Medizinrecht

Einzelfall eines Abschiebungsverbots nach Äthiopien wegen HIV-Infektion

Aktenzeichen  W 3 K 16.31996

Datum:
8.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 150438
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, S. 5

 

Leitsatz

Für einen unter einer chronischen HIV-Erkrankung leidenden Äthiopier kann ein Abschiebungsverbot festgestellt werden, weil er zwar theoretisch die von ihm derzeit benötigten Medikamente erhalten kann, im Falle eines Auftretens von opportunistischen Infekten im Hinblick auf die Entfernung seines Wohnortes von der allein für eine adäquate ärztliche Behandlung infrage kommenden Hauptstadt aber schon fraglich ist, ob er diese erreichen wird und ob er darüber hinaus in der Lage sein wird, die entsprechenden Kosten zu tragen.  (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Ziffern 4 und 6 und die Androhung der Abschiebung nach Äthiopien in Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Oktober 2016 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je die Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
II.
Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, hat sie Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Soweit der Bescheid vom 17. Oktober 2016 dieser Feststellung entgegensteht, war er aufzuheben (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vor (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatland verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96; U.v. 27.4.1998 – 9 C 13/97 – beide: juris). Dasselbe gilt auch dann, wenn die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zwar grundsätzlich vorhanden, für den von der Krankheit betroffenen Ausländer im speziellen Fall aber aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht erreichbar sind (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02; U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – beide: juris).
Bei Gefahren in einem Land, denen die gesamte Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welche der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wird Abschiebungsschutz allerdings ausschließlich durch die generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Diese grundlegende Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben auch die Verwaltungsgerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 60 und 60a AufenthG zu respektieren (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris).
HIV/Aids ist eine in Äthiopien weitverbreitete Krankheit. Es handelt sich um eine Epidemie. Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof führt in einem Urteil vom 6. März 2007 (- 9 B 06.30708 – juris, Rn. 20) aus, dass die Zahl der HIV/Aids-Infizierten ohne Behandlungsmöglichkeit die Größenordnung einer ganzen Bevölkerungsgruppe erreiche. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für einzelne Mitglieder der Bevölkerungsgruppe sei somit nach Satz 2 der Vorschrift (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG) für einzelne Mitglieder ausgeschlossen. Eine politische Ermessensentscheidung nach § 60a AufenthG für HIVinfizierte finanzschwache Äthiopier gebe es in Bayern nicht. Wenn somit dem einzelnen Ausländer kein Abschiebungsschutz zustehe, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden dürfe, weil die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebungsschutz unabhängig von einer Ermessensentscheidung gebieten, ist § 60 Abs. 7 Satz 2 (jetzt Abs. 7 Satz 5) AufenthG verfassungskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossen ist. Eine extreme Gefahrenlage im Sinne dieser Rechtsprechung liegt dann vor, wenn der betroffene Ausländer sehenden Auges alsbald nach der Abschiebung in sein Heimatland dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgesetzt wäre (BVerwGE, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris).
Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I S. 390) nachgezeichnet. Nach dieser Bestimmung liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine Änderung der vom Bundesverwaltungsgericht bisher gestellten Anforderungen an das Vorliegen einer krankheitsbedingten erheblichen Gefahr ist mit dieser Neuregelung erkennbar nicht verbunden (OVG Lüneburg, B.v. 19.8.2016 – 8 ME 87/16 – juris Rn. 4).
Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers zumindest aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris Rn. 15).
Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogene Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Nicht erforderlich ist nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG aber, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG aber auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
Als Prognosemaßstab für den Eintritt der drohenden Gefahren gilt grundsätzlich der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (OVG Lüneburg, B.v. 19.8.2016 – 8 ME 87/16 – juris Rn. 7).
Hieran gemessen liegt eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben des Klägers bei einer Rückkehr nach Äthiopien vor. Nach dem vorgelegten Attest leidet der Kläger unter einer chronischen HIV-Erkrankung. Trotz des guten Ansprechens der antiretroviralen Medikation müsse ggf. wegen vorliegender Beschwerden eine Therapieumstellung unter engmaschigen klinischen und laborchemischen Kontrollen erfolgen. Derzeit liege eine opportunistische Infektion nicht vor. Unbehandelt bzw. im Falle eines Behandlungsabbruches sei eine rasche Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit dem Auftreten lebensbedrohlicher Aidsdefinierender Erkrankungen abzusehen und der Patient werde letztlich unter Komplikationen der Aids-Erkrankung versterben. Andererseits sei es unter einer konsequenten antiretroviralen Therapie mit regelmäßigen klinischen und laborchemischen Verlaufskontrollen möglich, eine annähernd normale Lebenserwartung zu erreichen.
Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom März 2017 (S. 21) gibt es in Äthiopien keine Sozialleistungen. Rückkehrer können nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen. Es gibt weder eine kostenlose medizinische Grundversorgung, noch beitragsabhängige Leistungen. Die medizinische Behandlung erfolgt entweder in staatlichen Gesundheitszentren bzw. Krankenhäusern oder in privaten Kliniken. Die Behandlung akuter Erkrankungen oder Verletzungen ist durch eine medizinische Basisversorgung gewährleistet. Komplizierte Behandlungen können wegen fehlender Ausstattung mit entsprechenden Geräten nicht durchgeführt werden. Chronische Krankheiten, die auch in Äthiopien weit verbreitet sind, aber auch das Immunsystem schwächen, können mit der Einschränkung behandelt werden, dass bestimmte Medikamente ggf. nicht verfügbar sind. Durch die negative Entwicklung der Devisenreserven in Äthiopien sind Einfuhren von im Ausland hergestellten Medikamenten von Devisenzuteilungen durch die Nationalbank zur Bezahlung von Handelspartnern im Ausland abhängig. Deswegen kommt es bei bestimmten Medikamenten immer wieder einmal zu Versorgungsengpässen. Generell ist die medizinische Versorgung auf dem Land wegen fehlender Infrastruktur erheblich schlechter, als in den städtischen Ballungszentren. Auch in einer Auskunft des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission e.V. (Difäm) vom 7. November 2013 an das Verwaltungsgericht Ansbach wird darauf hingewiesen, dass bestimmte Aids-Medikamente in Äthiopien grundsätzlich verfügbar seien. Einschränkend sei dazu aber zu sagen, dass die Verfügbarkeit nach Regionen durchaus unterschiedlich sei und das „volle Programm“ am ehesten wohl in der Hauptstadt Addis Abeba erhältlich sei. Ob das gewählte bzw. zuständige Behandlungszentrum die Kosten der durchgeführten erforderlichen Therapie übernehmen werde, stehe allerdings in dessen Ermessen. Die Kosten für die Behandlung opportunistischer Infekte, also schwer behandelbarer und langwieriger Infekte, wie sie typischer Weise im Verlauf einer Aids-Erkrankung auftreten könnten, seien vom Betroffenen selbst zu tragen. Ein weiterer oft unterschätzter Kostenfaktor für den Betroffenen seien in einem Flächenland wie Äthiopien Transportkosten zum und vom Behandlungszentrum, sofern der Betroffene nicht zentrumsnah lebe. Für einen Repatriierten und oft Einkommenslosen könne dies bereits eine unüberwindbare Barriere bedeuten. Ebenso sei auf eine banal klingende Ursache für gestiegene Lebenshaltungskosten hinzuweisen. Als Folge einer erfolgreichen Behandlung könne der Patient gesteigerten Appetit entwickeln und damit Mehrkosten für seinen Nahrungsbedarf haben. Die Erforderlichkeit einer antiretroviralen Therapie richte sich wie in Europa nach der Höhe des CD4 Count. In wieweit die Vorgaben des Gesundheitsministeriums bezüglich der Behandlung von Aids eingehalten würden, sei kaum zu überprüfen.
Der Kläger stammt nach eigenen Angaben aus der Stadt Mizan Teferi; dort lebt auch noch seine Mutter. Der Kläger wird mangels anderer Verwandter wahrscheinlich nach Mizan Teferi zurückkehren müssen. Dieser Ort ist von Addis Abeba nach Angaben des Klägers 560 km entfernt. Die Familie wird nicht in der Lage sein, den Kläger finanziell zu unterstützen. Seinen Vater kennt der Kläger nicht. Sonstige Verwandte hat der Kläger nicht. Die Mutter hat zwar früher als Ärztin gearbeitet, ist aber wegen einer Diabeteserkrankung beinamputiert und kann nicht mehr arbeiten. Konkret bedeutet dies für den Kläger, dass zwar die von ihm derzeit benötigten Medikamente theoretisch in Äthiopien erhältlich sein könnten. Im Falle des Auftretens von opportunistischen Infekten ist bereits fraglich, ob er überhaupt eine adäquate ärztliche Behandlung erreichen wird. Jedenfalls müsste er die Kosten hierfür selbst tragen. Dazu wäre der Kläger nicht in der Lage. Somit würde eine Abschiebung des Klägers die erhebliche Gefahr des Auftretens opportunistischer Infektionen sowie einer Verkürzung seiner Lebenszeit bedeuten. Aus diesem Grund liegt bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
III.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 und 2 VwGO. Das Gericht ist in ständiger Rechtsprechung der Auffassung, dass es die in § 30 Satz 1 RVG a.F. angelegte Wertung rechtfertigt, die Kosten eines auf die Flüchtlingsanerkennung sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten gerichteten Klageverfahren zu halbieren, wenn der Kläger hinsichtlich seines auf die Flüchtlingsanerkennung gerichteten Begehrens unterliegt bzw. diesen Antrag zurücknimmt und mit dem auf Feststellung von Abschiebungsverboten gerichteten Begehren obsiegt (vgl. OVG Sachsen, B.v. 17.4.2012 – A 5 A 143/12 – juris). Hiernach ergibt sich die getroffene Kostenquotelung. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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