reinfektionen bei Genesenen zur Folge haben könnten. Nachgewiesen sind aber auch Mutationen, deren Bedeutung gegenwärtig noch unklar ist. Daher ist derzeit ein besonders vorsichtiges Vorgehen angezeigt.
Weitere Sequenzierungsergebnisse stehen aus. Derzeit ist noch unklar, ob die hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit von Omikron an einer erhöhten Übertragbarkeit, einer möglicherweise verminderten Schutzwirkung von Impfungen oder Reinfektionen oder einer Kombination von beidem zurückzuführen ist. Ausschlaggebend für die Einstufung als VOC war die derzeitige Gefährdungsbeurteilung. So wird auf Basis der vorliegenden Informationen angenommen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Eintrags der Omikron-Variante in andere Länder und ihre mögliche Verbreitung innerhalb der Bevölkerung hoch ist. Vor dem Hintergrund der starken Ausbreitung von Delta und der dadurch bereits bestehenden hohen Krankheitslast in der aktuellen pandemischen Situation könnten die Auswirkungen der möglichen weiteren Verbreitung von Omikron sehr groß sein. Laut ECDC deuten die vorläufigen Daten aus Südafrika darauf hin, dass sich Omikron innerhalb weniger Monate gegenüber Delta durchsetzen könnte. Die ECDC schätzt die Wahrscheinlichkeit weiterer Einträge und Übertragungen innerhalb Europas und das Risiko durch Omikron insgesamt als hoch bis sehr hoch ein und rät dringend zu raschen und schärferen Infektionsschutzmaßnahmen, um eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern.
In der dargestellten pandemischen Situation dürfte die angegriffene Norm daher grundsätzlich den durch § 28a Abs. 7 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 IfSG vorgegebenen Maßstäben entsprechen.
4. In der Situation insgesamt als offen anzusehender Erfolgsaussichten der Hauptsache ergibt die gebotene Folgenabwägung zwischen dem betroffenen Schutzgut der freien wirtschaftlichen Betätigung aus Art. 12 Abs. 1 GG und ggf. dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 14 Abs. 1 GG) mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG insbesondere im Hinblick auf die weiterhin auf hohem Niveau bleibenden Infektionszahlen, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Folgen hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. Hierbei ist auch die durch die Änderungsverordnung vom 14. Dezember 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 875) aufgenommene Freistellung für Personen, die zusätzlich eine weitere Impfstoffdosis als Auffrischungsimpfung erhalten haben, in § 4 Abs. 7 Nr. 4 15. BayIfSMV zu berücksichtigen. Diese mildert die Eingriffsintensität der Regelung in grundrechtlich geschützte Positionen der Antragstellerin ab, da sie einen schon jetzt nicht unerheblichen (im Freistaat Bayern derzeit etwa 5,2 Mio. Personen) und ständig weiter zunehmenden Personenkreis von der Testnachweispflicht befreit.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 12. Januar 2022 außer Kraft tritt (§ 18 Abs. 1 15. BayIfSMV in der Fassung vom 23. Dezember 2021), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Streitwerts für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.


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