Medizinrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  M 26 K 17.4708

Datum:
20.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2959
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 5, § 12, § 13, § 14

 

Leitsatz

1 Ein Gutachten zur Alkoholerkrankung bleibt verwertbar, wenn zwar mehrere Diagnosekriterien unklar begründet sind, aber eine hinreichende Zahl ausreichend begründet ist. (redaktioneller Leitsatz)
2 Für die Diagnosestellung ist nicht erforderlich, dass alle Indikationskriterien der ICD-10 zeitgleich über einen Monat lang erfüllt sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist unbegründet.
Die im Bescheid des Beklagten vom 29. August 2017 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Aus dem Gutachten vom … Juni 2017 in der Fassung der Nachbesserung vom … Juli 2017 und der in diesem Gutachten verwerteten Befunde ergibt sich, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung des Entziehungsbescheids alkoholabhängig und daher ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen war. Aus diesem Grund kann auch der geltend gemachte Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch auf Herausgabe des Führerscheins (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO) keinen Erfolg haben.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Alkoholabhängigkeit führt nach Anlage 4 Nr. 8.3 FeV zum Ausschluss der Eignung oder bedingten Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Wer alkoholabhängig ist, hat grundsätzlich nicht die erforderliche Fähigkeit, den Konsum von Alkohol und das Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr zu trennen. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob der Betreffende bereits mit Alkohol im Straßenverkehr auffällig geworden ist (BVerwG, B.v. 21.10.2015 – 3 B 31.15 – DAR 2016, 216). Bei alkoholabhängigen Personen besteht krankheitsbedingt jederzeit die Gefahr eines Kontrollverlusts und der Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss. Eine hinreichend feststehende und nicht überwundene Alkoholabhängigkeit hat damit zwangsläufig die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge.
Das Fahrerlaubnisrecht definiert den Begriff der Alkoholabhängigkeit nicht selbst, sondern setzt ihn voraus. Ein Abhängigkeitssyndrom liegt nach der Nr. 2 des Vorspanns zu den Abschnitten F 10 bis F 19 der ICD-10 vor, wenn eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen besteht, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise bestehen ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom.
In Übereinstimmung mit diesem „topischen“ (d.h. nicht auf die Erfüllung oder Nichterfüllung exakt festgelegter Kriterien, sondern auf das Vorhandensein einer Mehrzahl charakteristischer Phänomene abstellenden) Definitionsansatz von „Abhängigkeit“ in der ICD-10 bestimmen die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, Stand 14. August 2017, Abschnitt 3.13.2), die Grundlage der Beurteilung sind (vgl. § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a und BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – BVerwGE 148, 230 Rn. 19), dass die sichere Diagnose „Abhängigkeit“ nur gestellt werden sollte, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden sechs Kriterien gleichzeitig vorhanden waren: 1. starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren; 2. verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums; 3. körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums; 4. Nachweis einer Toleranz; 5. fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums; 6. anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen, die dem Betroffenen bewusst sind. Um eine dahingehende Diagnose zu stellen, bedarf es keiner prognostischen Überlegungen, sondern der Ermittlung und Bewertung anamnestischer und aktuell vorliegender (sozial-)medizinischer Gegebenheiten (BayVGH, B.v. 9.12.2014 – 11 CS 14.1868 – juris Rn. 16).
Vorliegend kann anhand des vorgelegten ärztlichen Gutachtens und der diesem zugrunde gelegten und im Gutachten referierten Befunde hinreichend nachvollzogen werden, dass beim Kläger innerhalb des letzten Jahres vor der Untersuchung, nämlich im August 2016, jedenfalls drei der oben genannten Kriterien erfüllt waren. Offen bleiben kann dabei, ob die Anordnung des ärztlichen Gutachtens rechtmäßig war. Denn nach ständiger Rechtsprechung kann unabhängig davon, ob die Anordnung der Beibringung eines Gutachtens zu Recht erfolgte, das vorgelegte Gutachten in vollem Umfang verwertet werden. Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat. Ein Verbot, diese Tatsache für die Entscheidung über die Fahrerlaubnisentziehung zu verwerten, lässt sich aus der Fahrerlaubnis-Verordnung oder sonstigem innerstaatlichen Recht nicht ableiten. Einem Verwertungsverbot steht auch das Interesse der Allgemeinheit entgegen, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2010 – 3 C 2/10 – BVerwGE 137, 10, U.v. 28.6.2012 – 3 C 30.11 – BayVBl 2013, 408/410).
Zuzugeben ist der Bevollmächtigten des Klägers, dass das Gutachten an einigen eklatanten Mängeln leidet. So wird zwar dargelegt, welche der genannten Diagnosekriterien der ICD-10 aus Sicht der Gutachterin erfüllt sind, diese Schlussfolgerung jedoch jeweils kaum begründet. Darüber hinaus kann hinsichtlich des von der Gutachterin bejahten Diagnosekriteriums Nr. 6 nach ICD-10 (anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen, die dem Betroffenen bewusst sind) nicht hinreichend sicher nachvollzogen werden, dass dieses beim Kläger im August 2016 erfüllt war. Zum einen kann die Erfüllung dieses Kriteriums nicht damit begründet werden, dass der Kläger nach mehreren stattgehabten Trinkphasen und alkoholabstinenten Phasen jeweils erneut rückfällig wurde. Zum anderen kann nicht sicher festgestellt werden, dass dem Kläger die bestehende Leberzellschädigung im Zeitpunkt seines Alkoholrückfalls im August 2016 bereits bekannt war. Zwar werden im hausärztlichen Attest vom … Januar 2017 als Vordiagnosen u.a. eine Fettleber und Leberenzymerhöhung genannt; wann genau diese diagnostiziert wurden, lässt sich allerdings weder dem Attest noch der im Gutachten wiedergegebenen Anamnese entnehmen. Die Richtigkeit der im Gutachten gezogenen Schlussfolgerung, die durch hausärztliche Information vordiagnostizierte und dem Kläger bekannte Lebererkrankung habe ihn nicht vom Alkoholkonsum abgehalten, kann mithin anhand der dem Gutachten zugrunde gelegten Befunde nicht sicher nachvollzogen werden.
Jedoch kann die Richtigkeit der im Gutachten gestellten Diagnose der Alkoholabhängigkeit anhand der übrigen Befunde noch hinreichend nachvollzogen werden. Die Gutachterin stützt die Diagnose der Abhängigkeit zunächst auf den im Gutachten auszugsweise wiedergegebenen Entlassungsbericht des Klinikums A …, Zentrum für psychische Gesundheit, vom … August 2016, in dem eine Alkoholintoxikation bei Alkoholabhängigkeit diagnostiziert wurde. Dies steht im Einklang mit den Beurteilungskriterien, die die Begutachtungsstellen für Fahreignung bei ihren Begutachtungen zugrunde legen (Beurteilungskriterien – Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie, DGVP, und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin, DGVM, 3. Aufl. 2013). Nach dem Kriterium A 1.1 N (S. 97, 119) ist die Tatsache, dass eine Alkoholabhängigkeit bereits extern diagnostiziert wurde, ein Kriterium für das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit, insbesondere wenn die Diagnose von einer Klinik gestellt wird, in der eine Entgiftung durchgeführt wurde. Zwar war der stationäre Aufenthalt zur Entgiftung vorliegend mit nur zwei Tagen außerordentlich kurz, weil der Kläger eine Entlassung wünschte; zu berücksichtigen ist vorliegend aber, dass die Diagnose von einer auf derartige Erkrankungen spezialisierten Fachabteilung einer Klinik gestellt wurde, die den Kläger bereits aus zwei in den Jahren 2006 und 2012 durchgeführten Entgiftungen kannte.
Sodann führt die Gutachterin aus, dass sich anhand der Schilderungen des Klägers zu seinem Trinkverhalten im August 2016 in Zusammenschau mit den im Entlassungsbericht wiedergegebenen Befunden die gleichzeitige Erfüllung von drei der in der ICD-10 aufgeführten Kriterien feststellen lasse und die von der Klinik gestellte Diagnose somit bestätigt werden könne. Die Erfüllung dieser Kriterien kann auch vom Gericht noch hinreichend nachvollzogen werden:
– Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren (Nr. 1) (vgl. das Begleitschreiben der Gutachterin vom … Juli 2017): In den aus dem Begutachtungsgespräch wiedergegebenen Schilderungen des Klägers, er habe nach ein paar Bier „nicht mehr aufhören können“ zu trinken, so dass sich sein Konsum auf die sehr hohe Menge von einer Flasche Wodka täglich gesteigert habe, manifestiert sich ein starkes, kaum bezwingbares Verlangen nach Alkohol.
– Verminderte Kontrollfähigkeit während des Alkoholkonsums (Nr. 2): Nach den für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien sind Indikatoren für die Bejahung dieses Kriteriums zum einen der Kontrollverlust über die Alkoholmenge und die Beendigung der Trinkphase, aber auch der Verlust der Verhaltenskontrolle. Vorliegend hat der Kläger im Begutachtungsgespräch nachvollziehbar geschildert, dass sein Rückfall mit dem Trinken von lediglich etwas Bier mit dem Nachbarn begonnen habe, wonach er aber nicht mehr habe aufhören können und seinen Konsum auf die sehr hohe Menge von einer Flasche Wodka täglich gesteigert habe. Ein derartiger rascher Verlust der Fähigkeit zur Kontrolle der Trinkmenge nach (erneutem) Beginn der Substanzaufnahme ist ein typisches Kriterium für ein Abhängigkeitssyndrom. Auch besaß der Kläger seinen eigenen Schilderungen zufolge nicht die Fähigkeit, die Phase des Trinkens dieser sehr hohen täglichen Alkoholmenge von sich aus zu beenden. Vielmehr habe diese Phase dadurch ein Ende gefunden, dass die Ehefrau ihm mit Konsequenzen gedroht und ihn in die Klinik gebracht habe.
Zum anderen wird aus dem Schreiben der Ehefrau und des Sohnes des Klägers deutlich, dass der Kläger infolge des Alkoholkonsums auch teilweise die Kontrolle über sein verhalten verloren hatte. So sei er sehr aggressiv geworden, habe seine Ehefrau gewürgt und mit Gegenständen um sich geworfen. Das Gericht sieht keinen Grund, an der Richtigkeit des Inhalts dieses Schreibens zu zweifeln. Die Ausführungen der Bevollmächtigten des Klägers in der Klagebegründung, das Schreiben sei der Familie so von Klinikmitarbeitern angeraten worden, entspreche aber nicht den Tatsachen, sind angesichts des Inhalts des Schreibens nicht nachvollziehbar und glaubhaft. Ein Beweisantrag auf Einvernahme der Ehefrau des Klägers als Zeugin wurde in der mündlichen Verhandlung im Übrigen nicht gestellt.
– Nachweis einer Toleranz (Nr. 4): Nach den Beurteilungskriterien gelten als Indikatoren für die Erfüllung dieses Kriteriums bei Männern u.a. das Trinken von mehr als 150-300 ml reinen Alkohols ein- oder mehrmals im Monat, oder von mehr als 120 g Reinalkohol pro Tag (S. 124). Dies ist beim Kläger, der nach seinen eigenen, sowohl im Entlassungsbericht des Klinikums als auch in der Anamnese der Gutachterin wiedergegebenen Angaben über eine Woche hinweg eine Flasche (0,7 l) Wodka täglich getrunken hat, der Fall. 0,7 Liter Wodka enthalten (je nach Alkoholgehalt) zwischen 230 und 270 Gramm reinen Alkohol.
Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten des Klägers ist in zeitlicher Hinsicht für die Diagnosestellung vorliegend nicht zu fordern, dass die genannten Kriterien gemeinsam für die Dauer eines Monats erfüllt waren. Zwar erhebt eine wohl durchaus verbreitete Meinung in der medizinischen bzw. klinisch-psychologischen Wissenschaft diese Forderung, was sich unter anderem aus dem von der Bevollmächtigten der Klägerin vorgelegten Artikel aus dem Deutschen Ärzteblatt ergibt. Festzustellen ist jedoch zum einen, dass die für die Fahreignungsbeurteilung zugrunde zu legenden Regelwerke diese aus medizinischer Sicht erhobene diagnostische Forderung für die Fahreignungsbeurteilung generell nicht übernehmen. Weder in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung noch in den für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien findet sich dieses Kriterium wieder. Den unter Beteiligung der entsprechenden Fachkreise entwickelten Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, die im Verkehrsblatt (VkBl.) veröffentlicht werden und normativen Charakter haben (vgl. § 11 Abs. 5 i.V.m. Anlage 4a FeV), liegt ein entsprechendes verkehrsmedizinisches Erfahrungswissen zugrunde. Sie geben den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis auf diesem Gebiet wieder (vgl. OVG Magdeburg, B.v. 14.6.2013 – 3 M 68/13 – NJW 2013, 3113 ; vgl. auch Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan, Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung, 2. Aufl., Kommentar zu Kapitel 2.4, S. 35). Ein solcher auf breiter Basis entwickelter Erkenntnisstand lässt sich nicht ohne Weiteres durch wissenschaftliche Einzelmeinungen oder einzelne Studien widerlegen. Erforderlich wäre vielmehr die Darlegung, dass der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Überzeugung der dafür maßgeblichen Kreise inzwischen entsprechend fortgeschritten ist oder zumindest infolge der neuen Erkenntnisse nachhaltig in Frage gestellt wird (BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – BVerwGE 148, 230 Rn. 19).
Zum anderen ist vorliegend zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits früher alkoholabhängig war, was sich aus dem im Gutachten wiedergegebenen Entlassungsbericht des Klinikums A … ergibt, dem zufolge der Kläger bereits in den Jahren 2006 und 2012 dort jeweils eine stationäre Entgiftung durchlaufen und 2006 eine Langzeit-Entwöhnungsbehandlung in einer anderen Einrichtung gemacht hatte. Jedenfalls in einem derartigen Fall eines Rückfalls in eine bereits früher festgestellte Abhängigkeit vermag es schon aus Gründen der Verkehrssicherheit nicht zu überzeugen, für die fahreignungsrechtliche Diagnosestellung die Erfüllung der ICD-10-Kriterien über den Zeitraum eines Monats hinweg zu verlangen. Vielmehr genügt in einem solchen Fall die anhand ärztlicher Feststellungen gewonnene Überzeugung, dass es sich um einen Rückfall in die Abhängigkeit handelt, weil mindestens drei der relevanten Kriterien nach ICD-10 im letzten Jahr vor der Untersuchung gleichzeitig erneut erfüllt waren, und nicht etwa um einen einmaligen sogenannten Ausrutscher (einmaliger oder seltener Alkoholkonsum während der Abstinenz, vgl. Kriterium A 1.7 N der Beurteilungskriterien, S. 132). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Unterschiede zwischen der klinisch fachlichen und der verkehrsrechtlichen Einordnung einer Abhängigkeitserkrankung. Nach überwiegender klinisch fachlicher Auffassung besteht eine Abhängigkeitserkrankung auch bei Symptomfreiheit, also vorliegender Alkoholabstinenz, weiter. Nach der verkehrsrechtlichen Sichtweise besteht Abhängigkeit nicht mehr, wenn eine dauerhaft stabile Alkoholabstinenz vorliegt (Anlage 4 Nr. 8.4 FeV). Zudem ist auch auf die besonderen Bedingungen hinzuweisen, die es im Rahmen einer Fahreignungsbegutachtung aufgrund von Dissimulationstendenzen bei den Betroffenen häufig besonders schwierig machen, eine Abhängigkeitsdiagnose mit der nötigen Sicherheit stellen zu können (vgl. Beurteilungskriterien, S. 120 f), was für eine sichere Feststellung der gleichzeitigen Erfüllung der ICD-10 Kriterien für die Dauer eines Monats in besonderem Maße gelten würde.
Nach alledem stand aufgrund des ärztlichen Gutachtens und der diesem zugrunde gelegten und wiedergegebenen Befunde fest, dass der Kläger im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids die Fahreignung verloren hatte. Die Fahrerlaubnisbehörde war angesichts der Feststellungen im ärztlichen Gutachten und im Entlassungsbericht des Klinikums A … auch nicht gehalten, vom Kläger die vorherige Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu fordern, um zu prüfen, ob es sich im August 2016 um einen „einmaligen Ausrutscher“ gehandelt hat, der auch ohne weitere Behandlung oder Nachweise eine dauerhaft stabile Abstinenz erwarten ließ. Angesichts dessen, dass der Kläger während des Rückfalls im August 2016 jedenfalls drei der Kriterien nach ICD-10 – wenn auch nur für eine Woche, allerdings einschließlich des Nachweises einer Alkoholtoleranz – erneut erfüllt hat, eine stationäre Entgiftung durchgeführt werden musste, es sich bereits um den zweiten aktenkundigen Rückfall nach der Entwöhnungsbehandlung 2006 handelte, er den Alkoholkonsum nicht aus vollständig eigenem Entschluss beendete und ihm sowohl der Entlassungsbericht des Klinikums als auch das ärztliche Gutachten keine ausreichende Krankheitseinsicht attestieren, war die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vorliegend nicht veranlasst. Vielmehr war ohne ein weiteres Gutachten im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids von Fahrungeeignetheit auszugehen (§ 11 Abs. 7 FeV).
Der Kläger hatte die Fahreignung im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung des Entziehungsbescheids am 1. September 2017 auch noch nicht wiedererlangt. Nach Nr. 8.4 der Anlage 4 zur FeV setzt die Wiedererlangung der Fahreignung nach Alkoholabhängigkeit voraus, dass die Abhängigkeit nach einer Entwöhnungsbehandlung nicht mehr besteht und in der Regel eine einjährige Abstinenz nachgewiesen ist. Dabei hat der Betroffene bei Alkoholabhängigkeit den Verzicht auf jeglichen Konsum von alkoholischen Getränken zu belegen, weil die Fähigkeit zu kontrolliertem Trinken gemindert ist (vgl. Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan, Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar, 2. Aufl. 2005, Rn. 3.11.2.3, S. 164). Zur Beurteilung, ob die Verhaltensänderung des Betroffenen hinsichtlich des Umgangs mit Alkohol hinreichend stabil ist, ist darüber hinaus grundsätzlich auch eine psychologische Untersuchung erforderlich (§ 13 Satz 1 Nr. 2 e) FeV). Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids noch keine Entwöhnungsbehandlung durchgeführt. Eine Alkoholabstinenz kann der Kläger nach seinem Vortrag in der mündlichen Verhandlung mittels Haaranalyse erst für den Zeitraum ab ca. Juni 2017 nachweisen; vorgelegt wurden dem Gericht im Übrigen lediglich zwei Befundberichte über die Untersuchung am … November 2017 und am … Januar 2018 entnommener Urinproben. Eine Beurteilung, ob beim Kläger eine Verhaltensänderung vorliegt, die eine stabile Abstinenz erwarten lässt, war unter Zugrundelegung vorstehender Ausführungen daher noch nicht möglich.
Da sich die Entziehung der Fahrerlaubnis nach alledem als rechtmäßig erweist, kann auch der Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch auf Herausgabe des Führerscheins keinen Erfolg haben.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.

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