Medizinrecht

Einstweilige Anordnung, Bosnien-Herzegowina, ausgewiesener Sexualstraftäter, psychische Erkrankung, Reiseunfähigkeit (nicht glaubhaft gemacht), Abschiebungsverbot (nicht glaubhaft gemacht).

Aktenzeichen  M 4 E 21.2971

Datum:
12.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 25073
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a Abs. 2, § 60 Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert beträgt 1.250 Euro.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihm eine Duldung zu erteilen, hilfsweise die Ausreisefrist zu verlängern.
Der am … geborene, 59-jährige verheiratete Antragsteller ist bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger. Er ist in …, … geboren und in …, … aufgewachsen, besuchte zehn Jahre die Schule, hat nach eigenen Angaben eine Ausbildung zum Maschinentechniker begonnen, aber nicht abgeschlossen, als angelernter Arbeiter in einem Galvanisationsbetrieb in … gearbeitet, in der Jugoslawischen Volksarmee im Kosovokrieg gedient und im Bosnienkrieg gekämpft. Der Antragsteller heiratete am … 1983 eine am … 1958 geborene, bosnische Staatsangehörige. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, eine Tochter, geboren am …, und ein Sohn, geboren am …
Der Antragsteller reiste am … 1994 als Bürgerkriegsflüchtling in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihm wurde zunächst eine Duldung erteilt.
Am … 2005 heiratete der Antragsteller seine jetzige Ehefrau, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist.
Am 18. April 2005 erteilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Niederlassungserlaubnis.
Seit dem … 2015 ist der Antragsteller erwerbsunfähig, bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 550 EUR und Sozialhilfe in Höhe von 380 EUR im Monat.
Mit Urteil vom 27. Mai 2019, rechtskräftig seit dem 4. Juni 2019, sprach das Amtsgericht München den Antragsteller wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch von Kindern in zwei tatmehrheitlichen Fällen schuldig und verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (855 Ls 453 Js 225936/17). Der Verurteilung lag zu Grunde, dass es im Zeitraum vom 27. April 2016 bis zum 26. Oktober 2017 zu mehreren sexuellen Übergriffen des Antragstellers zu Lasten seiner am … 2010 geborenen Enkelin, der Geschädigten, die zu den Tatzeitpunkten sechs bzw. sieben Jahre alt war, kam.
Mit Bescheid vom 15. April 2020 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller nach erfolgter Anhörung aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1), ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete es unter der Bedingung, dass Straffreiheit nachgewiesen wird, auf die Dauer von fünf Jahren ab der Ausreise, bei Nichteintritt der Bedingung auf sieben Jahre (Nr. 2). Der Antragsteller wurde verpflichtet, das Bundesgebiet bis zum 20. Mai 2020 zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach … oder in einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht (Nr. 3). Die sofortige Vollziehung der Nummern 1 und 2 wurde angeordnet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
Hiergegen erhob der Kläger Klage (M 4 K 20.2211) und stellte Eilantrag (M 4 S 20.2591).
Mit Schriftsatz vom 2. Februar 2021 legte die Bevollmächtigte des Antragstellers im Klageverfahren M 4 K 20.2211 ein von der Klageseite in Auftrag gegebenes forensisch-psychiatrischen Gutachtens des Facharztes für Neurologie, für Psychiatrie, Psychotherapie und forensische Psychiatrie Dr. Sch vom … 2021 vor. Danach beinhalte der Gutachtensauftrag die Prüfung der Frage, ob die Abschiebung des Probanden nach Bosnien eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben aus gesundheitlichen Gründen mit sich bringe. „Ersatzweise“ solle auch zur Reisefähigkeit Stellung genommen werden. Das Gutachten stütze sich auf die Kenntnis der Aktenlage und zwei Untersuchungstermine am … 2020 sowie am … 2020. Zusammenfassend führt der Gutachter aus, dass beim Antragsteller eine gesicherte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliege. Werde der Antragsteller gegen seinen Willen in sein Heimatland zurückgeführt, bestehe die Gefahr einer schweren Retraumatisierung in Verbindung mit einer Vertiefung der depressiven und Angstsymptomatik mit dann auch nicht nur theoretisch vorstellbaren suizidalen Reaktionen. Der Antragsteller sei zudem an seinen muttersprachlichen Therapeuten Dr. M. gebunden, der den Antragsteller seit Jahren psychotherapeutisch und psychopharmakologisch (Paroxetin 30 mg morgens und Doxepin 50 mg abends) therapiere und ein psychopathologisches Zustandsbild erreicht habe, welches zwar eine gewisse „Vita reducta“, aber auch ein Leben außerhalb einer Psychiatrie möglich mache. Bereits der Weg allein in sein Herkunftsland sei für den Antragsteller unvorstellbar. Dies habe er stets nur in Begleitung vorgenommen. Insoweit bestehe auch Reiseunfähigkeit, nachdem sich bereits der Gesundheitszustand durch die Abschiebung weiter verschlimmern werde, wie bereits die Abschiebungsandrohung gezeigt habe. Beim Antragsteller müsse von einer lebensbedrohlichen schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ausgegangen werden. Die Abschiebung führe zu einer wesentlichen Gesundheits- oder Selbstgefährdung. Beim Antragsteller sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass sich seine PTBS verschlechtern werde, wenn er in das Herkunftsland zurückgeschickt werde, in dem er nachhaltig traumatisiert wurde und von dem er sich auch fluchtartig abgesetzt habe. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten verwiesen.
Die Antragsgegnerin verkürzte in der mündlichen Verhandlung am 9. Februar 2021 die untere Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 2 des Bescheids vom 15. April 2020 von fünf auf drei Jahre.
Mit Urteil vom 9. Februar 2021 wies das Bayerische Verwaltungsgericht München die Klage des Antragstellers ab (M 4 K 20.2211) und lehnte mit Beschluss vom selben Tag den Eilantrag des Antragstellers ab (M 4 S 20.2591). Auf die Begründung wird jeweils Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
Mit Schreiben vom 14. April 2021 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller auf, bis spätestens 27. April 2021 einen Nachweis für eine Ausreise bis spätestens am 6. Mai 2021 vorzulegen.
Mit Beschluss vom 23. April 2021 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung ab (10 ZB 21.761) und stellte mit Beschluss vom 3. Mai 2021 das Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München (M 4 S 20.2591) nach Antragsrücknahme ein. Auf die Begründung der Beschlüsse wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
Mit Schreiben vom 3. Mai 2021 beantragte die Bevollmächtigte des Antragstellers, diesem eine Duldung zu erteilen und übersandte ein Attest von Dr. M. vom … 2021, ausweislich dessen der Antragsteller aufgrund seines psychischen Zustandes und der bestehenden Suizidgefahr nicht flug- und reisefähig ist.
In dem Attest von Dr. M., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom … 2021 wird eine „rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F 33.2 G)“, eine „posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1)“ und eine „Somatisierungsstörung (F 45.0 G)“ diagnostiziert. Dr. M. behandele den Antragsteller seit 2011. Die Medikation des Antragstellers sei Paroxetin 30 mg morgens sowie Doxepin 50 mg abends. Die Anamnese werde als bekannt vorausgesetzt. Es wird ausdrücklich Bezug auf den Entlassbericht der Rehaklinik … und das Gutachten von Dr. Sch genommen, das im vollen Umfang mitgetragen werde. Es seien „mehrere stationäre Behandlungen bzw. ambulante und stationäre Kriseninterventionsinterventionen“ erfolgt. Inzwischen sei „der Patient einigermaßen stabil geworden, sodass er psychotherapeutisch behandelt“ habe werden können. „Da die Depression sowie die Traumafolge-Störungen chronische Züge eingenommen hatte, erfolgte eine Erwerbsunfähigkeitsrente“. Seit Jahren absolviere er bei ihm eine ambulante und muttersprachliche Traumatherapie. „Dank der medikamentösen Behandlung, familiärer Unterstützung und ambulanter Psychotherapie“ habe „eine gewisse Remission erzielt werden“ können. Es sei „ursprünglich geplant“ gewesen, „die begonnene ambulante Therapie langsam auszuschleichen“. Inzwischen seien „zusätzliche Belastung dazu“ gekommen, „was jedoch zu extremen Entgleisungen geführt“ habe. „Daraus folgend“ hätten „sämtliche Kriseninterventionen stattgefunden“ und die Medikation hätte angepasst werden müssen. „Seitdem die anderen psychosozialen Belastungen und die androhende Abschiebung im Raum“ stünden, hätte „sowohl die depressive Symptomatik als auch die traumaassoziierten Symptome zugenommen“. „Alleine die androhender Abschiebung“ stelle für den Patienten „eine Retraumatisierung“ dar. Es liege „ein sehr komplexes und chronisches Krankheitsbild vor, die Prognose sei als ungünstig zu beurteilen“. „Trotz medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung sei er weiterhin sehr instabil und nicht belastbar“. „Ohne familiäre Unterstützung und der oben genannten therapeutischen Maßnahmen wäre mit größter Wahrscheinlichkeit mit katastrophalen Folgen zu rechnen gewesen“. Der Antragsteller habe „immer wieder suizidale Gedanken und Impulse“. „Ein Anhalt für akute Selbst- und Fremdgefährdung“ ergebe sich „zum Zeitpunkt der Antragstellung“ nicht, der „Patient berichtet jedoch über passive Todeswünsche“. Es habe „nie Anziehen einer Simulation oder Aggravation“ gegeben. „Aus klinischer Sicht“ seien „nicht nur Patienten, die an einem Störungsbild infolge einer Traumatisierung in der Heimat leiden, sondern auch Patienten mit schweren Depressionen besonders gefährdet“. Der Patient erlebe „den unsicheren Aufenthalt bzw. mögliche Abschiebung als eine massive Drohung“, alleine dies sei „für ihn eine Re-Traumatisierung“. Eine Selbstgefährdung sei im Fall einer Rückführung nicht auszuschließen, „da die Steuerungsfähigkeit“ bei einer Aktivierung der Traumata aufgehoben sei. „Bereits durch die Androhung einer gewaltsamen Abschiebung“ würden „die beschriebenen Mechanismen getriggert“. Zusammenfassend sei der Patient „seit der androhenden Abschiebung extrem instabil, depressiv, verzweifelt und lebensmüde“. Es sei „anzunehmen, dass die Belastung/Trennung von Ehefrau/Kinder/Therapeut die verminderte Belastbarkeit“ des Patienten übersteige „und das Risiko von gegebenenfalls suizidalen Impulshandlungen oder erheblichen Verschlimmerungen der Erkrankung bereits vor der Abschiebung oder im Rahmen des Abschiebevorgangs selbst“ auslöse. „Die verstärkten Wiedererinnerungsreaktionen“ könnten „nicht nur eine akute und länger andauernde Verstärkung der Symptomatik mit drohender Dekompensation, sondern auch eine zumeist dauerhafte Verschlimmerung und Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses auslösen“. Dies verschlechtere, „unabhängig von der vorhandenen medizinischen Infrastruktur im Herkunftsland“, „die Prognose insgesamt lebensbedrohlich“. „Die Erfolgsaussichten der Behandlung, egal unter welchen Umständen,“ würden sich „durch zwangsweise Abschiebe- und Umverteilungsmaßnahmen deutlich verringern“. „Bei einer Abschiebung“ sei „sehr ernsthaft mit einer Selbstgefährdung zu rechnen“.
Mit Schreiben vom 1. Juni 2021 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Duldung ab. Ein Duldungsgrund sei nicht erkennbar. Es wurde darauf hingewiesen, dass Vollzugsmaßnahmen gegen den Antragsteller eingeleitet würden, falls er nicht bis zum 4. Juni 2021 freiwillig seiner Ausreisepflicht nachkomme. Die Abschiebung des Antragstellers werde mit einer ärztlichen Begleitung und einer Sicherheitsbegleitung sowie einer Inempfangnahme in … organsiert werden.
Mit E-Mail an die Antragsgegnerin vom 2. Juni 2021 beantragte die Antragstellerbevollmächtigte, den Duldungsantrag im Hinblick auf die vorgelegten Atteste erneut zu prüfen und den Antragsteller hierfür dem Gesundheitsamt vorzustellen sowie die Ausreisefrist des Antragstellers „bis zum Ergebnis des Gesundheitsamtes“ zu verlängern. Die mit Schreiben vom 1. Juni 2021 gesetzte Ausreisefrist bis zum 4. Juni 2021 sei unverhältnismäßig kurz. Die Antragsgegnerin antwortete mit Telefax vom 2. Juni 2021 und erklärte, dass keine Duldung ausgestellt werde und die bereits vorgelegten Gutachten/Atteste keine amtsärztliche Untersuchung notwendig machten. Eine Verlängerung der Ausreisefrist komme nicht in Betracht.
Mit Schriftsatz vom 4. Juni 2021, eingegangen bei Bayerischen Verwaltungsgericht am selben Tag, beantragte die Bevollmächtigte für den Antragsteller die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, eine Duldung zu erteilen, hilfsweise die Ausreisefrist weiter zu verlängern.
Zur Begründung führte die Bevollmächtigte aus, dass im Gutachten von Dr. Sch vom … 2021 sowie im ärztlichen Attest von Dr. M. vom … 2021 festgestellt worden sei, dass der Antragsteller reiseunfähig sei. Der Antragsteller sei am … 2021 gegen COVID 19 erstgeimpft worden. Die nächste Dosis müsse nach den Empfehlungen der StiKo nach sechs Wochen erfolgen. Der Antragsteller habe einen Anspruch auf eine Duldung, da unwiderlegt durch fachärztliche Bescheinigungen eine Reisunfähigkeit bestehe. Eine Abschiebung wäre rechtswidrig, da die vorgelegten Gutachten/Atteste nicht bestätigten, dass eine Abschiebung des Antragstellers unter ärztlicher Begleitung möglich sei. Es sei weiter nicht gesichert, dass der Antragsteller nach einer Abschiebung die zweite Impfung gegen COVID 19 erhalte.
Die Antragsgegnerin stellte am 7. Juni 2021 einen Schubauftrag beim Landesamt für Asyl und Rückführungen (LfAR) für eine ärztlich begleitete Abschiebung unter ärztlicher Inempfangnahme des Antragstellers in Bosnien-Herzegowina.
Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2021 legte die Antragsgegnerin die elektronische Behördenakte vor und beantragte,
den Eilantrag kostenpflichtig abzulehnen.
Es bestehe ein Anordnungsgrund, jedoch kein Anordnungsanspruch.
Vom 7. Juni 2021 bis zum 8. Juli 2021 begab sich der Antragsteller in stationäre psychiatrische Behandlung in das …
Mit Schriftsatz vom 13. Juli 2021 legte die Bevollmächtigte des Antragstellers einen Bericht des … über den stationären Aufenthalt des Antragstellers vom 7. Juni 2021 bis zum 8. Juli 2021 vor. Mit Schriftsatz vom 23. Juli 2021 legte die Bevollmächtigte des Antragstellers den Bericht des … vom … 2021 über den stationären Aufenthalt des Antragstellers vom … 2021 bis zum … 2021 vor, der hinsichtlich der Ausführungen zur Reisefähigkeit ergänzt worden war.
Ausweislich des vorgelegten, ergänzten Berichts des … vom … 2021 leidet der Antragsteller unter einer depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (ICD 10: F33.2) sowie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F 43.1). Anlass der Aufnahme seien konkrete Suizidpläne des Antragstellers am Morgen der Aufnahme gewesen. Der Patient habe von seinem Plan berichtet, am Morgen „Tabletten einzunehmen und sich von einer Autobahnbrücke zu werfen“. Er gebe an, „im Fall einer Ausweisung aus dem Land Suizid zu begehen“. Seit 13 Jahren sei er in Behandlung bei Dr. M. wegen Depressionen und PTBS. Die Fremdanamnese sei durch Dr. M. erfolgt, der den Patienten für „extrem selbstgefährdend, aktuell nicht lebensfähig“ und für den Fall der Abschiebung für reiseunfähig halte. Der psychopathologische Befund bei Aufnahme habe Gedankenkreisen, Grübeln, deutlich gedrückten Affekt, psychomotorische Unruhe, konkrete Suizidgedanken, wenn Abschiebung aus Deutschland, eindeutige Absprache- und Bündnisfähigkeit, keine akute Suizidalität gezeigt. Es erfolgte im Verlauf der Behandlung eine Umstellung der Medikation auf Paroxetin 40 mg, Quetiapin 3 × 25 mg, Quetiapin ret. 100 mg, Thyronajod 75 µg und Tamsolosin 0,4 mg. Im psychotherapeutischen Einzelgesprächen seien die Zukunftsängste des Patienten thematisiert und nach und nach eine zukunftsgewandte Sichtweise erarbeitet worden. Besonders gut habe dem Patienten der regelmäßige Kontakt mit seiner Familie getan. Durch das milieutherapeutische Setting und Augenmerk auf die Ressourcenförderung sei eine deutliche Besserung erfolgt, sodass letztlich eine Rückführung in das häusliche Umfeld am … 2021 ermöglicht werden habe können. Den sehr ausführlichen Ausführungen von Dr. Sch vom … 2021 mit der Quintessenz, dass eine Rückführung nach Bosnien auf keinen Fall für den Patienten als zuträglich angesehen werden könne, schlösse sich das Klinikum nach fachlich objektiver Beurteilung gänzlich an. In Bezug auf die Reisefähigkeit sähe die Klinik aktuell aufgrund der Schwere der Erkrankung durchaus die Möglichkeit einer rasch eintretenden erneuten Verschlechterung des Krankheitsbildes mit Auftreten erneuter Suizidgedanken. Eine weitere engmaschige ambulant psychiatrische Anbindung bei Dr. M. sowie eine ambulante psychotherapeutische Weiterbehandlung werde empfohlen. Bei Entlassung bestehe keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung.
Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg, weil er unbegründet ist.
I. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung im Wege der einstweiligen Anordnung.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden, drohende Gewalt zu verhindern oder wenn andere Gründe vorliegen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht hat, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Wegen der Vorwegnahme der Hauptsache im Falle einer stattgebenden Entscheidung (1.) ist für eine einstweilige Anordnung zu fordern, dass das weitere Abwarten für den Antragsteller mit unzumutbaren Nachteilen verbunden ist und dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache besteht (2.) (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1999 – 2 VR 1.99 – BVerwGE 109, 258/262; U.v. 18.4.2013 – 10 C 9.12 – BVerwGE 146, 189/197; B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3.13 – NVwZ-RR 2014, 558 Rn. 5 u. 7).
1. Das Begehren des Antragstellers, ihm eine Duldung zu erteilen, stellt eine Vorwegnahme der Hauptsache dar.
Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt vor, wenn dem Antragsteller bereits im Verfahren nach § 123 VwGO zur begehrten Rechtsposition verholfen wird, er also so gestellt wird, als ob er in der Hauptsache obsiegt hätte (NK-VwGO Puttler, VwGO § 123 Rn. 102). Vorliegend würde der Antragsteller durch Erteilung der Duldung im Wege des Antrags nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sein im – noch nicht erhobenen – Hauptsacheverfahren begehrtes Rechtschutzziel erreichen. Er würde so gestellt werden, als ob er in der Hauptsache hinsichtlich einer Duldungserteilung bereits obsiegt hätte.
2. Der erforderliche hohe Grad an Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen in der Hauptsache besteht vorliegend nicht. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er ist vollziehbar zur Ausreise verpflichtet (2.1.) und es liegen weder Abschiebungshindernisse (2.2.) noch Abschiebungsverbote (2.3.) vor.
2.1. Der Antragsteller ist nach bestandskräftiger Ausweisung vollziehbar zur Ausreise verpflichtet, §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Die Niederlassungserlaubnis des Antragstellers ist durch die bestandskräftige Ausweisung erloschen, § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG.
2.2. Es liegt kein Abschiebungshindernis vor, das den Vollzug einer Abschiebung hindert. Insbesondere ist die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit (§ 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG) des Antragstellers durch die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht widerlegt.
Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht (BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 17, m.w.N.). In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote.
Eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in zwei Fällen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen der Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 17, m.w.N.).
Nach dem durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (Gesetz vom 11.3.2016‚ BGBl. I, S. 390) zum 17. März 2016 eingeführten § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet‚ dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. In Konkretisierung seiner ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten (§ 82 AufenthG) muss der Ausländer eine Erkrankung‚ die die Abschiebung beeinträchtigen kann‚ durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Der Ausländer ist verpflichtet‚ der zuständigen Behörde die ärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c AufenthG unverzüglich vorzulegen, § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG (BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 18).
Die vom Antragsteller vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen vom … 2021‚ … 2021 sowie … 2021 genügen – unabhängig davon, ob sie rechtzeitig vorgelegt wurden – den Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinn des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG sowohl in Bezug auf die behauptete Reiseunfähigkeit (im engeren Sinne) als auch in Bezug auf die Suizidgefahr im Falle einer Abschiebung nicht.
2.2.1. Das Gutachten vom … 2021 widerlegt die gesetzliche Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nicht, da das Gutachten von unzutreffenden Tatsachen ausgeht und die Verständigung zwischen Antragsteller und Gutachter nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 9. Februar 2021 nicht gut war. Nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG soll eine qualifizierte, ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Der von der Klagepartei beauftragte Gutachter Dr. Sch erstellte sein Gutachten auf einer falschen Tatsachengrundlage. Abgesehen davon, dass es wegen der Sprachbarriere Verständigungsprobleme zwischen dem Antragsteller und dem Gutachter gab, enthielt der Antragsteller dem Gutachter relevante Informationen vor. Die Einschätzung des Gutachters Dr. Sch, dass im Fall einer Rückführung für den Antragsteller die „Gefahr einer schweren Retraumatisierung in Verbindung mit einer Vertiefung der depressiven und Angstsymptomatik“ (vgl. Gutachten vom …2021, S. 63) bestehe, ist damit nicht valide auf Grundlage aller relevanten Tatsachen getroffen. Der Antragsteller gab gegenüber dem Gutachter an, dass er seit dem Begräbnis seiner Mutter vor zwei Jahren – dies müsste vom Zeitpunkt der Untersuchungstermine am … bzw. … 2020 aus gerechnet Ende 2018 gewesen sein – nicht mehr in … gewesen sei (vgl. Gutachten vom …2021, S. 8, 20). Dies ist nicht zutreffend. Schon ausweislich der Stempel in seinem Reisepass hielt sich der Antragsteller in den Jahren 2017, 2018 und 2019 mehrfach in … auf. Gegen eine schwere Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr spricht außerdem, dass der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung beim Amtsgericht München am 27. Mai 2019 angegeben hat, seinen Lebensabend in … verbringen zu wollen. Im Allgemeinen spricht gegen das Gutachten vom … 2021 als belastbare Grundlage für die Frage eines Abschiebungshindernisses auch die Angabe des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung vom 9. Februar 2021 im Verfahren M 4 K 20.2211, dass die Verständigung mit dem Gutachter nicht gut gewesen sei und sie sich wirklich nur sehr schlecht hätten verstehen können.
Abgesehen davon genügt die diagnostizierte „Vertiefung“ der depressiven Angstsymptomatik nicht. Eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist damit nicht diagnostiziert.
2.2.2. Das ärztliche Attest von Dr. M. vom … 2021 widerlegt die gesetzliche Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nicht, da bereits der Zeitpunkt der Begutachtung, der Behandlungsverlauf und die Schlussfolgerung der Reisefähigkeit unzureichend dargestellt sind.
Unklar bleibt, auf welchen Zeitpunkt sich das ärztliche Attest bezieht. Da Dr. M. der behandelnde Psychiater des Antragstellers ist und die von Dr. M. mehrfach erwähnte Abschiebungsandrohung Teil des am 15. April 2020 ergangenen Bescheids ist, ist die zeitliche Einordnung unklar und wegen der bereits seit 2011 stattfindenden Behandlung bei Dr. M. nicht eindeutig auf das Datum des ärztlichen Attestes (… 2021) einzugrenzen. Welcher Zeitpunkt mit der Überschrift des ärztlichen Attestes „Psychischer Befund zum Zeitpunkt der Antragstellung“ gemeint ist, bleibt unklar.
Ebenso ist der Behandlungsverlauf wirr, ohne zeitliche Einordnungen und widersprüchlich. So gab Dr. M. an, dass mehrere stationäre Behandlungen bzw. ambulante und stationäre Kriseninterventionen erfolgt seien (S. 1 des Attests). Vorgelegt wurde eine Bestätigung einer psychosomatischen Behandlung/Traumatherapie in der Klinik … vom … 2013 bis zum … 2014 (vgl. auch Bericht des … vom … 2021, S. 3). Weitere stationäre Aufnahmen, vor allem auf psychiatrischen Stationen, sind weder präzisiert, belegt noch ersichtlich.
Nach Angaben von Dr. M. habe es ebenfalls „mehrere Suizidversuche in der Vorgeschichte“ (Seite 3 des ärztlichen Attests) gegeben. Hierbei ist unklar, auf welche Ereignisse sich Dr. M. bezieht. Im Bericht des … vom … 2021 ist einmalig von Selbstmordgedanken (vom 4. Stock springen) bei einem Vorfall, in dem der Antragsteller sich in einem dissoziativen Zustand befand, die Rede (S. 3 des Berichts). Genauer im Gutachten vom … 2021 ausgeführt wird wohl derselbe Vorfall, als der Antragsteller „in suizidaler Absicht vom 4. Stock in Deutschland vom Balkon springen“ wollte, dann weggelaufen sei (S. 19 des Gutachtens). Wann dieser – wohl rein aus den Angaben des Antragstellers entnommene – Suizidversuch stattfand, bleibt in allen drei eingereichten Attesten/Arztberichten/Gutachten ebenso unklar, wie angebliche weitere Suizidversuche.
Unabhängig davon, dass aufgrund vorgenannter Punkte ein ausreichend qualifiziertes Attest bereits nicht vorliegt, ist auch die Reiseunfähigkeit des Antragstellers nicht schlüssig dargelegt.
Das Trauma des Antragstellers entstand nach den übereinstimmenden Angaben in allen drei vorgelegten ärztlichen Berichten aufgrund von Kriegsverletzungen, die der Antragsteller erlitten bzw. ansehen musste, insbesondere auch bei nahen Familienangehörigen. Ein Bezug zu einer erzwungenen Abschiebung/Inhaftierung/Festnahme des Antragstellers, also einer mit einer Abschiebung vergleichbaren Situation, liegt dem Trauma damit nicht zu Grunde. Im ärztlichen Attest von Dr. M. wird lediglich allgemein gehalten der Mechanismus erklärt, dass Traumatisierte nicht zwischen gefährlichen (z.B. Festnahme in der Heimat) und ungefährlichen Situationen (freundliche deutsche Polizisten bei Routinekontrollen) unterscheiden könnten, durch die ungefährlichen Situationen Erinnerungen getriggert würden und dadurch die Steuerungsfähigkeit aufgehoben sei (S. 6 des Gutachtens). In diesem Zusammenhang wären Ausführungen erforderlich, die erläutern, warum der Antragsteller bei einer eigenverantwortlichen Rückreise/mehrwöchigem Aufenthalt mit Routinekontrollen in seinem Heimatland bisher nicht „getriggert“ wurde, dies jedoch im Fall einer Abschiebung und eines darauffolgenden Aufenthalts im Herkunftsland mit hoher Wahrscheinlichkeit geschehen würde. Spezielle Trigger des Antragstellers sind nicht erwähnt. Ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den traumaauslösenden Situation und einer Abschiebesituation ist nicht erkennbar.
Das ärztliche Attest vom … 2021 setzt sich zudem überhaupt nicht damit auseinander, dass der Antragsteller sich offenbar seit Jahren wochenlang in … zu Urlaubs- und Besuchszwecken aufhielt und in der Strafverhandlung sogar angab, dass er plane, seinen Lebensabend in … zu verbringen. Eine ärztlich fundierte Auseinandersetzung mit diesem Sachverhalt ist dem ärztlichen Bericht vom … 2021 nicht zu entnehmen. Soweit davon auszugehen ist, dass der Antragsteller – wie von diesem mehrfach vorgetragen – nie alleine nach … reiste, führt dies nicht dazu, anzunehmen, dass er reiseunfähig im weiteren Sinne ist. Insbesondere ist es der – nicht berufstätigen – Ehefrau bosnischer Staatsangehörigkeit auch zumutbar, den Antragsteller über längere Zeiträume dort zu besuchen, ihn dort in Empfang zu nehmen bzw. mit ihm dorthin zu siedeln, nachdem diese ebenfalls die bosnische Staatsangehörigkeit besitzt und der gemeinsame Lebensabend nach den Angaben des Antragstellers in … geplant war. Eine derart starke Traumatisierung, dass eine Abschiebung in das Herkunftsland wegen Reiseunfähigkeit unmöglich ist, ergibt sich damit auch vor dem Hintergrund der vielen, langen Voraufenthalte und dem Plan, den Lebensabend insgesamt in … zu verbringen, ohne weitere ärztliche Erläuterungen hierzu nicht schlüssig.
2.2.3. Der (um den Satz zur Reiseunfähigkeit ergänzte) Entlassbericht des … vom … 2021 widerlegt die gesetzliche Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG ebenfalls nicht, da es nur die Möglichkeit einer rasch auftretenden Verschlechterung der Erkrankung mit Auftreten suizidaler Gedanken annimmt.
Zum einen ist dem Entlassbericht nicht zu entnehmen, ob der Antragsteller in der Klinik überhaupt Angaben über seine vielfachen und langandauernden Urlaubsaufenthalte in … gemacht hat. Dem Entlassbericht ist nicht zu entnehmen, ob die Einschätzung einer Möglichkeit einer rasch auftretenden Verschlechterung auf Grundlage dieses Sachverhalts getroffen wurde. Von daher ist eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bereits nicht anzunehmen.
Weiter ist dem Bericht keine Reiseunfähigkeit im engeren Sinne, d.h. eine Transportunfähigkeit aufgrund der psychischen Erkrankungen des Antragstellers zu entnehmen.
Soweit der Entlassbericht lediglich von der „Möglichkeit“ einer rasch auftretenden Verschlechterung spricht, ist dies für Annahme einer Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne nicht ausreichend. Eine konkret vorliegende Gefahr einer erheblichen Gesundheitsverschlechterung durch die Abschiebung ergibt sich nicht aus der bloß vorliegenden Möglichkeit der raschen Verschlechterung.
Der Antragsteller war in der Klinik absprache- und bündnisfähig und zeigte bei der Aufnahme bereits keine aktuellen Zeichen von Suizidalität. Bei Entlassung bestand keine akute Eigen- oder Fremdgefahr. Der Antragsteller ist nach dem Bericht des Klinikums in erheblich besserem Zustand entlassen worden; in psychotherapeutischen Einzelsitzungen hat eine zukunftsgewandtere Sichtweise des Antragstellers erarbeitet werden können.
Soweit die Klinik sich weiter dem Gutachten von Dr. Sch vom … 2021 anschloss, ist festzuhalten, dass die Klinik eine Rückkehr nach … für den Antragsteller als gesundheitlich nicht zuträglich ansieht. Eine mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende, gesundheitliche Verschlechterung ist dem nicht zu entnehmen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller seine bis zuletzt erfolgten Urlaubsaufenthalte in … gegenüber Dr. Sch verschwieg, ist die Schlussfolgerung ebenfalls nicht auf valider Grundlage getroffen.
2.3. Es liegt auch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG vor.
Die Abschiebung des Antragstellers ist auch nicht wegen Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG unmöglich.
Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind weder vorgetragen, noch ersichtlich.
Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Bei Erkrankungen liegt eine erhebliche konkrete Gefahr nach Maßgabe des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
Eine konkrete, erhebliche Gefahr für das Leben bzw. den Leib des Antragstellers ist bei einer Abschiebung nach … aufgrund seiner Erkrankungen nicht zu erwarten. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Eine Gefahr ist „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8). Nach § 60 Abs. 7 Sätze 4 und 5 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
Die bloße Möglichkeit des Eintritts einer Verschlechterung der Erkrankung genügt zum einem nicht dem Risikomaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verschlechterung. Zudem setzt sich der Entlassbericht nicht damit auseinander, dass der Antragsteller sich jahrelang mehrere Wochen im Jahr in … zu Urlaubszwecken und zum Verwandtenbesuch aufhielt.
Unabhängig davon gibt es für den Antragsteller nach der Erkenntnislage des Gerichts jedenfalls Behandlungsmöglichkeiten in … (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zu Bosnien und Herzegowina vom 12.6.2021, S. 26 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht zur Einstufung von Bosnien und Herzegowina als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 5.4.2021, S. 18 ff.). Die staatliche psychiatrische Versorgung wird landesweit in sogenannten „Mental Health Centers“ und „Community Mental Centers“ gewährleistet. Landesweit bestehen 72 solcher Zentren. Grundsätzlich sind alle Arbeitstätigen, Rentner oder als arbeitslos gemeldete Personen, Sozialhilfeempfänger gesetzlich krankenversichert. Sie müssen einen geringen Eigenanteil zu Behandlungen leisten. Zur Behandlung psychisch Kranker und traumatisierter Personen fehlt es weitgehend an ausreichend qualifizierten Ärzten und an klinischen Psychologen und Sozialarbeitern. Therapien beschränken sich überwiegend auf Medikamentengaben. Von Rückkehrern mitgebrachte Verschreibungen von Medikamenten, auch von solchen der neuesten Generation, können fortgeführt und medizinisch begleitet werden. Die dafür notwendigen medizinischen Kenntnisse sind in der Regel vorhanden.
Der Antragsteller selbst befand sich bereits vor seiner Ausreise aus seinem Heimatland in ambulanter psychiatrischer Behandlung und hielt sich nach eigenen Angaben stationär in einer Klinik auf. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller nur von seinem muttersprachlichen Therapeuten in Deutschland behandelt werden kann. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Antragsteller in seinem Heimatland die Therapie in seiner Muttersprache fortführen und die verschriebene Medikamente besorgen können wird. Soweit Kapazitätsprobleme eine ambulante Psychotherapie zunächst hindern, ist darauf zu verweisen, dass eine gleichwertige Versorgung wie in der Bundesrepublik Deutschland nicht erforderlich ist und der Antragsteller zur Behandlung auch auf andere Landesteile als seinem Herkunftsort zur Behandlung verwiesen werden kann. Weiter geht das Gericht wegen der in Deutschland ansässigen und arbeitstätigen Kinder davon aus, dass finanzielle Mittel für den Eigenanteil der Kosten der Medikamente über Unterhaltszahlungen der Kinder an den Antragsteller zur Verfügung stehen können, sollte die Krankenversicherung die Kosten nicht (vollständig) übernehmen.
2.3.3. Dass die Antragsgegnerin entgegen der behördlichen Beteiligungserfordernisse des § 72 Abs. 2 AufenthG keine Stellungnahme beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Prüfung von Abschiebungsverbote einholte, ist vorliegend unerheblich. Ein Anspruch auf Duldung kann daraus nicht entstehen, da das Gericht die Überprüfung auf die Grundlage verfügbarer, aktueller Erkenntnismittel stützen konnte.
Eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung, die sich durch die Abschiebung nach … wesentlich verschlechtert, ist nicht erkennbar.
II. Dem Antragsteller steht kein Anspruch auf Verlängerung der Ausreisefrist zu.
Eine Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und dreißig Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die dem Antragsteller gewährte, ausreichende Ausreisefrist ist bereits abgelaufen.
Die Ausreisefrist kann nach § 59 Abs. 1 Satz 4 unter Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalles angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. Ermessensfehler der Antragsgegnerin sind vorliegend nicht ersichtlich. Besondere Umstände des Einzelfalles sind nicht vorgetragen, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass zum aktuellen Zeitpunkt der Entscheidung eine Verlängerung wegen der Erkrankung des Antragstellers notwendig ist. Die zweite Impfung gegen Sars-CoV-2 sollte der Antragsteller inzwischen erhalten haben. Weitere Gründe für eine Verlängerung sind nicht geltend gemacht worden.
III. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller, § 154 Abs. 1 VwGO.
IV. Der Streitwert wird nach § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf 1.250 Euro festgesetzt.


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