Medizinrecht

Erforderlichkeit von Fahrtkosten bei Maßnahmen der Eingliederungshilfe

Aktenzeichen  L 18 SO 29/18

Datum:
12.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 27191
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
EinglhV § 12 Nr. 1
SGB XII § 19 Abs. 3, § 53 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 93 Abs. 2 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

Als Eingliederungshilfemaßnahme in Betracht kommen grundsätzlich alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer geeigneten Schulbildung erforderlich sind, um die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mindern und so das im Gesetz formulierte Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen.Die Übernahme von Fahrtkosten als Eingliederungshilfemaßnahme zur Vorbereitung der angemessenen Schulbildung setzt aber eine Prüfung der Erforderlichkeit im konkreten Fall voraus. Der Fahrtkostenaufwand kann z.B. dann nicht erforderlich sein, wenn es andere wohnsitznähere geeignete Kindertageseinrichtungen gibt, in denen die Vorbereitung einer angemessenen Schulbildung möglich ist, woran auch das Wahlrecht nach § 9 Abs. 2 SGB XII nichts ändert, und wenn der Fahrtkostenaufwand nicht behinderungsbedingt ist. Bei Fehlen der konkreten Erforderlichkeit ist eine Übernahme der Fahrtkosten auch nicht als “Annexleistung” zu sonstigen Eingliederungshilfemaßnahmen geboten
1. Durch eine Maßnahme der Eingliederungshilfe muss das Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erreichbar sein. (redaktioneller Leitsatz)
2. Fahrtkosten müssen im Zusammenhang mit dieser Leistung der Eingliederungshilfe durch die individuelle Einschränkung bedingt und damit erforderlich sein. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 20 SO 80/14 2017-12-13 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 13.12.2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen

Gründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und auch ansonsten zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 21.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Mittelfranken vom 24.04.2014, mit dem der Beklagte die Fahrtkostenübernahme für den Besuch der G abgelehnt hat. Streitgegenstand ist die Übernahme der Kosten für die anwesenheitstägliche Beförderung der Klägerin auf der Wegstrecke vom Wohnort der Klägerin zu G und zurück (im Folgenden: Fahrtkosten) im Zeitraum vom 01.09.2013 bis 31.08.2015 in Höhe von 2.310,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 4% p.a. seit dem 01.09.2015. Dass streitgegenständlich die Übernahme der Fahrtkosten zu G und zurück ist, ergibt sich aus dem eindeutig in diesem Sinne gestellten erstinstanzlichen Antrag. Auch das SG ging offenbar von diesem Streitgegenstand aus (vgl. Seite 15 der Gründe des erstinstanzlichen Urteils: „… hat der Beklagte der Klägerin die Fahrtkosten im geltend gemachten Umfang zu erstatten“). Dass das SG den Beklagten nur zur Erstattung der Fahrtkosten zu G verurteilt hat (vgl. den insofern eindeutigen Wortlaut des Entscheidungssatzes des Urteils des SG vom 13.12.2017: „von zu Hause zur Einrichtung“), spielt mit Blick auf die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und die erfolgte Klageabweisung keine Rolle. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit der statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4.
Der beklagte Bezirk Mittelfranken ist richtiger Gegner des Verfahrens. Er ist sachlich und örtlich zuständiger Träger für die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe (§ 97 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII, Art. 82 Abs. 1 Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze – AGSG – vom 08.12.2006).
I.
Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Übernahme der Fahrtkosten sind die § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der Fassung vom 27.12.2003), § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (in der Fassung vom 23.12.2016) und § 12 Nr. 1 EinglhV (in der Fassung vom 27.12.2003) i.V.m. § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes vom 24.03.2011) i.V.m. § 19 Abs. 3 SGB XII (in der Fassung vom 24.03.2011).
Der Anspruch ist auf eine Geldleistung gerichtet, weil der Beklagte die Übernahme der Beförderungskosten nicht als Sachleistung zu erbringen hat, sondern der Klägerin die aufgewandten Kosten für die Beförderung als Leistung der Eingliederungshilfe erstatten würde. Dies entspricht § 10 Abs. 3 SGB XII, der den Vorrang der Geldleistung vor der Sachleistung normiert und hiervon nur dann Ausnahmen macht, wenn das SGB XII etwas anderes bestimmt bzw. die Sachleistung das Ziel der Sozialhilfe erheblich besser erreichen kann (vgl. dazu BSG vom 28.10.2008, B 8 SO 22/07 R juris) oder die Leistungsberechtigten es wünschen. Keine dieser Ausnahmen liegt hier vor. Insbesondere begehrt die Klägerin die Eingliederungsmaßnahme „Fahrtkostenübernahme“ ausdrücklich als Geldleistung. Entgegen der Auffassung des SG scheidet ein Erstattungsanspruch nach § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX daher aus, weil sich Erstattungsansprüche nach § 15 SGB IX, der sich an das Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung anlehnt (vgl. dort § 13 Abs. 3 SGB V, der für die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen der medizinischen Rehabilitation ausdrücklich die Anwendung von § 15 SGB IX vorsieht), nur auf Sachleistungen beziehen (vgl. etwa zur Übernahme der Kosten für das Mittagessen in einer Werkstatt für behinderte Menschen BSG vom 09.12.2008, B 8/9b SO 10/07 R) und § 15 SGB IX eine gesetzliche Ausnahme zum eigentlich geltenden Sachleistungsprinzip darstellt, der es bei von vornherein auf Geldleistungen gerichteten Ansprüchen nicht bedarf (BSG vom 19.05.2009, B 8 SO 32/07 R juris Rn 12 m.w.N.).
Die angegriffenen Bescheide vom 21.10.2013 und 24.04.2014 (Widerspruchsbescheid) sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme der Fahrtkosten als (weitere) Maßnahme der Eingliederungshilfe. Denn die Übernahme ist als Maßnahme der Eingliederungshilfe nicht erforderlich im Sinne der §§ 53, 54 SGB XII, § 12 EinglhV.
Gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhalten Personen, die durch Behinderung im Sinne des § Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Leistungen der Eingliederungshilfe sind nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII u.a. Leistungen nach § 55 SGB IX. Diese Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden erbracht, um behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (§ 55 Abs. 1 SGB IX). Leistungen in diesem Sinne sind – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – insbesondere auch heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind (§§ 55 Abs. 2 Nr. 2, 56 SGB IX in der bis 31.12.2018 geltenden Fassung), wozu auch der Besuch einer integrativen Kindertagesstätte zählt. Die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung umfasst auch heilpädagogische und sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 12 Nr. 1 EinglHV). Dazu gehören auch Maßnahmen, die der Vorbereitung der angemessenen Schulbildung dienen.
Die Klägerin gehört aufgrund ihrer Gesundheitsstörungen zum Personenkreis der nach den §§ 53 ff SGB XII i.V.m. § 2 SGB IX Leistungsberechtigten. Die bereits bewilligten Maßnahmen der Eingliederungshilfe dienen der Vorbereitung der angemessenen Schulbildung.
Die hier streitige Fahrtkostenübernahme war jedoch zur Vorbereitung der angemessenen Schulbildung nicht erforderlich.
1. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit gelten folgende Grundsätze: Durchzuführen ist eine Prüfung der Erforderlichkeit in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles (konkrete Erforderlichkeit). Denn dem Merkmal der Erforderlichkeit liegt ein individualisiertes Förderverständnis zugrunde, das eine am Einzelfall orientierte, individuelle Beurteilung verlangt (vgl. BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr. 8 jeweils Rn 21; BSG SozR 4-1500 § 130 Nr. 4 Rn 18; BSG SozR 4-3500 § 53 Nr. 5 Rn 26). In Betracht kommen grundsätzlich alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer geeigneten Schulbildung geeignet und erforderlich sind, die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mindern und so das im Gesetz formulierte Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen (vgl. Voelzke in Hauck/Noftz, SGB XII, 19. Erg.-Lfg. II/10, § 54 SGB XII Rn. 41, 44). Eine Eingliederungshilfemaßnahme ist erforderlich, wenn sie aufgrund der Behinderung im konkreten Fall geboten ist. Die Prüfung der Erforderlichkeit setzt voraus, dass die begehrte Maßnahme nicht alternativlos ist, d.h., dass es mehrere geeignete Maßnahmen gibt. Besteht nur eine geeignete Maßnahme, ist diese denknotwendig auch erforderlich. Eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit kann dann nur noch auf der Stufe der Angemessenheit erfolgen (vgl. zur gestuften Verhältnismäßigkeitsprüfung statt vieler Tammen in Berlit / Conradis / Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl. 2013, Kap. 14 Rn 16 ff). Die Richtlinie des Beklagten, nach der die Fahrtkosten für den Spezialbeförderungsdienst in eine integrative Kindertageseinrichtung grundsätzlich nicht übernommen werden, hat der Senat zur Kenntnis genommen. Sie bindet aber die Gerichte nicht und vermag die vom Senat vorgenommene Prüfung der konkreten Erforderlichkeit, zu der auch der Beklagte verpflichtet ist, nicht zu ersetzen.
2. Dies zugrunde gelegt ist die Übernahme der Kosten der Beförderung vorliegend nicht erforderlich. Deshalb besteht kein entsprechender Anspruch auf Eingliederungshilfe. Der Fahrtkostenaufwand von und zu G war nicht erforderlich, weil es andere wohnsitznähere geeignete Kindertageseinrichtungen gab, in denen die Vorbereitung einer angemessenen Schulbildung der Klägerin möglich gewesen wäre, woran auch das Wahlrecht nach § 9 Abs. 2 SGB XII nichts ändert (dazu unter a.), und weil der Fahrtkostenaufwand nicht behinderungsbedingt war (b.). Auch aus der „Leistungserbringung in einem Haus“ oder wegen der angeblichen Unzumutbarkeit eines Wechsels der Einrichtung ergibt sich keine Erforderlichkeit der Übernahme der Fahrtkosten (c.). Die Übernahme der Fahrtkosten war auch nicht als „Annexleistung“ geboten (d.).
a. Der Fahrtkostenaufwand von und zu G war nicht erforderlich, weil es andere wohnsitznahe geeignete Kindertageseinrichtungen gab, in denen die Vorbereitung einer angemessenen Schulbildung der Klägerin möglich gewesen wäre. Es steht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass es im Stadtgebiet A-Stadt zahlreiche geeignete und insbesondere auch wohnsitznähere Einrichtungen gab und gibt (vgl. z.B. https://www.nuernberg.de/internet/kinderbetreuung/kita_suche.html.), bei denen auch die Möglichkeit der Frühförderung gegeben war (vgl. etwa https://www…de/beratung/fruehfoerderung/ fruehfoerderung.php; https://www…de/imperia/md/ buendnis_fuer_familie/dokumente/ 2016wer_hilft_end.pdf; https://www.nuernberg.de/imperia/md/buendnis_fuer_familie/dokumente/2016 wer_hilft_end.pdf; https://www…de/de/kindertagesstaetten/nuernberg/ heistergeister/). Dies ergibt sich aus den eigenen Recherchen des Senats sowie aus den nachvollziehbaren und von der Klägerin nicht substantiiert angegriffenen Angaben des Beklagten, nach denen es im Stadtgebiet von A-Stadt zahlreiche integrative Kindertageseinrichtungen gibt, die verkehrstechnisch günstiger für die Klägerin liegen und mit dem Bezirk Mittelfranken eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach Maßgabe der §§ 75 ff SGB XII geschlossen haben. Die Finanzierung der Erhöhung der Personalausstattung durch den Beklagten hätte auch bei jeder anderen geeigneten Einrichtung und nicht nur bei G erfolgen können.
Die Behauptung der Eltern der Klägerin, die Wahl sei auf die konkrete Einrichtung der G gefallen, weil damals dort als einzigem integrativem Kindergarten ein freier Platz für die Klägerin vorhanden gewesen sei, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Senat konnte sich nicht von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen. Insbesondere legte die Klägerseite insofern keinerlei Nachweise sonstiger Bewerbungen vor. Aufgrund der unsubstantiierten Behauptung ergibt sich für den Senat auch kein diesbezüglicher Ermittlungsansatz. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat konnte die Mutter der Klägerin auf Nachfrage keine konkreten, verifizierbaren Angaben zu sonstigen Bewerbungen machen.
Der Kreis der im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung zu berücksichtigenden Einrichtungen wurde auch nicht durch die der Klägerin erteilten Bescheide des Beklagten eingeschränkt. Die Bewilligung der Eingliederungshilfe diente auch nach dem Regelungsgehalt der Bewilligungsbescheide, mit denen der Beklagte die Kosten für die teilstationäre Betreuung bei G und die anfallenden Kosten der interdisziplinären Frühförderung übernommen hatte, nicht der Verwirklichung der Vorbereitung einer angemessenen Schulbildung im Sinne der EinglhV gerade bei G. Eine Bewilligung wäre wie ausgeführt auch in anderen entsprechenden, wohnsitznäheren Einrichtungen denkbar gewesen.
Der Kreis der im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung zu berücksichtigenden Einrichtungen wurde auch nicht durch das Wahlrecht nach § 9 Abs. 2 SGB XII eingeschränkt. Die Übernahme der Fahrtkosten war daher auch nicht aufgrund des Wahlrechts geboten. Die Klägerin bzw. ihre Eltern als gesetzliche Vertreter haben bezüglich des Einrichtungsplatzes ein Wahlrecht. Dieses Wahlrecht haben sie durch Auswahl der privaten Einrichtung G für die Klägerin ausgeübt. Der Wahl hat der Beklagte dadurch Rechnung getragen, dass er die Eingliederungshilfemaßnahmen „teilstationäre Betreuung“ bzw. „Frühförderung“ bewilligt hat. Aus diesem Wahlrecht folgt jedoch keine Pflicht des Sozialhilfeträgers zur Übernahme aller mit der getroffenen Wahl verbundenen Kosten. Insbesondere der durch den Besuch der gewünschten Einrichtung entstehende konkrete Fahrtkostenaufwand kann vielmehr nur übernommen werden, wenn die entsprechende Beförderung erforderlich ist. Die Erforderlichkeit kann sich z.B. daraus ergeben, dass im konkreten Fall eine angemessene Schulbildung behinderungsbedingt nur bei der gewählten Einrichtung erreicht werden kann. Das ist hier aber, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, nicht der Fall. Zur Inanspruchnahme der Eingliederungsmaßnahmen „teilstationäre Betreuung“ bzw. „Frühförderung“ ist nicht der Besuch gerade der G erforderlich. Diese Eingliederungsmaßnahmen könnten wie ausgeführt auch in anderen Einrichtungen in A-Stadt gewährt werden. Einen – mit der Verwendung des Begriffs Annexleistung allerdings suggerierten – Automatismus zwischen bewilligter Eingliederungshilfemaßnahme und Übernahme von Beförderungskosten gibt es nicht (ähnlich unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Nachrangs von Sozialhilfeleistungen gemäß § 2 SGB XII LSG Hessen vom 22.11.2010, L 9 SO 7/09 juris Rn 31; zur Angemessenheit LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. Mai 2010, L 20 B 168/08 SO ER juris 64 ff). Durchzuführen ist vielmehr stets die Prüfung der konkreten Erforderlichkeit der jeweiligen Maßnahme, also auch der Beförderung und der Übernahme der dadurch entstehenden Kosten. Die Wahl der Einrichtung kann die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der Eingliederungshilfe nicht ersetzen (zur Schulwahl LSG Bayern vom 02.11.2011, L 8 SO 165/11 B ER juris Rn 29).
Nach alledem steht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass mehrere geeignete Einrichtungen zur Verfügung standen, Eingliederungshilfemaßnahmen bei G waren nicht alternativlos. Daraus folgt zugleich, dass die Bewilligung der Übernahme der Fahrtkosten vorliegend nicht schon deshalb erforderlich war, weil der Klägerin andere Maßnahmen (teilstationäre Betreuung, interdisziplinäre Frühförderung) bewilligt worden waren (zur Möglichkeit der Bewilligung als Annexleistung siehe unten d.).
b. Der hier fragliche Fahrtkostenaufwand stellt auch deshalb keinen erforderlichen Aufwand im Sinne des § 12 Nr. 2 der EinglhV dar, weil dieser Aufwand nicht behinderungsbedingt war. Denn nach Einschätzung des Senats wäre auch ein nichtbehindertes Kind gleichen Alters für den entsprechenden Weg von zu Hause zu G und zurück auf die Beförderung durch Dritte angewiesen gewesen. Vorliegend geht es um die individuelle Beförderung der Klägerin auf einem Weg von 12,7 km (laut Falkroutenplaner, https://www.falk.de/routenplaner?data) im Stadtgebiet von A-Stadt (Wohnsitz der Klägerin Am K., Sitz der G in der A-Straße). Es ist nach Auffassung des Senats offensichtlich, dass auch ein gleichaltriges nichtbehindertes Kind für das Zurücklegen dieses Wegs auf die Beförderung durch Dritte angewiesen wäre und ihn nicht alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen könnte. Die infrage stehenden Fahrtkosten fielen mithin nicht behinderungsbedingt an.
c. Auch aus dem Umstand, dass der Besuch der G der Klägerin neben der Inanspruchnahme der bewilligten teilstationären Betreuung (Bewilligungsbescheide vom 20.01.2012, 24.08.2012, und 08.07. 2013) auch die Inanspruchnahme der ebenfalls bewilligten Frühförderung (Bescheide vom 24.08.2012, 12.09.2012, 08.01.2013) im selben Haus ermöglicht, weil bei G auch eine interdisziplinäre Frühförderstelle untergebracht ist, ergibt sich keine Erforderlichkeit der Übernahme der Fahrtkosten zu G. Denn eine Frühförderung war – wie die oben belegten Recherchen des Senats ergaben – auch in anderen Einrichtungen oder sogar im häuslichen Bereich der Klägerin möglich. Für Letzteres – Frühförderung im häuslichen Bereich des behinderten Menschen – wirbt V ausdrücklich im internet (https://www.verein-fuer-menschen.de/fruehfoerderung/: „Je nach Bedarf bieten wir auch Hausbesuche … an“). Für die Wahl der G und damit für entsprechende Fahrtkosten war der Aspekt der „Leistungserbringung in einem Haus“ auch nicht ursächlich. Dies zeigt schon der Umstand, dass die Bewilligung der Frühförderung erstmals mit Bescheid vom 24.08.2012 für einen Zeitraum ab 01.09.2012 erfolgte, während die teilstationäre Betreuung bei G bereits ab 01.09.2011 bewilligt worden war. Aus denselben Gründen begründet auch der von der Klägerin angeführte Aspekt der Zumutbarkeit eines Wechsels der Einrichtung und in diesem Zusammenhang der Umstand, dass sich im Hinblick auf den Autismus der Klägerin eine Veränderung als problematisch darstellt, keine Erforderlichkeit der Maßnahme „Fahrtkostenübernahme“. Denn auch diese Gesichtspunkte wurden erst mit der Einstellung der Übernahme der Fahrtkosten durch den Beklagten, also ab 01.09.2013 relevant und sind daher nicht ursächlich mit der Wahl der G und der Entstehung entsprechender Fahrtkosten verknüpft.
d. Die Übernahme der Fahrtkosten war auch nicht als „Annexleistung“ geboten. Der Senat weist darauf hin, dass der auch im vorliegenden Verfahren immer wieder auftauchende Begriff der Annexleistung vom Gesetzgeber nicht verwendet wird. Er ist gesetzlich nicht definiert. Was mit diesem Begriff genau gemeint ist, bleibt auch nach der erstinstanzlichen Entscheidung unklar. Eine Begriffsklärung nimmt das SG nicht vor. Es führt insofern lediglich aus, die Fahrtkosten würden das Schicksal der Hauptleistung teilen, die Fahrtkosten seien zu übernehmen, wenn anders eine Eingliederungshilfemaßnahme nicht durchgeführt werden könne, die Maßnahme hätte nicht durchgeführt werden können, wenn die Einrichtung nicht aufgesucht worden wäre, die Fahrtkosten seien unmittelbar mit der Maßnahme verknüpft, sie dienten allein der Maßnahme. Damit stellt das SG nur eine nicht weiter begründete Verknüpfung zwischen einer Eingliederungshilfemaßnahme und der Beförderung zum Ort der Eingliederungshilfe, eben im Sinne einer angeblichen Annexleistung, her, ohne die konkrete Erforderlichkeit zu prüfen. Nach Auffassung des Senats soll der Begriff Annexleistung nur den vom Bundesverwaltungsgericht – BVerwG – entwickelten Gedanken zusammenfassen, nach dem Fahrtkosten, die entstehen, weil anders eine Eingliederungshilfemaßnahme im Sinne des § 40 Abs. 1 BSHG nicht durchgeführt werden kann, notwendiger Bestandteil dieser Maßnahme seien (vgl. BVerwG vom 14.10.1994, 5 B 114/93 juris Orientierungssatz). Das SG, das das vorgenannte Urteil des BVerwG zur Begründung seiner Entscheidung in Bezug nimmt, übersieht, dass auch das BVerwG eine Prüfung der konkreten Erforderlichkeit vornimmt (vgl. BVerwG, aaO, Rn 8: „Fahrten, die im Zusammenhang mit der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung .. notwendig wurden“). Vor diesem Hintergrund bringt der Begriff der Annexleistung im Zusammenhang mit dem zu prüfenden Anspruch auf Fahrtkostenübernahme nach Auffassung des Senats nur zum Ausdruck, dass zwischen einer Eingliederungshilfemaßnahme und der Bewilligung von Fahrtkosten eine ursächliche Verknüpfung besteht in dem Sinne, dass eine bewilligte Eingliederungshilfemaßnahme im konkreten Fall ohne die Übernahme der Beförderungskosten zum Ort der Maßnahme nicht durchgeführt werden kann. Entsprechende Fallkonstellationen hält auch der Senat für denkbar. Die Frage, ob eine Annexleistung vorliegt, lässt sich aber immer nur für den konkreten Fall nach Prüfung der Erforderlichkeit beantworten. Dass eine Annexleistung vorliegt, ist mithin das Ergebnis der Prüfung der Erforderlichkeit im konkreten Fall. Diese Prüfung (siehe oben a – c) hat vorliegend ergeben, dass die Übernahme der Kosten der Beförderung der Klägerin von und zu G nicht erforderlich ist und sich daher auch nicht als Annex zu den gewährten Maßnahmen der Eingliederungshilfe „teilstationäre Betreuung“ bzw. „Frühförderung“ darstellt. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, steht dieses Ergebnis auch mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang.
Sonstige Umstände, die im oben dargestellten Sinn eine Erforderlichkeit der Bewilligung von Fahrtkosten von und zu G begründen könnten, sind nicht ersichtlich.
Da die Übernahme der Fahrtkosten bereits nicht erforderlich war, stellt sich die Frage nach einer Angemessenheit des Kostenaufwands für die Beförderung, insbesondere nach einer Angemessenheit vor dem Hintergrund eines etwaigen Wunsch- und Wahlrechts im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB XII und damit entstandener Kosten, nicht (vgl. dazu LSG Hessen vom 22.11.2010, L 9 SO 7/09 juris).
II.
Auch aus dem Umstand der tatsächlichen Gewährung von Fahrtkosten bis 31.08.2013 kann die Klägerin keinen Anspruch auf Bewilligung für den Folgezeitraum ableiten. Der Senat stellt hierzu zunächst fest, dass der Beklagte der Klägerin für den Besuch der G bis 31.08.2013 Fahrtkosten gewährte und trotz unveränderter Umstände dann die Übernahme der Fahrtkosten ab 01.09.2013 ablehnte, dass aber eine Bewilligung von Fahrtkosten in den der Klägerin erteilten Bescheiden nicht erfolgt ist. Für eine Bewilligung von Fahrtkosten für den Folgezeitraum fehlt es bereits an einer Anspruchsgrundlage. Wie ausgeführt ergibt sich ein Anspruch nicht aus den §§ 53 Abs. 1 Satz 1, § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII, § 12 Nr. 1 EinglhV. Selbst wenn man, wie dies offensichtlich der Beklagte tut, in der tatsächlichen Gewährung jeweils zugleich eine entsprechende, stillschweigend erfolgte Regelung im Sinne des § 31 SGB X sehen würde, ergäbe sich daraus kein Anspruch für den hier streitigen Zeitraum ab Einstellung der Zahlung, also ab 01.09.2013. Denn eine solche Bewilligung würde aus der maßgeblichen Sicht des Empfängers der Leistung (vgl. dazu BSG vom 08.02.2007, B 9b AY 1/06 R juris Rn 12) mit der Einstellung der Zahlung enden. Der sogenannte sozialrechtliche Herstellungsanspruch scheidet als Anspruchsgrundlage aus, weil er ein pflichtwidriges und somit rechtswidriges Verhalten voraussetzt, aufgrund dessen der Bürger eine Verwirklichung seiner sozialen Rechte unterlassen hat (Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 99. EL Mai 2018, Vorbemerkungen vor §§ 38-47, dazu Rn 141 ff). Im vorliegenden Fall hat die Klägerin hingegen Leistungen erhalten, obwohl ein sozialrechtlicher Anspruch nicht bestand. Selbst wenn man aber etwa allein aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (Vertrauensschutz, Verbot des „venire contra factum proprium“) einen grundsätzlich möglichen Anspruch ableiten würde (vgl. zu diesem Gedanken Seewald, aaO, Rn 143 mwN), könnte sich die Klägerin vorliegend hierauf nicht mit Erfolg berufen. Dies ergibt sich schon aus dem zeitlichen Ablauf. Die Klägerin bzw. deren Eltern haben die Kindertageseinrichtung G nicht deshalb ausgesucht, weil der Beklagte hierfür die Kosten für die Beförderung übernahm, die Wahl der G hing also nicht ursächlich mit der Fahrtkostenübernahme zusammen. Die Klägerin hat erstmals mit Schreiben vom 12.07.2013 durch V und dann mit Schreiben der Eltern vom 09.08.2013 und 04.09.2013 zu der Fahrtkostenübernahme Stellung genommen, nachdem bemerkt worden war, dass die zunächst erfolgte Gewährung nicht weitergeführt werden sollte. Die ersten Bescheide über die Bewilligung von Eingliederungshilfemaßnahmen datieren vom 20.01.2012 (teilstationäre Betreuung) und 24.08.2012 (Übernahme der Kosten der interdisziplinären Frühförderung). Der Kindergartenbesuch bei G fand bereits seit September 2011 statt. Schon dieser zeitliche Ablauf zeigt, dass die Wahl der G nicht mit der Fahrtkostenübernahme zusammenhing. Vielmehr stellte die faktische Kostenübernahme bis August 2013 eine stillschweigende Begleiterscheinung dar, ohne dass die rechtlichen Voraussetzungen hierfür vom Beklagten geprüft worden wären. Dies ergibt sich aus den einschlägigen aktenkundigen Vermerken des Beklagten betreffend eine Gewährung ohne interne Zuständigkeit des Sachbearbeiters und eine Prüfung von Haftungsansprüchen gegenüber dem die Fahrtkosten gewährenden Sachbearbeiter. Nach alledem ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes.
III.
Durch die hier vorgenommene Auslegung des § 54 Abs. 1 Satz Nr. 1 SGB XII, § 12 EinglhV wird das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht verletzt. Die Vorschrift begründet das Recht der Eltern, staatliche Maßnahmen abzuwenden, die beeinträchtigend in den grundrechtlich geschützten Bereich der Erziehung hineinwirken (vgl. BVerwG, FEVS 44, 4 ff). Der Schutzbereich dieser Vorschrift umfasst auch die freie Wahl zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten oder zugelassenen Schulformen einschließlich Privatschulen (vgl. BVerwGE 112, 263, 269f.); er schließt das Recht ein, Maßnahmen abzuwehren, die darauf abzielen, dieses Wahlrecht mehr als notwendig zu begrenzen (vgl. BVerfGE 34, 165, 183 ff). Eine andere Frage ist es, welche konkreten Sozialleistungen nach Ausübung des Walrechts zustehen. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG beinhaltet keinen unmittelbaren Leistungsanspruch und auch keinen Leistungsanspruch kraft Ausstrahlung über sozialhilferechtliche Vorschriften (vgl. dazu LSG Hessen vom 22.11.2010, L 9 SO 7/09 juris Rn 38).
IV.
Da die begehrte Leistung nicht zusteht, war auch die Entscheidung des SG betreffend die Zuerkennung von Zinsen aufzuheben. Im Übrigen fehlt es in Bezug auf die von der Klägerin geltend gemachten Verzugszinsen gemäß § 44 SGB I ohnehin an einer vorausgegangenen Verwaltungsentscheidung, so dass die diesbezüglich erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage wegen Fehlens eines Verwaltungsaktes unzulässig wäre (siehe dazu LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.01.2012, L 19 AS 1473/11 juris Rn 64; zum Erfordernis einer Vorbefassung der Behörde mit dem Zinsanspruch aus § 44 SGB I LSG Sachsen-Anhalt vom 24.08.2011, L 8 SO 15/08 juris Rn 57).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wurde vom Senat zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG), weil die Frage der Erforderlichkeit von Fahrtkosten als Maßnahmen der Eingliederungshilfe – auch mit Blick auf die Entscheidungen des BVerwG vom 14.10.1994, 5 B 114/93 und des LSG Baden-Württemberg vom 29.06.2017, L 7 SO 5382/14 – nach Auffassung des Senats einer höchstrichterlichen Klärung bedarf.


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