Medizinrecht

Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz bei fehlender Mitwirkung des Beschwerdegegners

Aktenzeichen  L 20 KR 203/21 B ER

Datum:
30.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ASR – 2021, 166
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 37
SGG § 193, § 86b Abs. 2

 

Leitsatz

1. Legt in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Beschwerdegegner (Krankenkasse) seine Verwaltungsakte nicht vor, hat das Gericht auch in Anbetracht des Amtsermittlungsgrundsatzes bei nicht (zeitgerecht) zur Verfügung stehenden weiteren Aufklärungsmöglichkeiten seine Entscheidung allein auf den Inhalt der Gerichtsakten zu stützen und dabei die allgemeinen Beweisgrundsätze zu berücksichtigen.
2. Nach zweimaliger Aufforderung zur Aktenvorlage und ergebnislosem Verstreichen der gesetzten Fristen sind ein weiteres Zuwarten des Gerichts und weitere Erinnerungen weder geboten noch vertretbar. Anderenfalls würde einem Beschwerdegegner ein Anreiz gegeben, möglichst lange mit der Vorlage der Akten zu warten, um damit eine Verbesserung seiner Rechtsposition zu erreichen.
3. Eine Sachleistung kann im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nur für den Zeitraum nach der gerichtlichen Entscheidung zugesprochen werden.
4. Mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung des Gerichts steht es nicht in Widerspruch, wenn für das Beschwerdeverfahren eine andere Kostenaufteilung als für das Antragsverfahren vor dem SG vorgegeben wird.

Verfahrensgang

S 6 KR 223/21 ER 2021-04-28 Bes SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 28.04.2021 wird hinsichtlich der Stundenzahl der zur Verfügung zu stellenden häuslichen Krankenpflege dahingehend abgeändert, dass die Antragsgegnerin verpflichtet wird, ab dem 01.07.2021 häusliche Krankenpflege vorläufig im Wege der Sachleistung nicht nur im Umfang von 130 Stunden monatlich, sondern im Umfang von 400 Stunden monatlich zur Verfügung zu stellen.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
III. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten; für die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.

Gründe

I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten ist, dem Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) Leistungen der häuslichen Krankenpflege im Umfang von 400 Stunden monatlich als Sachleistung zu erbringen.
Der Antragsteller ist 2003 geboren. Er leidet bei Zustand nach einer im Alter von sechs Wochen stattgehabten Sinusvenenthrombose an einer schweren globalen Entwicklungsstörung mit Tetraparese, Ausbleiben der sprachlichen Entwicklung, kompletter Harn- und Stuhlinkontinenz sowie Geh-, Steh- und Drehunfähigkeit und einer symptomatischen Epilepsie. Bei ihm bestanden rezidivierend schwere Pneumonien mit Beatmungspflichtigkeit, zuletzt im Oktober/November 2020.
Mit Bescheid vom 21.10.2020 wurde dem Antragsteller für die Zeit vom 01.10.2020 bis 31.12.2020 häusliche Krankenpflege in Form der Symptomkontrolle bei Palliativpatienten im Umfang von 130 Stunden pro Monat bewilligt.
Anschließend wurde ihm für die Zeit vom 01.01.2021 bis 31.03.2021 häusliche Krankenpflege im Umfang von 400 Stunden pro Monat verordnet. Dazu bewilligte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 03.02.2021 für Januar 2021 400 Stunden und vom 01. bis 07.02.2021 100 Stunden Symptomkontrolle bei Palliativpatienten; eine Übernahme der häuslichen Krankenpflege ab dem 08.02.2021 lehnte sie ab. Begründet wurde dies mit einer (nicht in den Gerichtsakten befindlichen) Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), der der Ansicht war, dass die Kriterien der außerklinischen Intensivpflegebedürftigkeit gemäß Nr. 24 der HKP-Richtlinie nicht erfüllt seien, wobei eine nähere Begründung für die Ansicht des MDK im Bescheid nicht enthalten ist. Hiergegen wurde Widerspruch eingelegt.
Am 10.03.2021 wurde dem Antragsteller für die Zeit vom 01.04.2021 bis zum 31.12.2021 häusliche Krankenpflege erneut im Umfang von 400 Stunden monatlich verordnet. Gegenüber dem MDK erläuterte die Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Palliativmedizin S die Verordnung in ihrer Stellungnahme vom 25.01.2021 u.a. damit, dass es aktuell jede Nacht zu Unruhezuständen komme, die einer sofortigen Intervention bedürften, um eine respiratorische Verschlechterung zu vermeiden. Der Zustand des Antragstellers sei nicht berechenbar, verändere sich rasch und unvorhergesehen, sodass jederzeit eine gute Krankenbeobachtung und die pflegerische Expertise nötig sei, um rasch eingreifen zu können und die passenden Maßnahmen einschließlich Medikamentengabe durchzuführen. Mit Bescheid vom 11.03.2021 lehnte die Antragsgegnerin die verordnete Versorgung ab, wobei die Begründung aus dem Bescheid vom 03.02.2021 wiederholt wurde. Dagegen wurde Widerspruch eingelegt.
Am 08.04.2021 hat der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten beim Sozialgericht (SG) Würzburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Diese haben zur Begründung vorgetragen, dass eine spezielle Krankenbeobachtung im Umfang von 400 Stunden monatlich medizinisch notwendig sei. Seit dem Krankenhausaufenthalt im Oktober 2020 sei der Gesundheitszustand des Antragstellers instabiler. Während des Krankenhausaufenthaltes sei eine intensive Beatmung erforderlich gewesen. Es komme in der Nacht zu Unruhezuständen, die einer sofortigen Intervention bedürften, um eine respiratorische Verschlechterung zu vermeiden. Sein Zustand sei nicht berechenbar, verändere sich rasch und unvorhergesehen, sodass jederzeit eine gute Krankenbeobachtung und die pflegerische Expertise, um rasch eingreifen zu können und die passenden Maßnahmen durchzuführen, nötig seien. Es seien 400 Stunden monatlich erforderlich. Die Mutter des Antragstellers übernehme grundsätzlich die Pflege. Die häusliche Krankenpflege in dem verordneten Umfang von 400 Stunden monatlich ermögliche ihr, die Nächte durchzuschlafen und in der Zeit zwischen 20:00 Uhr abends und 8:00 Uhr morgens die Intensivpflege des Antragstellers vom Pflegedienst durchführen zu lassen. Auch der Pflegedienst habe die Notwendigkeit einer kontinuierlichen, engmaschigen Überwachung des Antragstellers aus pflegefachlicher Sicht bestätigt, wie sich aus der beigelegten Stellungnahme des Pflegedienstes vom 06.04.2021 ergebe. Der Pflegedienst hatte darin die erforderliche Überwachung u.a. mit der Erforderlichkeit von Sauerstoffzufuhr in der Nacht, der Unfähigkeit des Antragstellers, Sekret selbstständig abzuhusten, rezidivierenden epileptischen Anfällen und Erbrechen mit Aspiration und daraus resultierenden Aspirationspneumonien begründet. Den Eltern des Antragstellers sei es nicht zumutbar, rund um die Uhr die erforderliche Pflege selbst durchzuführen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei geboten, weil die Eltern des Antragstellers nicht in der Lage seien, die Kosten in Höhe von monatlich 14.000,- € selbst zu tragen.
Die Antragsgegnerin hat mit Schreiben vom 16.04.2021 ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage des MDK vom 14.04.2021 vorgelegt. Der MDK war darin zu der Einschätzung gekommen, dass nach den vorliegenden Unterlagen zeitlich nicht vorhersehbare (potenziell) lebensbedrohliche Komplikationen, die täglich und unvorhersehbar eintreten könnten und einen ärztlichen und pflegerischen Interventionsbedarf aus vitaler Indikation täglich begründen würden, nicht nachvollziehbar seien. Die Kriterien einer speziellen Krankenbeobachtung im Sinn einer außerklinischen Intensivpflege seien weiterhin nicht erfüllt. Es bestehe jedoch die Notwendigkeit zu einer permanenten pflegerischen Interventionsbereitschaft, jedoch nicht aus vitaler Indikation im Sinn einer außerklinischen Intensivpflegebereitschaft. Zur Entlastung der Eltern würden Einsätze eines Pflegediensts in einem adäquaten Stundenumfang empfohlen.
Mit Beschluss vom 28.04.2021 hat das SG die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zur bestandskräftigen Entscheidung über die Verordnung vom 10.03.2021 häusliche Krankenpflege im Wege der Sachleistung im Umfang von 130 Stunden monatlich, wie dies dem Antragsgegner bereits von Oktober bis Dezember 2020 bewilligt worden sei, zur Verfügung zu stellen, längstens jedoch bis 31.12.2021; im Übrigen, also soweit der Antrag auf häusliche Krankenpflege im Wege der Sachleistung im Umfang von weiteren 270 – somit insgesamt 400 – Stunden monatlich gerichtet war, hat es den Antrag abgelehnt.
Gegen diesen Beschluss haben die Bevollmächtigten des Antragstellers am 18.05.2021 Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.
Die Beschwerde haben sie wie folgt begründet:
Der Antragsteller habe glaubhaft dargelegt, dass monatlich 400 Stunden häusliche Krankenpflege notwendig seien. Zum einen sei dieser Umfang medizinisch verordnet worden. Zum anderen ermögliche die häusliche Krankenpflege im verordneten Umfang von 400 Stunden monatlich der Mutter als Pflegeperson, die Nächte durchzuschlafen und in der Zeit zwischen 20:00 Uhr abends und 8:00 Uhr morgens die häusliche Krankenpflege des Antragstellers vom Pflegedienst durchführen zu lassen. Daraus ergebe sich, dass täglich 12 Stunden häusliche Krankenpflege erforderlich seien, umgelegt auf den Monat 360 Stunden. Die weiteren beantragten 40 Stunden Krankenpflege monatlich seien dabei als Notbedarf und bei kurzfristiger Verhinderung der pflegenden Person erforderlich. Die häusliche Krankenpflege im Umfang von 400 Stunden monatlich sei erforderlich, um die pflegende Mutter in der Nacht zu entlasten und um auf kurzfristige Verhinderungen der pflegenden Mutter und auf Notfälle adäquat reagieren zu können. Der MDK habe den Antragsteller lediglich nach Aktenlage begutachtet. Die Ärztin, die den Umfang von 400 Stunden monatlich verordnet habe, behandle den Antragsteller hingegen seit August 2019 persönlich in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Sie habe nochmals bestätigt, dass die nächtlichen Unruhephasen des Antragstellers als lebensbedrohliche Situationen gesehen werden müssten, die nur durch die fachkundige Therapie durch die Mutter oder eine qualifizierte Pflegekraft so beeinflusst werden könnten, dass Klinikeinweisungen vermieden würden und die Situation im häuslichen Umfeld wieder stabilisiert werde. Als Beleg dafür ist eine ärztliche Stellungnahme der Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Palliativmedizin S vom 14.05.2021 vorgelegt worden. Die Ärztin hat darin darauf hingewiesen, dass die nächtlichen Unruhe- und Atemnotzustände des Antragstellers sich weiter unverändert darstellen würden, ebenso die dann notwendige Sauerstoff- und Medikamentenzufuhr. Im Falle einer Nicht-Intervention würde sich ein lebensbedrohlicher Zustand entwickeln. Das heiße, dass, wenn die Mutter nicht die vom Kinderpalliativteam angegebenen medikamentösen Maßnahmen durchführen und durch weitere pflegerische Maßnahmen deeskalierend wirken würde, die Entwicklung einer lebensbedrohlichen Situation bei möglicher Aspiration, Erbrechen, respiratorischer Insuffizienz und dann nötigem Klinikaufenthalt sehr wahrscheinlich sei. Die Entwicklung lebensbedrohlicher Situationen werde durch die Maßnahmen der Mutter verhindert, Klinikaufhalte vermieden und die medizinische Situation stabilisiert. Die nächtlichen Unruhephasen müssten somit als lebensbedrohliche Situationen gesehen werden, die nur durch die fachkundige Therapie durch die Mutter oder eine qualifizierte Pflegekraft so beeinflusst werden könnten, dass die Situation wieder stabilisiert werde.
Die Antragsgegnerin ist mit gerichtlichem Schreiben vom 21.05.2021 um Stellungnahme und Vorlage der Akten binnen zwei Wochen gebeten worden. Nachdem kein Eingang zu verzeichnen war, ist die Antragsgegnerin mit gerichtlichem Schreiben vom 16.06.2021 nochmals, diesmal unter Setzung einer Wochenfrist, an die Übersendung der Beschwerdeerwiderung und der Akten erinnert worden. Gleichwohl hat sich die Antragsgegnerin bis heute weder geäußert noch ihre Akten vorgelegt.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zur bestandskräftigen Entscheidung über die Verordnung vom 10.03.2021 häusliche Krankenpflege im Wege der Sachleistung im Umfang von 400 Stunden monatlich zur Verfügung zu stellen, längstens jedoch bis zum 31.12.2021.
Der Senat hat die Akte des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Beschwerdeakte und der beigezogenen Akte Bezug genommen. Eine Verwaltungsakten der Antragsgegnerin hat nicht vorgelegen.
II.
Die form- und fristgerecht erhobene (§§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) Beschwerde ist zulässig und im tenorierten Umfang auch begründet.
Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist für den vorliegenden Eilantrag, da der Antragsteller die Erweiterung seiner Rechtsposition begehrt, die Vorschrift des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG.
Hiernach kann das Gericht durch Erlass einer sogenannten Regelungsanordnung eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG liegt nicht vor (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), da keine (reine) Anfechtungsklage in der Hauptsache statthaft ist. Die Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den das Begehren gestützt wird – voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen, wobei auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Amtsermittlungsgrundsatz gilt (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, Beschluss vom 25.02.2009, 1 BvR 120/09; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b, Rdnr. 41). Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang für das Obsiegen in der Hauptsache eine erhöhte Wahrscheinlichkeit spricht. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenziell bedeutsame Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verlangt dann eine besondere Ausgestaltung, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Soweit sich das Gericht an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert, sind diese abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19.10.1977, 2 BvR 42/76, vom 25.10.1998, 2 BvR 745/88, vom 22.11.2002, 1 BvR 1586/02, und vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, vom 14.3.2019, 1 BvR 169/19, und vom 08.07.2020, 1 BvR 932/20,).
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 86b Abs. 2 SGG kommt es hinsichtlich der rechtlichen und sachlichen Voraussetzungen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 26.04.2021, L 20 KR 45/21 B ER).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz auf die begehrte häusliche Krankenpflege als Sachleistung für den Zeitraum vom 01.04.2021 bis zum Tag der Entscheidung des Senats nicht zuzusprechen (dazu unten Ziff. 1). Ab dem Folgetag liegen die Voraussetzungen für die Gewährung häuslicher Krankenpflege im begehrten Umfang im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes aber vor (dazu unten Ziff. 2).
1. Zeitraum bis zur Entscheidung des Senats
Eine häusliche Krankenpflege als Sachleistung über den erstinstanzlich gewährten Umfang hinaus kommt aus Gründen des Zeitablaufs nicht (mehr) in Betracht.
Die Erbringung einer Sachleistung, hier der häuslichen Krankenpflege, ist nicht in der Vergangenheit (in natura) möglich. Es ist unmöglich, zum jetzigen Zeitpunkt noch häusliche Krankenpflege für die Vergangenheit ab 01.04.2021 (Beginn des Verordnungszeitraums) zu erbringen; eine Sachleistung kann nur für Zeiträume nach der gerichtlichen Entscheidung erbracht werden.
Einen Kostenfreistellungs- oder Kostenerstattungsanspruch, wie er für vergangene Zeiträume – die materiell-rechtliche Grenze zwischen Sachleistungsanspruch und Kostenfreistellungs-/erstattungsanspruch bildet die gerichtliche Entscheidung (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.01.2011, L 9 KR 283/10 B ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 13.11.2014, L 1 KR 260/14 B ER; Bayer. LSG, Beschluss vom 21.05.2021, L 20 KR 61/21 B ER) – in Betracht kommen könnte, hat der Antragsteller im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht geltend gemacht.
2. Zeitraum nach der Entscheidung des Senats
Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind nach den vorliegenden Unterlagen, also den Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und ohne Verwaltungsakte, glaubhaft gemacht.
Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn dies zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog. Behandlungssicherungspflege). Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege besteht neben dem Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung. Zur Behandlungssicherungspflege gehören alle Pflegemaßnahmen, die nur durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen). Die Hilfeleistungen umfassen Maßnahmen verschiedenster Art wie z.B. Injektionen, Verbandwechsel, Katheterisierung, Einläufe, Spülungen, Einreibungen, Dekubitusversorgung, Krisenintervention, Feststellung und Beobachtung des jeweiligen Krankenstandes und der Krankheitsentwicklung, die Sicherung notwendiger Arztbesuche, die Medikamentengabe sowie die Kontrolle der Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2005, B 3 KR 38/04 R).
Ein nach Maßgabe des Gesetzesrechts in § 37 Abs. 2 SGB V bestehender Leistungsanspruch kann durch möglicherweise entgegenstehendes Richtlinienrecht nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden. Zwar handelt es sich bei den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V (hier: HKP-Richtlinie) um untergesetzliche Normen, die grundsätzlich auch innerhalb des Leistungsrechts zu beachten sind, sie verstoßen aber gegen höherrangiges Recht, soweit sie einen Ausschluss der im Einzelfall gebotenen Krankenbeobachtung aus dem Katalog der verordnungsfähigen Leistungen enthalten. Ebenso wenig wie der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) ermächtigt ist, den Begriff der Krankheit in § 27 Abs. 1 SGB V hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen zu bestimmen, ist er befugt, medizinisch notwendige Maßnahmen von der häuslichen Krankenpflege auszunehmen. Die HKP-Richtlinie bindet die Gerichte insoweit nicht (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2005, B 3 KR 38/04 R). Sie kann jedenfalls nicht zur Begründung der Ablehnung der begehrten Behandlungspflege in Form von Krankenbeobachtung unter Einengung der gesetzlichen Regelung in § 37 SGB V herangezogen werden.
Die Krankenbeobachtung dient hier auch der Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Sie ergänzt zusammen mit den konkreten Einzelmaßnahmen, die der Pflegedienst erbringt, die ambulante ärztliche Behandlung des Klägers, die sich hier neben der ärztlich verordneten Krankenbeobachtung u.a. in der Sauerstoffversorgung, der Medikamentenzufuhr und im Sekretmanagement bei Zwischenfällen niederschlägt.
Unter Zugrundelegung der von der Antragstellerseite vorgelegten medizinischen Unterlagen ist beim Antragsteller die Notwendigkeit einer ständigen Anwesenheit und Einsatzbereitschaft einer entsprechend geschulten bzw. angelernten Pflegeperson glaubhaft gemacht, um im Falle nächtlicher Unruhe- und Atemnotzustände adäquat reagieren zu können; die behandelnde Ärztin für Kinderund Jugendmedizin S hat in ihrer Stellungnahme vom 14.05.2021 die Entwicklung einer lebensbedrohlichen Situation bei möglicher Aspiration, Erbrechen und respiratorischer Insuffizienz bei Fehlen adäquaten zeitnahen Eingreifens als sehr wahrscheinlich beschrieben. Diese ständige Beobachtung des Antragstellers, um jederzeit (nach ärztlicher Vorgabe) eingreifen zu können, wenn es zu einem (potenziell) lebensbedrohlichen Zustand kommt, ist hier eine behandlungspflegerische Maßnahme (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2005, B 3 KR 38/04 R).
Dass diese Maßnahme im verordneten zeitlichen Umfang erforderlich i.S.v. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist, ist glaubhaft gemacht. Nach den vorliegenden Unterlagen ist davon auszugehen, dass beim Antragsteller eine durchgehende Beobachtung erforderlich ist; eine zeitliche Eingrenzung interventionsbedürftiger Situationen lässt der Gesundheitszustand des Antragstellers nicht zu. Mit Blick darauf, dass auch die Mutter des Antragstellers Schlafenszeiten benötigt und in geringem Umfang auch Zeiten anfallen, in denen ihr eine Überwachung des Antragstellers nicht möglich ist (vgl. § 37 Abs. 3 SGB V), ist für den Senat die Erforderlichkeit des verordneten zeitlichen Umfangs von 400 Stunden im Monat, der sich 12 Stunden pro Tag und einer weiteren Verfügungszeit für besondere Situationen errechnet, glaubhaft gemacht.
Sofern das SG unter Berücksichtigung der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und der dort enthaltenen Informationen zu der Einschätzung gekommen ist, dass ein Anordnungsanspruch hinsichtlich häuslicher Krankenpflege nur im Umfang von 130 Stunden monatlich glaubhaft gemacht sei, mag diese Einschätzung zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung und unter Berücksichtigung der damals vorliegenden Unterlagen durchaus zutreffend gewesen sein, wobei dem Senat mangels Kenntnis der Verwaltungsakte eine zuverlässige Bewertung der erstinstanzlichen Entscheidung nicht möglich ist. Wegen der fehlenden Mitwirkung der Antragsgegnerin, die weder auf das gerichtliche Schreiben vom 21.05.2021 noch auf die Erinnerung vom 16.06.2021, jeweils verbunden mit einer Fristsetzung, reagiert hat, konnten im Beschwerdeverfahren aber nicht alle Unterlagen, wie sie ins erstinstanzliche Verfahren eingebracht worden sind, Berücksichtigung finden. Der dem Senat nicht bekannte Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, soweit er sich nicht aus den Gerichtsakten selbst ergibt, kann somit nicht in die Entscheidung des Senats einfließen. Auch sind die im Beschwerdeverfahren eingebrachten neuen Unterlagen und die entsprechenden ergänzenden Hinweise der Antragstellerseite, die dem Senat schlüssig erscheinen, nicht durch Argumente der Gegenseite, z.B. eine Äußerung des MDK, in ihrer Beweiskraft erschüttert worden. Bei Berücksichtigung der allgemeinen Beweisgrundsätze muss diese fehlende Mitwirkung der Antragsgegnerin zu deren Lasten gehen, zumal weitergehende Aufklärungsmöglichkeiten für den Senat in Anbetracht der Eilbedürftigkeit des Verfahrens nicht zur Verfügung stehen (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.01.2011, L 26 AS 2321/10 B ER; Bundesfinanzhof – BFH -, Beschluss vom 19.12.2018, X B 101/18; Jacob/Wegner in: Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Aufl. 2018, a) Überblick und Allgemeines, Rdnr. 128; vgl. zudem den Rechtsgedanken des Hess. LSG, Beschluss vom 27.12.2006, L 9 AS 235/06 ER, das bei fehlender Aktenvorlage der beschwerdeführenden Behörde vom Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für die Beschwerde ausgegangen ist).
Ein weiteres Zuwarten des Gerichts und weitere an die Antragsgegnerin gerichtete Erinnerungen an die Vorlage der Verwaltungsakte sowie der Beschwerdeerwiderung sind weder geboten noch vertretbar. Anderenfalls würde einem Antragsgegner in der vorliegenden Situation ein Anreiz gegeben, möglichst lange mit der Vorlage der Akten und seiner Beschwerdeerwiderung zu warten, da er damit nur eine Verbesserung seiner Rechtsposition erreichen könnte. Denn eine Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung im Falle eines Obsiegens des (Antragstellers und) Beschwerdeführers würde zu einer Verkürzung des im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes zuzusprechenden Leistungsanspruchs führen, da eine zusprechende Entscheidung im Beschwerdeverfahren bei einem Sachleistungsanspruch wie hier erst ab der Entscheidung des Beschwerdegerichts erfolgen kann (vgl. oben). Insofern ist das Gericht zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes für den (Antragsteller und) Beschwerdeführer gehalten, das Verfahren zügig zu betreiben und keine Anreize für eine Verzögerungstaktik des (Antragsgegners und) Beschwerdegegners zu setzen. Zu berücksichtigen ist zudem, dass bei Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine endgültige Entscheidung in der Sache nicht getroffen wird und die im einstweiligen Rechtsschutz ergangene Entscheidung nicht nur einer Korrektur im Hauptsacheverfahren, sondern auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes selbst (Abänderungsentscheidung nach § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG) zugänglich ist. Insofern ist es für den im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unterliegenden Versicherungsträger mit weniger Nachteilen als in einem Hauptsacheverfahren verbunden und damit zweifellos zumutbar, im Rahmen einer Beweislastentscheidung zunächst zu unterliegen und dann auf die Korrektur durch eine gegebenenfalls anders ausfallende Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu warten.
Die Beschwerde hat daher Erfolg, was den monatlichen Umfang der häuslichen Krankenpflege als Sachleistung für den Zeitraum nach der Entscheidung des Senats angeht.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung (vgl. dazu Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ders., SGG, 13. Aufl. 2020, § 193, Rdnr. 2 – m.w.N.) steht es nicht in Widerspruch, wenn der Senat für das Beschwerdeverfahren eine andere Kostenaufteilung vorgibt als für das Antragsverfahren vor dem SG, dessen Kostenentscheidung aufrechterhalten wird. Denn auch eine Kostenentscheidung nach Zeitabschnitten stellt eine einheitliche Kostenentscheidung dar und vermeidet zudem Ungenauigkeiten (vgl. BFH, Beschluss vom 29.05.1990, IV R 75/88 – m.w.N.). Mit Blick darauf, dass der Senat wegen der Nichtvorlage der Verwaltungsakte die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt nicht beanstanden kann/will, ist es im Rahmen des bei der Kostenentscheidung ausübenden Ermessens angezeigt, die erstinstanzliche Kostenentscheidung aufrechtzuerhalten und für das Beschwerdeverfahren eine davon unabhängige und abweichende Kostenentscheidung zu treffen.
Von einer Aufteilung der Kosten des Beschwerdeverfahren hat der Senat abgesehen, weil der teilweise Nichterfolg der Beschwerde allein auf den Zeitablauf zurückzuführen ist.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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